200 Jahre Arbeitsrechtsprechung in Köln: 1811–2011 9783504381721

Das Arbeitsgericht Köln ist das größte Arbeitsgericht in NRW. Als „Rat der Gewerbeverständigen“ – nach dem Vorbild des L

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200 Jahre Arbeitsrechtsprechung in Köln: 1811–2011
 9783504381721

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200 Jahre Arbeitsrechtsprechung in Köln

Arbeitsrechtsprechung in Köln 1811-2011 herausgegeben von

Hans Jörg Gantgen Mitfreundlicher Unterstotzung durch den ARBEITGEBER KÖLN e.V. den DGB Region Köln-Bann die Kreishandwerkerschaft Köln die RechtsAnwaltsKammer Köln den KölnerAnwattVerein e.V. die Mitglieder des Arbeitsrechtsausschusses im KölnerAnwaltVerein e.V.

2011

oUs

Verlag

Dr.OttoSchmidt Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 0221/9 3738-01, Fax 02 211937 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-42042-0 ©2011 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urhebcm:chtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für V ervielfiiltigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikrover:fi1mungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung nach einem Entwurf von:

Jan P. Lichtenford Satt:~,Brrkenau

Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell

Printed in Germany

Vorwort der Herausgeber Die Idee, anlässlich des 200. Jahrestages der Errichtung eines Rats der Gewerbeverständigen in Köln eine Festschrift herauszugeben, ist innerhalb der Justiz, bei den Sozialpartnern und in der Rechtsanwaltschaft auf große Zustimmung gestoßen. Der Rat und das aus ihm hervorgegangene Gewerbegericht sind die Vorläufer des 1927 errichteten und nach dem Zweiten Weltkrieg neugegründeten Arbeitsgerichts. Wie kaum eine andere Stadt in Deutschland kann Köln damit auf eine lange Tradition der Arbeitsrechtsprechung blicken. Bereits das 100jährige Bestehen des Gewerbegerichts im Jahr 1911 war Anlass für eine Festgabe, die der seinerzeitige Vorsteher der Gerichtsschreiberei erstellt und veröffentlicht hatte. Hieran knüpft die vorliegende Festschrift an, die – anders als die Festgabe von 1911 – das Arbeitsgericht Köln und die Arbeitsrechtsprechung in Köln nicht nur aus der Innensicht der Verwaltung, sondern auch aus der Perspektive der Parteien und der Wissenschaft beleuchtet. Besonderen Dank schulden die Herausgeber zunächst den zeitlich ohnehin stark belasteten Autoren, die sich gleichwohl durchweg spontan bereit erklärt haben, ihren Beitrag zu dieser Festschrift zu leisten. Dank gilt auch dem Verlag Dr. Otto Schmidt und insbesondere Frau Dr. Julia Beck, die durch ihre tatkräftige Beratung und Betreuung die Herausgabe der Schrift begleitet haben. Die Veröffentlichung dieser Festschrift wäre nicht möglich gewesen ohne die finanzielle Unterstützung der Sozialpartner und der Anwaltschaft. Dem ARBEITGEBER Köln e. V., dem DGB Region KölnBonn, der Kreishandwerkerschaft Köln, der Rechtsanwaltskammer Köln, dem Kölner Anwaltverein e.V. sowie den Mitgliedern des Arbeitsrechtausschusses des Kölner Anwaltvereins danken wir für die großzügige finanzielle Unterstützung. Die Herausgeber sind stolz, die Festschrift nun der Öffentlichkeit vorlegen zu können, und geben der Hoffnung Ausdruck, dass auch

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Vorwort der Herausgeber

zum 300. Jahrestag eine Festschrift veröffentlicht wird. Denn bekanntlich wird alles, was in Köln mindestens zwei Mal stattgefunden hat, zur Tradition. Köln, im September 2011

Die Herausgeber

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Geleitwort des Präsidenten des Landesarbeitsgerichts­ Köln Das Arbeitsgericht Köln ist das größte Arbeitsgericht in NordrheinWestfalen. Hier werden über 10.000 Fälle pro Jahr bearbeitet. Geschaffen am 26.4.1811 durch Dekret von Kaiser Napoleon wird dort seit zwei Jahrhunderten Streit geschlichtet und Recht gesprochen. Mit dieser langjährigen Tradition zählt es zu den Wegbereitern der heutigen Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland. Aus Anlass seines 200-jährigen Bestehens wird diese Festschrift vorgelegt, die über die Geschichte des Arbeitsgerichts Köln, seine heutige Tätigkeit und über aktuelle Fragestellungen unterrichtet. Trotz gravierender Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland in den letzten 200 Jahren hat sich die Arbeitsrechtsprechung durchweg großer Wertschätzung erfreut. Das hohe Ansehen, das das Arbeitsgericht Köln auch heute bei allen an dem gerichtlichen Verfahren beteiligten Kreisen genießt, kommt durch die rege Beteiligung an der Festschrift, die reihum erklärte Bereitschaft zu deren Unterstützung sowie durch die große Resonanz auf die Jubiläumsfeierlichkeiten eindrucksvoll zum Ausdruck. Dafür gebührt allen Beteiligten mein besonderer Dank. Die dem Arbeitsgericht Köln gezollte Anerkennung wird auch künftig Herausforderung und Ansporn für die dort tätigen Richterinnen und Richter und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein. Möge das Arbeitsgericht Köln auch in Zukunft seine erfolgreiche Tätigkeit fortsetzen. Köln, im September 2011

Dr. Jürgen vom Stein

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Grußwort des Justizministers des Landes Nordrhein­-Westfalen Köln ist eine stolze und lebensfrohe Stadt, in der jeder Geburtstag gerne gefeiert wird. Zu einem zweihundertsten Geburtstag wird allerdings selbst hier selten eingeladen. Die Geschichte der Stadt geht auf die Römer zurück, die neben vielem anderen auch die europäische Rechtsgeschichte maßgeblich beeinflusst haben. Köln und das Recht haben vielfältige Bezüge, etwa die berühmte rechtswissenschaftliche Fakultät der 1388 von der Bürgerschaft gegründeten Universität zu Köln. Auch als Justizstandort kann Köln auf eine bemerkenswerte Geschichte verweisen. Die Stadt ist heute Sitz von elf Gerichten und Behörden der nordrhein-westfälischen Justiz, auch des Arbeitsgerichts Köln und des Landesarbeitsgerichts Köln. Im Vergleich zählt die Arbeitsgerichtsbarkeit zu den kleinen Gerichtsbarkeiten des Landes und wird deswegen stolz darauf sein, dass sie in Köln ihren zweihundertsten Geburtstag acht Jahre früher als das große Oberlandesgericht feiert. Sie begegnet ihm täglich als Nachbar an der Blumenthalstraße. Köln hat aber nicht nur eine enge Verbindung zum Recht im Allgemeinen, sondern auch zum Arbeitsrecht. Sie ist ebenfalls historisch gewachsen und geht auf die französische Revolution und Napoleon I. zurück. Er löste zwar die Kölner Universität auf, gliederte aber Köln in das Département de la Roer ein, so dass die in Frankreich gebildeten Räte der Gewerbeverständigen – conseils de prud‘hommes – auch in den französisch verwalteten Gebieten Deutschlands und eben 1811 in Köln errichtet wurden. Die Räte wurden zum Vorbild für die Entwicklung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland. Deswegen darf hier mit gutem Recht der zweihundertste Geburtstag der Arbeitsrechtsprechung gefeiert werden. Seitdem hat die enge Verbindung zwischen Köln und dem Arbeitsrecht Bestand gehabt, berühmte Juristen stehen dafür Pate. Für die Justizverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen ist der mit Köln verbundene fruchtbare arbeitsrechtliche Austausch ein Glücksfall. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass arbeitsrechtliche Beiträge aus Nordrhein-Westfalen und aus Köln in Deutschland hohes Ansehen genießen. Die Festschrift nimmt verschiedene Aspekte der Arbeitsgerichtsbarkeit – aktuell, hisIX

Grußwort des Justizministers des Landes Nordrhein­-Westfalen

torisch und natürlich mit Kölner Bezügen – in den Blick. Als Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen gratuliere ich herzlich und wünsche der Festschrift viele interessierte Leserinnen und Leser. Köln, im September 2011

Thomas Kutschaty MdL

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Grußwort des Oberbürgermeisters der Stadt Köln Die Menschen im Rheinland hatten vor inzwischen zweihundert Jahren so viele gesellschaftliche und politische Neuerungen in historisch gesehen so kurzer Zeit erlebt wie sonst kaum in einem ganzen Zeitalter. Durch die französische Besetzung waren die Errungenschaften der Französischen Revolution wie die Einführung der bürgerlichen Freiheitsrechte und die Abschaffung des feudalen Ständestaates hierher getragen worden. Dies gilt auch für heute vielleicht nicht mehr so geläufige Auswüchse eines allumfassenden Neuerungswillens wie die Einrichtung von „Tempeln der Vernunft“ als Ersatzkultstätten für die zeitweise untersagten Gottesdienste oder die Einführung einer ZehnTage-Woche. Auf diese revolutionären Zeiten folgten die napoleonischen, die nicht nur für die kriegerischen Auseinandersetzungen in ganz Europa standen, sondern auch für eine gewisse Befriedung und Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung im Inneren unter Beibehaltung der Gedanken von Freiheit und Gleichberechtigung. Im „Kölner Bewusstsein“ ist aus dieser Zeit Einiges erhalten geblieben. Sicher zählt hierzu der „Code Napoléon“, der auch im Rheinland dem kleinstaaterischen Gesetzeswirrwarr ein Ende bereitete und ihm eine verfasste Zivilgesellschaft entgegenstellte. Viele Kölner Bürgerinnen und Bürger werden noch bruchstückhaft von den zahlreichen Ordnungsmaßnahmen in der Stadt wissen, wie beispielsweise von dem Verbot von Bestattungen innerhalb des Stadtgebietes und der damit verbundenen Gründung des Friedhofes Melaten, wie von den Regelungen zur Abfallentsorgung und Tierschlachtungen, der Abschaffung zahlreicher Feiertage zur Ankurbelung der gemeindlichen Volkswirtschaft oder wie auch von der Nummerierung aller Gebäude. Beispielsweise kam es so zu der wohl bekanntesten Kölner Hausnummer „4711“ in der Glockengasse. Eine allgemein weniger bekannte und dennoch seither konstant segensreiche Einrichtung, deren zweihundertjähriges Bestehen wir heute feiern dürfen, ist die Konstituierung einer Arbeitsgerichtsbarkeit in Köln im April 1811. Bis dahin hatten noch die Jahrhunderte zählenXI

Grußwort des Oberbürgermeisters der Stadt Köln

den, jedoch angesichts der zunehmenden Industrialisierung und der Einführung der Gewerbefreiheit längst veralteten Zünfte ihre eigene Gerichtsbarkeit erfolgreich gegen jeden staatlichen Einfluss verteidigt und eine unabhängige Gerichtsbarkeit verhindert. Auf Bitten der Kölner Bürgerschaft und der Handelskammer nach Gewährung eines „Rates der Gewerbeverständigen“, welcher nach dem Vorbild des Lyoner „Conseil de prud’hommes“ eingerichtet werden sollte, dekretierte Napoleon am 26. April 1811 die Errichtung eines Gewerberates in Köln. Das Dekret sah vor, dass sich die 13 Mitglieder aus den „Kaufleuten-Fabrikanten, Werksmeistern und patentirten Arbeitsleuten“ der verschiedenen Sparten – vor allem der Tuch-, Seiden- und Spitzenfabrikation – zusammenzusetzen hatten. Vornehmliche Aufgabe des Gewerberates sollte es sein, alle Fragen des Verhältnisses der Fabrikanten und Kaufleute sowie ihrer angestellten Arbeiter, Meister, Gesellen und Lehrlingen zu regeln – und zwar möglichst einvernehmlich und, da wo notwendig, durch Richterspruch. Als „Rat der Gewerbeverständigen“ und später „Königliches Gewerbegericht zu Cöln“ sollte die Institution mit den im Wesentlichen gleichen Zusammensetzungen und Aufgaben in Köln noch über die Reichsgründung hinaus fortgeführt werden. Mit der Zeit nahm hier allerdings zu Recht das Verhältnis der Handwerker zu den Fa­ brikherren zu. Der von Heinrich Dahmen 1911 verfassten Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Königlichen Gewerbegerichts Cöln ist zu entnehmen, dass der Rat gleich in den ersten Zeiten seines Bestehens eine rege Tätigkeit entfaltete: „[S]o wurden allein in der Zeit von August bis Ende 1811 213 Klagesachen erledigt, und zwar 194 durch Vergleich, 19 durch Urteil. Der Rat hat also in überraschender Weise seinen Hauptzweck, mehr zu versöhnen als zu entscheiden, erreicht.“ Der Festschrift ist jedoch auch zu entnehmen, dass der Rat zudem Maßnahmen zum Gebrauchsmusterschutz ergriff: „Die erste Eintragung zum Musterschutze erfolgte am 23. Oktober 1811 auf Antrag der Firma ’Jean Marie Farina, vis-à-vis de la place Julier’“. Das Muster wird in engem Zusammenhang mit dem Hauptprodukt der Firma gestanden haben, dem „Eau de Cologne“. Aus heutiger Sicht kurios muten die strafrechtlichen Befugnisse des Rates zur Befriedung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern an, etwa die Verhängung mehrtätiger (Beuge-) Haft XII

Grußwort des Oberbürgermeisters der Stadt Köln

bei Uneinsichtigkeit. Dahmen berichtet von einem Fall aus dem Jahr 1824: „Die […] am Neubau des Justizgebäudes beschäftigten Maurer hatten wegen Lohnstreitigkeiten die Arbeit ohne Kündigung verlassen; auf die Anzeige des Bauunternehmers begaben sich zwei Mitglieder des Rates und der Sekretär zur Baustelle, stellten den Tatbestand fest und machten einigen weiter arbeitenden Gesellen die Strafen über das Vergehen wegen einseitiger Einstellung der Arbeit bekannt, wo­ rauf sich am folgenden Morgen alle Arbeiter mit Ausnahme zweier, die die Stadt verlassen hatten, wieder einfanden und die Arbeit fortsetzten.“ Es wird zudem von Fällen berichtet, in denen Strafdrohungen gegen Arbeitgeber wegen unrechtmäßigen Verhaltens gegen ihre Arbeiter Wirkung zeigten. In einigen aufgezählten Beispielen wird deutlich, dass die Arbeitnehmerrechte ernst genommen wurden, bisweilen sogar ihrer Zeit voraus waren, besieht man sich nur etwa eine Entscheidung aus dem Jahre 1840, die den Arbeitnehmern bei ausstehendem Lohn im Falle der Insolvenz ein Pfandrecht an den ihnen anvertrauten Stoffen einräumte. Es verging jedoch noch einige Zeit, bis auch die einfachen Fabrikarbeiter und Gesellen als Mitglieder am Gewerbegericht mitwirken durften. Dennoch kann konstatiert werden, dass die heutige Besetzung der Kammern bei den Arbeitsgerichten ihren Ursprung in den Gründungszeiten hat. Als auch heute in der Arbeitsgerichtsbarkeit wichtiger Aufgabenbereich ist im Verlaufe ihres Bestehens konsequenterweise der Schutz der Tarifrechte und der Koalitionsfreiheit hinzugekommen. Die ehrenamtliche Tätigkeit der Mitglieder des Kölner Gewerbegerichts kann im Rückblick als erfolgreich bezeichnet werden und zeigt – wie in unzähligen anderen Bereichen unseres Gemeinwesens auch –, dass hier schon in früheren Zeiten die Einbindung der engagierten Bürgerschaft in gesamtgesellschaftliche Aufgaben oft segensreich wirkte. Ein kurzer Blick auf die lange Liste der Mitglieder des Gerichts in den ersten einhundert Jahren dokumentiert, wenn man so will, deren Eingebundenheit in die Stadtgesellschaft. Ich nenne nur einige der 400 Namen aus der Liste, die Dahmen in seiner Festschrift aufführt: „Albert Nikolaus Stollwerk, Schokoladenfabrikant“, „Anton Unkelbach, Schlosser, später Gastwirt“, aber auch „Gerhard Klefisch, Klempnermeister“, „Johann Heinrich Schmitz II, Bierbrauereibesitzer“ und „Wilhelm Ossendorf, Zapfbursche“. XIII

Grußwort des Oberbürgermeisters der Stadt Köln

Ich vermag nicht zu beurteilen, ob neben der Verfassung des Gerichts die „rheinische Abstammung“ einen Beitrag dazu geleistet hat, dass weit mehr als die Hälfte aller Streitigkeiten durch Vergleich beigelegt wurden. Jedenfalls setzt sich diese Tradition in den heutigen Regelungen zur Arbeitsgerichtsbarkeit fort, die bekanntlich grundsätzlich der gütlichen Einigung ohne Richterspruch den Vorrang einräumt. Darzustellen, inwieweit die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung auf Stadt und Gesellschaft gewirkt und Entwicklungen beeinflusst hat, wird Aufgabe der Autoren dieser Festschrift sein. Allen Beteiligten darf ich zu deren Gelingen aufs herzlichste gratulieren. Köln, im September 2011

Jürgen Roters

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Inhalt Vorwort der Herausgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Geleitwort des Präsidenten des Landesarbeitsgerichts­Köln . . . . VII Grußwort des Justizministers des Landes Nordrhein­-Westfalen. IX Grußwort des Oberbürgermeisters der Stadt Köln. . . . . . . . . . . XI Hans Jörg Gäntgen Das Arbeitsgericht Köln Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Achim Fritzsche Eine kurze Geschichte des Arbeitsgerichts Köln vom 1.7.1927 bis zum 3.4.1946. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Johannes Poelmann Neubeginn Erinnerungen­an Fritz Poelmann­ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Hartmut Münster Das TH–Gericht Kleine Geschichte(n) des Arbeitsgerichts Köln. . . . . . . . . . . . 63 Sebastian Roloff Eine Arbeitsplatzbeschreibung – das Arbeitsgericht­Köln aus der Sicht eines „jungen­“ Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Nicolai Fabricius und Inge Lohmar Die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter beim Arbeitsgericht­  Köln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Martin Lützeler Die Kölner Arbeitsgerichtsgebäude. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 XV

Inhalt

Peter Hanau Vom Geist des Gerichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Hiltrud Kohnen Gedanken zur Fortbildungspflicht der Anwaltschaft­: Darf die Advokatur frei bleiben?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Thomas Kutschaty und Dirk Gilberg Die Arbeitsgerichtsbarkeit nach 1945 – Motor des sozialen Friedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Jürgen vom Stein 200 Jahre Streitschlichtungskultur in arbeitsrechtlichen­ Streitigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Artur Tybussek und Michael Pietraszek Zur Akzeptanz arbeitsgerichtlicher Verfahren im Kölner Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Berthold Vogel Gestalten Arbeitsrichter die Arbeitswelt? Befunde aus einem soziologischen Forschungsprojekt­. . . . . . 197 Mario Utess Der deutsche Kündigungsschutz – ein Erfolgsmodell mit Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Bernd Schiefer Fortgeltung kollektivrechtlicher Regelungen im Falle eines Betriebsübergangs­. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Thomas Bezani und Marcus Richter Grenzüberschreitender Betriebsübergang?. . . . . . . . . . . . . . . 235 Anhang: Zum 100jährigen Bestehen des Königlichen Gewerbegerichts­ Cöln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 XVI

Das Arbeitsgericht Köln Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft Dr. Hans Jörg Gäntgen Direktor des Arbeitsgerichts Köln

b) Rechtspfleger . . . . . . 13 c) Kostenbeamte. . . . . . 13 d) Service-Teams. . . . . . 13 e) Verwaltung. . . . . . . . 14 f) Präsidium. . . . . . . . . 14 g) Richterrat und Perso­ nalrat. . . . . . . . . . . . . 15 h) Ausschuss der ehren­ amtlichen Richter . . . 15 2. Zusammenarbeit mit den Parteivertretern. . . . 16 3. Das Arbeitsgericht in der Kölner Behörden­ landschaft . . . . . . . . . . . 18 IV. Die Zukunft. . . . . . . . . . . . 18

I. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . 1 II. Die Vergangenheit . . . . . . . 2 1. Die Zeit der französischen Besetzung. . . . . . . 2 2. Unter preußischer Herrschaft. . . . . . . . . . . 3 3. Weimarer Republik und National­sozialismus. . . . 6 4. Nachkriegszeit und jüngste­  deutsche Geschichte. . . . . . . . . . . 6 III. Die Gegenwart. . . . . . . . . . 10 1. Organisation, Gerichts­ angehörige und Gremien. 12 a) Kammern . . . . . . . . . 12

I. Einleitung Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten. Das Axiom des Kommunikationswissenschaftlers Watzlawick gilt auch für Justizbehörden. Seit 200 Jahren werden in Köln Arbeitskonflikte in einem staatlich geregelten Verfahren unter Mitwirkung von Vertretern der Arbeitswelt gelöst. Das Jubiläum gibt dem Arbeitsgericht Köln Anlass zu Reflektion, Standortbestimmung und Ausblick.

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Hans Jörg Gäntgen

II. Die Vergangenheit 1. Die Zeit der französischen Besetzung

Was heute selbstverständlich erscheint, die Lösung von Arbeitskonflikten in einem justizmäßigen Verfahren, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufregend neu. Streitigkeiten zwischen Fabrikanten und Arbeitern­wurden von staatlicher Seite, wenn überhaupt, nach gewerbepolizeilichen Maßstäben behandelt. Der soziale Friede konnte auf diese Weise regelmäßig nicht hergestellt werden. Deshalb war es gesellschaftlich und ökonomisch klug, dass sich die Handelskammer zu Lyon im Jahr 1806 mit dem Wunsch an Napoleon wandte, ein genossenschaftlich organisiertes Gericht zu gründen, dessen Mitglieder von den Gewerbetreibenden gewählt wurden.1 Der so errichtete Conseil de Prud’hommes, der seinen Namen den prudentes homines (preudommes), einem Sammelbegriff für städtische Beamte, Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit und Sachverständige,2 verdankt, stellt sich als Grundstein der Arbeitsgerichtsbarkeit dar. Der Erfolg gab der Idee schnell recht. Conseils de Prud’hommes wurden rasch auch an anderen Orten gegründet. 1811 war es in Köln soweit. Napoleon musste Köln in guter Erinnerung behalten haben. 1804 hatte er das seit 1794 von den Franzosen besetzte Köln besucht und in einer Dankesrede anlässlich des überaus freundlichen Empfangs die Einmaligkeit der Stadt hervorgehoben.3 Zudem war Napoleon im April des Jahres 1811 vermutlich ohnehin guter Stimmung. Zwar hatte er ein knappes Jahr zuvor­bei Aspern seine erste Schlacht verloren. Durch den Sieg von Wagram hatte er diese Scharte jedoch einigermaßen auswetzen und im Friedensschluss von Schönbrunn umfangreiche, vordem österreichische Gebiete für Frankreich annektieren können. Auch privat lief es

1 Stein, Die geschichtliche Entwicklung der gewerblichen Gerichtsbarkeit in Frankreich, Deutschland, Oesterreich, Belgien, der Schweiz und England, Berlin 1891, S. 14. 2 Stein, Die geschichtliche Entwickelung der gewerblichen Gerichtsbarkeit in Frankreich, Deutschland, Oesterreich, Belgien, der Schweiz und England, Berlin 1891, S. 1. 3 Nitt, Vor 200 Jahren – Napoleon besucht Köln, Info-Heft der Akademie für uns kölsche Sproch, Mai–September 2004, S. 6 ff.

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nicht schlecht, war er doch gerade erst Vater seines einzigen legitimen männlichen Nachfolgers geworden. Die Umstände waren also glücklich, als Napoleon am 26.4.1811 im Palast der Tuilerien auf Anregung der Stadt Köln und ihrer Handelskammer ein Dekret unterzeichnete, das die Errichtung eines Rates der Gewerbeverständigen in Köln („Conseil de prud’hommes de la ville de Cologne“) zum Gegenstand hatte. Ausgefertigt wurde das Dekret durch den Minister Graf Pierre Antoine Noel Bruno Daru (1767– 1829), einem Feingeist, der als Übersetzer lateinischer Klassiker und Verfasser historischer Werke hervorgetreten war. Dass Daru in Deutschland wegen seiner strengen Verwaltung verhasst war,4 tut der neuen Idee einer Gewerbegerichtsbarkeit keinen Abbruch. Der neu gegründete Rat der Gewerbeverständigen bestand zunächst aus 13 Mitgliedern, die man aus dem Kreis der Kaufleute, Fabrikanten, Werkmeister und patentierten Arbeitsleute nahm. Die Arbeiterschaft war nicht vertreten. Das Verfahren ähnelte aber bereits dem heutigen Arbeitsgerichtsverfahren. Es begann mit einer Verhandlung vor dem Vergleichsbüro, an die sich bei Erfolglosigkeit die Verhandlung vor dem Hauptbüro anschloss.5 2. Unter preußischer Herrschaft

Es ist allgemein bekannt, dass es für Napoleon beruflich nicht mehr ganz so glücklich weiter ging. 1814 setzten preußische Truppen über den Rhein und die Stadt Köln fiel nach dem Wiener Kongress mit den rheinischen Provinzen an Preußen. Der Rat der Gewerbeverständigen ließ sich indes von den weltgeschichtlichen Erschütterungen nicht sonderlich beeindrucken. Er setzte seine Verhandlungen wie gewohnt fort, nunmehr allerdings nicht mehr in französischer, sondern in deutscher Sprache. Dieses Zugeständnis an die neue politische Lage musste sein. Die Preußen, die von der Nützlichkeit des Rates überzeugt waren, hielten an der Einrichtung fest, da sie, „obgleich französischen Ursprungs, dennoch für Kunst und Gewerbefleiß den entschiedensten 4 Brockhaus-Enzyklopädie, 17. Auflage 1968. 5 Linsenmaier, Die Arbeitsgerichtsbarkeit, http://www.bundesarbeitsgericht. de/allgemeines/geschichte.html.

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Vorteil bei sich führet, und seit einer Reihe von Jahren sich als solche schon hier bewähret“ habe.6 Bemerkenswert ist das Anforderungsprofil, das der Regierungsrat Fuchs bei der Neuwahl der Mitglieder 1820 wie folgt formulierte: „Es sollte sich um Männer handeln, die mit dem besten Leumund tiefe Sachkenntnisse verbinden, über die Tugenden eines wahren Familien­vaters und Streitschlichters verfügen, die nicht nur den Richter spielen wollen und die in ihren Handlungen den Streitsüchtigen durch Sanftmut, Sachkenntnis und Richtigkeit zu imponieren wissen.“7 Durch Kabinettsordre vom 27.4.1830 wurde die Zahl der Mitglieder auf 15 erhöht, wobei alle Handwerksmeister gewählt werden konnten. Erst 1844 hoben die Preußen das napoleonische Dekret vom 26.4.1811 auf, und König Friedrich Wilhelm nannte den Rat in das „Königliche Gewerbegericht zu Köln“ um. Gegengezeichnet wurde die Verordnung durch den preußischen Justizminister Heinrich Gottlob von Mühler (1780–1857) und den Kabinettsminister Ernst Albert Karl Wilhelm Ludwig von Bodelschwingh (1794–1854). Die Gewerbegerichtsverordnung vom 9.2.1849 sah dann erstmals die nahezu gleichgewichtige Repräsentation der Arbeitnehmer in den Gewerbegerichten vor.8 Im Sommer 1891 war das preußische Kabinett zu Besuch bei Königin­Victoria von England, der Großmutter von Wilhelm II. (1859–1941) und der meisten anderen europäischen Staatsoberhäupter. Im Buckingham-Palast erließ die preußische Regierung am 11.7.1891 das Gesetz betreffend die königlichen Gewerbegerichte in der Rheinprovinz. Das Gesetz nimmt hinsichtlich der Zuständigkeit, der Zusammensetzung und der Tätigkeit der Gewerbegerichte Bezug auf das kurz zuvor erlassene Reichsgesetz betreffend die Gewerbegerichte vom 29.7.1890, das in einem zeitgenössischen Lexikon als „erste Frucht der Verständigung der sozialreformatorischen Parteien des Reichstags mit den Bundesregierungen“ bezeichnet wurde, und mit dem „das Deutsche Reich wie in der Arbeiterversicherung den übrigen 6 Nach Dahmen, FS 1911, S. 12. (abgedr. im Anh. S. 259 ff.) 7 Nach Dahmen, FS 1911, S. 12 f. (abgedr. im Anh. S. 259 ff.) 8 Linsenmaier, Die Arbeitsgerichtsbarkeit, http://www.bundesarbeitsgericht. de/allgemeines/geschichte.html.

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Kulturstaaten in der legislatorischen Lösung einer wichtigen sozialpolitischen Frage vorangeschritten“ sei.9 Die nähere Ausgestaltung des Königlichen Gewerbegerichts zu Köln erfolgte durch Regulativ vom 21.2.1898, das durch den damaligen Justizminister Hermann von Schelling (1824–1908) und den Minister für Handel und Gewerbe Hans Hermann Freiherr von Berlepsch (1843–1926) unterzeichnet wurde. Berlepsch, nach dem auch eine beliebte Apfelsorte benannt ist, hatte sich frühzeitig für die Interessen der Arbeiterschaft eingesetzt und 1890 die Internationale Arbeiterschutzkonferenz geleitet. Das Gewerbegericht Köln bestand nun aus einem Vorsitzenden, mindestens einem Stellvertreter und mindestens 40 Beisitzern. Der Vorsitzende und die stellvertretenden Vorsitzenden wurden nunmehr vom Regierungspräsidenten ernannt und durften weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer sein. Die Beisitzer wurden zur Hälfte aus den Arbeitgebern und zur Hälfte aus den Arbeitnehmern entnommen und in getrennten Gruppen für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt. Kurz vor dem 100. Geburtstag des Gerichts fand in Köln vom 15. bis 17.9.1910 der Verbandstag Deutscher Gewerbe- und Kaufmannsgerichte hat statt, der sich mit 700 Teilnehmern eines Besuchs erfreute, wie ihn noch keiner seiner Vorgänger verzeichnen konnte. In einem zeitgenössischen Bericht heißt es: „Die Tagesordnung war so reichlich, dass um wenigstens alle Referenten zum Wort kommen zu lassen, auf eine mündliche Diskussion über die Themata „Gesetzliche Regelung der Tarifverträge“, „Tantiemen und Gratifikationen“, „Frauenwahlrecht“ und „Werkspensionskassen“ verzichtet werden musste. (…) Mehr aber vielleicht noch als das reine Arbeitsprogramm trug zum Gelingen die echt rheinische Stimmung bei, die uns in Köln empfing. (…) Von dem festlichen Empfang und von der Rheinfahrt zeigten sich die Mitglieder des Verbandstages ohne Unterschied ihrer politischen und wirtschaftlichen Stellung in gleicher Weise befriedigt. Gerade die festlichen Veranstaltungen eines Kongresses, wie des unsrigen, haben auch noch eine ernstere, über den Augenblick hinausgehende Bedeutung. Sie geben Männern, die sich immer nur als Gegner auf dem Kampffelde der Öffentlichkeit ge-

9 Meyers Konversationslexikon, 4. Aufl. 1885–1892

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genüberstehen, eine der seltenen Gelegenheiten, sich einmal persönlich auszusprechen und menschlich näher zu treten.“10 Das Jubiläumsjahr 1911 gab die Gelegenheit, die Tätigkeit des Gerichts in einer schönen, vom damaligen Vorsteher der Gerichtsschreiberei Heinrich Dahmen, erstellten und im Anhang als Faksimile abgedruckten Festschrift zu würdigen. 3. Weimarer Republik und Nationalsozialismus

Nach dem ersten Weltkrieg und dem bedrückenden Nachkriegselend wurden mit dem Arbeitsgerichtsgesetz vom 23.12.1926 die Arbeitsgerichte als selbständige staatliche Gerichte eingerichtet, darunter am 1.7.1927 das Arbeitsgericht Köln. Die Landesarbeitsgerichte waren als Berufungsinstanz den Landgerichten zugeordnet. Das Reichsarbeitsgericht war als Revisionsinstanz dem Reichsgericht angegliedert.11 Die folgende Zeit bis zum Ende des zweiten Weltkriegs, die Fritzsche in seinem Beitrag zu dieser Festschrift ausführlich beschreibt, führte bei dem Arbeitsgericht Köln aufgrund des Rassenwahns der Nationalsozialisten zu herben Einschnitten in der Richterschaft, insbesondere bei den ehrenamtlichen Richtern. 4. Nachkriegszeit und jüngste deutsche Geschichte

Das Ende des zweiten Weltkriegs bot die Chance für einen demokratischen Neuanfang. Die ältesten Generalakten (Akten in Gerichtsverwaltungsangelegenheiten von allgemeiner Bedeutung), die sich beim Arbeitsgericht Köln befinden, stammen aus der frühen Nachkriegszeit. Um sich mit ihnen zu beschäftigen, gilt es angesichts des alten, billigen Papiers zunächst, sensorisch einige Hürden zu überwinden. Gleichwohl lohnt die Lektüre, da sie eine mehrere Generationen übergreifende Entwicklungsgeschichte mit all ihren Höhepunkten und Rückschlägen aufzeigen. Generalakten unterliegen wie Prozessakten 10 Baum, Vom Verbandstag in Köln, Gewerbe- und Kaufmannsgericht, 1910, 3 f. 11 Linsenmaier, Die Arbeitsgerichtsbarkeit, http://www.bundesarbeitsgericht. de/allgemeines/geschichte.html.

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Aufbewahrungsfristen, nach deren Ablauf sie auszusondern sind.12 Diese betragen, je nach Bedeutung der Angelegenheit, zwischen fünf und 50 Jahren. Die im Gericht noch vorhandenen Generalakten des Arbeitsgerichts Köln aus der frühen Nachkriegszeit haben die Aussonderungsaktionen überlebt und illustrieren hübsch die Nachkriegsgeschichte der Arbeitsgerichtsbarkeit. Durch Kontrollratsgesetz Nr. 21 vom 30.3.1946 wurden in Deutschland zur Beilegung von Streitigkeiten in Arbeitssachen Arbeitsgerichte eingerichtet, deren örtliche Zuständigkeit zunächst von den betreffenden Zonenbefehlshabern festgesetzt wurde und die zum Zwecke der Verwaltung den Provinz- oder Landesarbeitsbehörden unterstanden. Die Arbeitsgerichte bestanden aus einem Vorsitzenden oder stellvertretenden Vorsitzenden und aus Beisitzern, die in gleicher Anzahl aus den Kreisen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer entnommen wurden. Alle Mitglieder des Arbeitsgerichts mussten anerkannt demokratische Anschauungen haben. Der Vorsitzende wurde für drei Jahre bestimmt. Er sollte eine besondere Befähigung in Arbeitsangelegenheiten aufweisen und aufgrund seiner vorherigen Tätigkeit, seiner Ausbildung oder der Obliegenheiten, die er in Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberverbänden ausgeübt hatte, fähig sein, richterliche Aufgaben wahrzunehmen. Er brauchte jedoch nicht Berufsrichter zu sein. Durch die Verordnung Nr. 46 der britischen Militärregierung wurde am 23.8.1946 das Land Nordrhein-Westfalen gegründet. Die Arbeitsgerichtsbarkeit ressortierte beim Arbeitsminister. Dass Köln als größte Stadt im Westen Deutschlands sein Arbeitsgericht behält, war klar. Der räumliche Zuständigkeitsbereich des Gerichts erstreckte sich auf die Stadt und den Landkreis Köln, sowie aus dem Rheinisch-Bergischen Kreis die Städte bzw. Gemeinden Bensberg, Bergisch-Gladbach, Overath, Odenthal, Rösrath und Porz. Erster Vorsitzender des Arbeitsgerichts Köln war der Amtsgerichtsrat Dr. Friedrich Poelmann (1913–1977),13 dessen Übernahme als Assessor während des Dritten Reiches aus „rassischen“ und politischen Gründen abgelehnt worden war und der 1946 zum Amtsgerichtsrat ernannt worden war. In der Aufbauphase waren neben anderen Tugenden insbesondere Pioniergeist und Pragmatismus gefragt. Mit Erlass des Arbeitsminis12 AV des JM v. 1.6.2007 (1452 – I. 135) - JMBL.NRW S. 157. 13 Hierzu die Erinnerungen seines Sohnes in dieser Festschrift.

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ters vom 20.10.1947 wurde der Zuständigkeitsbereich der einzelnen Arbeitsgerichte abgefragt und um Mitteilung gebeten, wie die Zuständigkeitsteilung in den Landkreisen vorgenommen ist, die in den Zuständigkeitsbereich mehrerer Arbeitsgerichte gehören. Poelmann einigte sich daraufhin, wie er dem Landesarbeitsgericht Düsseldorf am 6.12.1947 berichtete (siehe S. 21), mit seinem Kollegen aus Gummersbach, dass Overath zum Arbeitsgerichtsbezirk Gummersbach „geschlagen wird“ und die rechtsrheinische Grenze des Gerichtsbezirks demnach wie folgt verlaufe: „Von der rechten Rheinseite aus im Anschluss an die Kölner Landkreisgrenze der „Dhünn“ entlang bis zur Gemeinde Odenthal; dann nach Süden zur Statdtgrenze Berg-Gladbach/Bensberg, dieser entlang bis zur Gemeinde Overath einschließlich der Ortschaft Immekeppel; sodann der ‚Agger‘ entlang bis zum Zusammenfluss mit der ‚Sülz‘ bei Donrath; sodann aufwärts der ‚Sülz‘ bis zur Gemeinde Rösrath und von hier aus nach Westen zur Gemeinde Porz entlang bis zum rechten Rheinufer.“ Mit dem am 1.10.1953 in Kraft getretenen Arbeitsgerichtsgesetz betrat die Arbeitsgerichtsbarkeit eine weitere Entwicklungsstufe. Erstmals wurde ein von der ordentlichen Justiz unabhängiger dreistufiger Instanzenzug und somit die für die Arbeitsgerichtsbarkeit die in ihren wesentlichen Grundzügen noch heute geltende Verfassung eingeführt.14 Wieder galt es, den Zuständigkeitsbereich des Gerichts zu bestimmen. Hierüber verhält sich ein Bericht des damaligen aufsichtführenden Richters Chaluppa vom 18.8.1953, in dem er nach Anhörung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie Stadt Köln und der Landkreise mitteilte, dass eine Neuabgrenzung des Bezirks nicht erforderlich sei und die Arbeitgeberseite größten Wert darauf lege, dass die Gemeinde Wesseling beim Arbeitsgericht Köln verbleibe. In den Folgejahren wuchs das Arbeitsgericht Köln kontinuierlich. Gleichwohl bleibt die Zahl der an dem Gericht tätigen Richterinnen und Richter überschaubar. Es waren dies, soweit sich dies aus den vorhandenen Unterlagen ermitteln lässt:

14 Linsenmaier, Die Arbeitsgerichtsbarkeit, http://www.bundesarbeitsgericht. de/allgemeines/geschichte.html.

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Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft

Albertsmeier, Heinz Altrock, Dr. Volker von Appel, Clemens Arnscheidt, Dr. Felix Ascheraden, Dr. Ulrike Freifrau Schoultz von Bitter, Walter Bleistein, Dr. Franz Josef Blens-Vandieken, Marianne Bock, Dr. Margot Bröhl, Dr. Knut Brondics, Dr. Klaus Brüne, Herbert Chaluppa, Johannes Dicks-Hell, Carola Dietze, Günther Dyrchs, Dr. Barbara Eisemann, Dr. Hans Esser, Dr. Helmut Faulenbach, Dr. Daniel Fries, Burkhard Heuser-Hesse, Kirsten Kalb, Dr. Heinz-Jürgen

Kaup, Dr. Klemens Klütsch, Albert Köhres, Dr. Hans Jörg Küster, Elisabeth Löhr-Steinhaus, Wilfried Mostardt, Albrecht Münster, Hartmut Neumann, Dr. Dirk Pilartz, Annegret Poelmann, Dr. Friedrich Rech, Dr. Heribert Reiffenhäuser, Norbert Rietschel, Ernst-Wilhelm Scheuermann, Dr. Karl Schroeder, Diethelm Schunck, Karl Ernst Schwartz, Hans-Dieter Stahlhacke, Dr. Eugen Theilenberg, Heinrich Thiele, Dr. Gerhard Thür, Franz-Joachim Valerius, Dr. Hans Weyergraf, Ralf. Sie alle haben das Gericht mitgeprägt. Mit der personellen Ausstattung wuchs auch der Raumbedarf. Die Unterbringung des Gerichts war immer ein Thema. Ihr widmet sich in dieser Festschrift der Beitrag von Lützeler. Da die Arbeitsgerichtsbarkeit beim Arbeitsminister ressortierte, verfügte sie über keine eigenen Gerichtsgebäude. Die Arbeitsgerichte wurden daher lange Zeit dort untergebracht, wo es gerade passte und nicht allzu teuer war. Die räumliche Ausstattung vieler Arbeitsgerichte stand nicht in Übereinstimmung mit den Ansprüchen des rechtsuchenden Publikums, der Richterschaft und der Gerichtsbarkeit an sich selbst. Waren sie in Justizgebäuden (mit-) untergebracht, galten sie dort mehr oder weniger als 9

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Fremdkörper und wurden von den hausverwaltenden Behördenleitungen oftmals stiefmütterlich behandelt. Lange Zeit war das Arbeitsgericht im Kölner Agnesviertel angesiedelt, wenn auch nacheinander an verschiedenen Adressen. Die Planungen zu einer gemeinsamen Unterbringung mit dem Sozialgericht im Herzen der Stadt waren schon weit gediehen, scheiterten jedoch nicht zuletzt an dem Widerstand der Anwaltschaft im Hinblick auf die schlechte Parkplatzsituation. Das derzeitige, am 1.1.1996 bezogene Gerichtsgebäude in der Pohligstraße ist angemietet. Es liegt, nur durch ein großes Parkhaus von einer der Kölner Hauptbahnlinien getrennt, nicht weit entfernt von Land- und Amtsgericht und ist daher für die Parteien und ihre Vertreter recht günstig zu erreichen. Die nächste Umgebung verwandelte sich mit der Zeit aber zunehmend in ein Gewerbegebiet mit Autohäusern und Discount-Supermärkten. Zudem stören der Lärm der vorbeiführenden Hauptverkehrsstraße und der Eisenbahn doch sehr. Dass die Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter trotz der vielen Umzüge ihr Gewerbe im Umherreisen ausgeübt hätten, lässt sich gleichwohl nicht feststellen. Der Gerichtsbezirk des Arbeitsgerichts Köln ist flächenmäßig so klein, dass das Gericht keinen Gerichtstag vorhalten muss. Gleichwohl wurde von im Rhein-Erft-Kreis verwurzelten Politikern mehrfach der Wunsch nach Einrichtung eines Gerichtstages an die zuständige oberste Landesbehörde gerichtet. Die Wünsche wurden jedoch sowohl vom Arbeitsministerium als auch von dem seit 1998 für die Arbeitsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen zuständigen Justizministerium mit dem zutreffenden Hinweis zurückgewiesen, dass das Arbeitsgericht Köln zentral in einem Ballungsraum gelegen und aus allen Teilen seines Sprengels innerhalb kurzer Zeit gut zu erreichen sei.

III. Die Gegenwart Entsprechend dem Leitbild der Gerichte im Bezirk des Landesarbeitsgerichts Köln versucht das Gericht durch eine sachgerechte und zügige Erledigung der Rechtssachen zum Rechtsfrieden und zur Rechtssicherheit in den Betrieben und Unternehmen beizutragen. Obwohl die sog. Urteilsquote, also der Anteil der streitigen Entscheidungen an der Ge10

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samtzahl der Erledigungen, in Köln über die Jahre hinweg vergleichsweise hoch ist und zwischen zwölf und 15 % liegt, zeigt dies deutlich, dass das Arbeitsgericht Köln wie alle erstinstanzlichen Gerichte für Arbeitssachen für die weitaus überwiegende Zahl der Fälle sowohl die Eingangs- als auch die die Abschlussinstanz darstellt. Nur ein Teil der streitig entschiedenen Fälle wird mit Rechtsmitteln angegriffen. Die weitaus meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die einen Rechtsstreit führen, lernen die höheren Instanzen nicht kennen. Dies belegt zunächst die große Bedeutung der erstinstanzlichen Gerichte für die Wahrung des Rechtsfriedens bei Arbeitskonflikten, zumal eine zahlenmäßig nennenswerte Konkurrenz durch außergerichtliche Schlichtung oder Entscheidung von Rechtstreiten nicht besteht. Die heißt aber auch, dass das Bild von der Arbeitsgerichtsbarkeit im Ballungsraum Köln maßgeblich und entscheidend von der ersten In­ stanz, dem Arbeitsgericht, geprägt wird. Daraus folgt zwingend, dass die dem Gericht vorgelegten Streitigkeiten nicht nur sachgerecht geregelt oder zutreffend entschieden werden müssen. Wichtig ist auch, dass die Parteien und die sonstigen Beteiligten eines Rechtsstreits erfahren, dass ihre Probleme bei dem Gericht gut aufgehoben sind. Selbst wenn der Ausgang des Rechtstreits ihren Wünschen, Hoffnungen und Überzeugungen nicht entsprechen mag, sollen sie doch erkennen können, dass ihr Fall angemessen und zügig behandelt wurde und dass ihre Argumente gehört und nachvollziehbar beschieden wurden. Die Tätigkeit bei einem erstinstanzlichen Gericht für Arbeitssachen ist daher für alle Gerichtsangehörigen sehr anspruchsvoll. Dies gilt insbesondere für die Tätigkeit an einem Großstadtgericht. In Köln und Umgebung haben sich neben zahlreichen mittelständischen Betrieben viele Großunternehmen niedergelassen. So ist es nicht untypisch, dass an einem Sitzungstag kurz nach dem erbitterten Streit zwischen­Naturparteien über eine Lohnforderung über eine Betriebsrentenanpassung mit etwaigen Folgekosten von mehreren Millionen Euro verhandelt werden muss. Das fordert von den Richterinnen und Richtern neben der Fähigkeit zur Entscheidung schwieriger Rechtsfragen ein hohes Maß an Einfühlungs- und Anpassungsvermögen. Organisatorisch muss sichergestellt werden, dass die Kommunikation mit den Prozessbeteiligten möglichst ohne Zeit- und Reibungsverluste von statten geht. 11

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Der hohe Anspruch, den die Bürgerinnen und Bürger an das Gericht stellen, darf nicht enttäuscht werden. Das erfordert neben der angemessenen personellen und sachlichen Ausstattung der Behörde zuvörderst eine entsprechende Einstellung der Gerichtsangehörigen. Es muss ihnen bewusst sein, dass ihre Tätigkeit für das weitere Schicksal der Parteien und für die Außenwirkung des Gerichts von ausschlaggebender Bedeutung ist. Sie müssen daher sowohl über die notwendige Demut als auch über das erforderliche Selbstbewusstsein verfügen, um ihre wichtige Tätigkeit ausüben zu können. Weder die Parteien noch die Gerichtsangehörigen dürfen das Arbeitsgericht als eine Durchlaufstation sehen, die es schon statistisch nicht ist. Sie sollten das Arbeitsgericht als die erste, nicht die unterste, Instanz in einem Arbeitsgerichtsverfahren ansehen. Denn beim Arbeitsgericht werden die entscheidenden Weichen für eine zuträgliche Lösung des Konflikts gestellt. 1. Organisation, Gerichtsangehörige und Gremien

Im Jubiläumsjahr 2011 verfügt das Arbeitsgericht Köln über 18 ständige Kammern sowie zwei Hilfskammern, die jährlich weit über 10.000 Fälle bearbeiten. Ihnen stehen vier Rechtspflegerinnen und ein Rechtspfleger, drei Service-Teams sowie ein Team Zentrale Dienste zur Seite. a) Kammern

Derzeit sind die Kammern wie folgt besetzt: 1. Kammer Richter am Arbeitsgericht Dr. Ehrich 2. Kammer Richter am Arbeitsgericht Bokelmann 3. Kammer Richter am Arbeitsgericht Dr. Roloff 4. Kammer Richterin am Arbeitsgericht Zilius 5. Kammer Richter am Arbeitsgericht a.w.a.R. Dr. Wester 6. Kammer Richterin am Arbeitsgericht Meyer-Wopperer 7. Kammer Direktor des Arbeitsgerichts Dr. Gäntgen 8. Kammer Richterin am Arbeitsgericht Wilmers 9. Kammer Richter am Arbeitsgericht Dr. Heiden 10. Kammer Richterin Dr. Franck (seit 1.9.2011 Richterin Naumann) 11. Kammer Richterin am Arbeitsgericht Dr. Goebel 12. Kammer Richterin am Arbeitsgericht Dr. Liebscher 12

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13. Kammer Richterin am Arbeitsgericht Baldus 14. Kammer Richterin am Arbeitsgericht Dr. Poeche 15. Kammer Richter am Arbeitsgericht a.d.st.V.d.D. Dr. Fabricius 16. Kammer Richter am Arbeitsgericht Decker 17. Kammer Richter am Arbeitsgericht Brüne 18. Kammer Richter Dr. Wollwert 19. Kammer Richterin Hölscher 20. Kammer Richterin am Arbeitsgericht Schmitz-DuMont Abgeordnet/beurlaubt sind: Richter am Arbeitsgericht Brand Richterin am Arbeitsgericht Riemann Richter am Arbeitsgericht Dr. Sievers b) Rechtspfleger

Fünf Diplom-Rechtspflegerinnen und einem Diplom-Rechtspfleger sind die rechtspflegerischen Aufgaben des Gerichts übertragen: Regierungsoberinspektorin Schwenken-Zmugg Regierungsinspektorin Saballus Regierungsinspektorin Vater

Regierungsamtsrat Höhne Regierungsoberinspektorin Arens Regierungsoberinspektorin Prömpers c) Kostenbeamte

Als Kostenbeamte tätig und mit Verwaltungsaufgaben betraut sind: Regierungsamtsinspektor Mayer Regierungsamtsinspektor Meerkamp d) Service-Teams

Die Angehörigen der Service-Teams sind folgende Regierungsbeschäftigte: Bogdanski Bukowietz Chrzanowski von Dahlen

Dick Freiburg Gaßmann Gerhards 13

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Hartmann Janoschek Jürgens Jüttner Kerp Kistner Kruggel Kruschke Leidheuser Lemke Lösch Lohmar Maaßen Maiwald

von Oepen Pees Puck Richartz Reisch Rittmeier Schäfer Späth Stapper Tief Trame Weckmann Wittig

Beurlaubt sind folgende Regierungsbeschäftigte: Funken-Müßeler Plein Rossow

Schultheis Zeiger

e) Verwaltung

Die Verwaltungsabteilung des Arbeitsgerichts besteht neben dem Direktor aus zwei richterlichen Dezernenten, der Geschäftsleitung und den Sachbearbeitern aus dem Bereich der Kostenbeamten und Servicekräfte. f) Präsidium

Die Geschäftsverteilung erfolgt durch das Präsidium, das neben dem Direktor als geborenem Mitglied aus der Richterin am Arbeitsgericht Baldus sowie den Richtern am Arbeitsgericht Dr. Fabricius, Decker und Dr. Wester besteht. Nach dem Geschäftsverteilungsplan werden die jeweils bis 24.00 Uhr eines vorangegangenen Arbeitstages eingegangenen bürgerlichen Rechtsstreite (Ca-Sachen) am folgenden Arbeitstag nach dem Namen 14

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der Beklagten in alphabetischer Reihenfolge geordnet und in der Reihenfolge der Kammern fortlaufend in Blöcken von bis zu 20 Sachen eingetragen. Alle übrigen Sachen werden sofort nach laufenden Nummern eingetragen und auf die Kammern in deren numerischer Reihenfolge verteilt. Durch dieses modifizierte Turnus­system ist einerseits eine gleichmäßige Belastung aller Kammern gewährleistet. Andererseits werden mehrere gegen eine beklagte Partei gleichzeitig eingereichte Klagen möglichst wenigen Kammern zugewiesen. Das Präsidium bemüht sich, zur Vermeidung von negativen Kompetenzkonflikten die Zahl der Übernahmeverpflichtungen wegen Pa­ rallelität auf ein Minimum zu reduzieren. Derzeit besteht eine Übernahmeverpflichtung nur bei Rechtsstreiten zwischen denselben Parteien bzw. deren Rechtsnachfolgern. Sie sind von der Kammer, die den Rechtsstreit mit dem ältesten Eingangsdatum beim Arbeitsgericht Köln hat, zu übernehmen bzw. an diese abzugeben. Neben der Erstellung des Jahresgeschäftsverteilungsplans werden im Laufe des Jahres aus besonderem Anlass, wie etwa von Abordnungen, Arbeitszeitermäßigungen und -erhöhungen, Dienstunfähigkeiten oder Urlaubsüberscheidungen weitere Beratungen des Präsidiums notwendig. Dabei erfolgt die Anpassung von Kammerbeständen in der Regel durch eine Steuerung der Neueingänge und nicht durch eine Verteilung von Altsachen. Dadurch werden die Parteien vor einem Wechsel der Zuständigkeit bewahrt und der Verwaltungsaufwand im Gericht klein gehalten. g) Richterrat und Personalrat

Der Richterrat besteht aus den Richtern am Arbeitsgericht Dr. Roloff, Bokelmann und Dr. Heiden. Der Personalrat besteht aus den Regierungsbeschäftigten Kruschke, Maassen und Schäfer. Die Zusammenarbeit ist überaus kollegial, was selbstverständlich kritische Stellungnahmen und entschlossen vertretene Sachpositionen nicht ausschließt. h) Ausschuss der ehrenamtlichen Richter

Der Ausschuss der ehrenamtlichen Richter wurde im Jahr 2008 wie folgt gewählt:

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Arbeitgeber: Gnacke, Georg Josef Herrmann, Werner Kirch, Klaus Schmeier, Günter Speck, Jürgen (verst.) Wasserfuhr, Anne

Arbeitnehmer: Boie, Gabriele Braun, Richard Buschhausen, Kai Uwe Krüger, Hans-Joachim Nothhelfer, Heidi Weiß-Balschun, Regine (mittlerweile­beim Landes­ arbeitsgericht)

Ersatzmitglieder: Britz, Wolfgang Deckenbrock, Wolfgang Hoffmann, Claus Milz, Frank Weber, Hermann-Josef Weckel, Johann-Michael

Ersatzmitglieder: Ebert, Bernd Kartusch, Dieter Müller, Paul Röhlig, Rolf Rösner, Thomas Vöcking, André

2. Zusammenarbeit mit den Parteivertretern

In Zeiten mit einer hohen Eingangsbelastung und angesichts der knappen personellen Ressourcen im sog. nichtrichterlichen Dienst ist es nicht immer einfach, dem selbst gesetzten Leitbild gerecht zu werden. Das Gericht ist daher auf die Kooperation mit den Prozessvertretern in besonderer Weise angewiesen. Da Kommunikationsschwierigkeiten häufig darauf zurückzuführen sind, dass die Gerichtsangehörige und Parteivertreter die jeweiligen Arbeitsabläufe der anderen Seite nicht hinreichend kennen, bemühen sich Gericht und Anwaltschaft um eine wechselseitige Hospitation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Zudem regt das Gericht im Interesse einer effizienten Verfahrensführung in seinem Internet-Auftritt u.a. an, –– Sach- und Verfahrensanträge im Text deutlich hervorzuheben und Sachanträge so frühzeitig anzukündigen, dass die Zustellung an die Gegenseite rechtzeitig erfolgen kann, –– die örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Köln schon in der Klageschrift zu begründen, wenn die beklagte Partei ihren Sitz nicht 16

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in dessen Bezirk hat, um Rückfragen zu vermeiden und unverzüglich einen Termin anberaumen zu können, drucktechnisch hervorgehoben auf ein bereits anhängiges Parallelverfahren zwischen denselben Parteien hinzuweisen, damit der Rechtsstreit der zuständigen Kammer mit der älteren Sache sofort und nicht erst in einem späteren Verfahrensstadium zu der im Geschäftsverteilungsplan vorgeschriebenen Übernahmeprüfung vorgelegt werden kann, die Anträge auf Festsetzung des Streitwerts mit einem kurz begründeten Vorschlag zur Höhe des Streitwertes zu verbinden und mindestens die maßgeblichen Grundlagen für die Streitwertfestsetzung anzugeben, Telefaxe nur zu versenden, wenn besondere Eile geboten ist, Terminverlegungsanträge drucktechnisch hervorzuheben und so frühzeitig zu stellen, dass noch eine Umladung rechtzeitig erfolgen kann, einen längeren Vergleichstext neben dem Original-Schriftsatz als E- Mail-Anhang (Word-Datei) unter Angabe des Aktenzeichens im Betreff an [email protected] zu senden.

Eine Beachtung dieser Anregungen führt bei Gericht zu einer enormen Arbeitserleichterung und setzt Ressourcen frei, die an anderer Stelle dringend benötigt werden. Diese Bitten des Gerichts sind bei den Parteivertretern auf fruchtbaren Boden gestoßen. Gut aufgenommen wird, dass die Sitzungsergebnisse der letzten 14 Tage beim Arbeitsgericht Köln wie bei den anderen Gerichten im Bezirk des Landesarbeitsgerichts Köln anonymisiert unter dem Geschäftszeichen des Rechtstreits im Internet abgefragt werden können. Das gewährleistet eine schnelle Information der Parteien und ihrer Vertreter und entlastet zugleich die Service-Teams. Überhaupt klappt die Zusammenarbeit zwischen Gericht und Anwaltschaft sowie mit den Gewerkschafts- und Verbandsvertretern erfreulich gut. Durch einen regelmäßigen Gedankenaustausch, sei es anlässlich des jährlichen Frühjahrsempfangs des Kölner Anwaltvereins im Arbeitsgericht, bei den Veranstaltungen der Gewerkschaften und Verbände sowie bei bilateralen Gesprächen lassen sich etwaige Probleme und Herausforderungen sowie deren Lösung offen diskutieren. 17

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3. Das Arbeitsgericht in der Kölner Behördenlandschaft

Das Landesarbeitsgericht unterstützt das Arbeitsgericht so gut es irgend geht und bemüht sich, das im Geschäftsbereich des Justizministeriums gepflegte Berichtswesen gegenüber dem Arbeitsgericht auf ein gut erträgliches Maß zu beschränken. Die meisten Fragen können telefonisch oder per E-Mail geklärt werden. Die Zusammenarbeit mit anderen Justizbehörden verläuft ebenfalls reibungslos, was natürlich auch darauf zurückzuführen ist, dass verhältnismäßig wenige dienstliche Berührungspunkte bestehen. Wo sie bestehen, ist die Zusammenarbeit unproblematisch. Das Arbeitsgericht Köln profitiert stark von der in seiner Nähe gelegenen Universität. Viele Angehörige der Richterschaft aber auch der Anwaltschaft und der Sozialpartner haben in Köln studiert und sind erst durch die dort lehrenden hervorragenden Vertreter der Arbeitsrechtswissenschaft zum Arbeitsrecht geführt worden. Überhaupt schein die symbiotische Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis­im Arbeitsrecht einzigartig zu sein. Die Praxis, die vom Gesetzgeber oft genug im Stich gelassen wird, kann ohne die durch wissenschaftliche Grundlagenarbeit geschaffenen Fundamente, nicht zuverlässig arbeiten. Im Gegenzug müssen sich alle wissenschaftlichen Erkenntnisse an ihrer praktischen Tragfähigkeit messen lassen. Für den Austausch gibt es in Köln zahlreiche Foren, die von gemeinsamen Veranstaltungen bis hin zu gemeinsamen Veröffentlichungen reichen.

IV. Die Zukunft Die Arbeitswelt hat sich in den letzten 200 Jahren verändert und wird sich in den nächsten 200 Jahren weiter verändern. Durch den Einsatz neuer Technologien vollzieht sich der Wandel immer schneller. Im Zuge der Globalisierung und der europäischen Einigung finden neue Rechtsgedanken den Weg nach Deutschland. Hinzu kommt, dass das derzeit noch vorherrschende Normalarbeitsverhältnis zunehmend erodiert. Sonderformen abhängiger Arbeit wie Scheinselbstständigkeit, befristete Beschäftigung, geringfügige Beschäftigung, Teilzeitarbeit oder Leiharbeit gewinnen an Raum.

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Unverändert wird es daher auch zukünftig in arbeitsteiligen Gesellschaften Arbeitskonflikte geben, die gelöst werden müssen. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass dies am besten in einem justizförmigen Verfahren durch eine unabhängige staatliche Stelle und unter Beteiligung der Betriebs- und Sozialpartner gelingt. Insoweit wird die Überlegung, die zur Errichtung der Conseils de Prud’hommes geführt hatte, aktuell bleiben. Bessere Ideen sind bislang nicht in Sicht. Das Arbeitsgericht Köln wird den gesellschaftlichen und tech­ nologischen Wandel begleiten und in einem gewissen Maße mitgestalten müssen. Es sieht sich hierbei in der Nachfolge des 1811 errichteten­ Conseils de Prud’hommes und des nachfolgenden Gewerbegerichts, die ebenfalls die Herausforderungen technischer und gesellschaftlicher Umwälzungen meistern mussten. Das Arbeitsgericht Köln wird alles daran setzen, diese große Tradition innerhalb der reichen Kölner Justizlandschaft würdig fortzuführen.

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Eine kurze Geschichte des Arbeitsgerichts Köln vom 1.7.1927 bis zum 3.4.1946 Achim Fritzsche Rechtssekretär

2. Die arbeitsrechtlichen „Reparaturmaßnahmen­“. 44 3. Der arbeitsrechtliche „Neubaukomplex­“ . . . . 46 a) Die materielle Neu­ ordnung . . . . . . . . . . 46 b) Die prozessualen Veränderungen­. . . . . 47 c) Die unmittelbaren Folgen. . . . . . . . . . . . 48 d) Der Versuch einer Rechtsfortbildung­. . . 48 IV. Stabilisierung von 1935 bis 1939. . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 V. Dem Ende zu – 1939 bis 1945. . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 VI. Vorwärts auf Start . . . . . . . 55 Abkürzungen. . . . . . . . . . . . . . 56 Archivverzeichnis. . . . . . . . . . . 57

I. Das Ende vom Anfang. . . . 27 II. Die Anfänge von 1927 bis 1932. . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Die Erstausstattung. . . . 29 2. Die Vorsitzenden. . . . . . 30 3. Die Arbeitsrichter . . . . . 31 4. Verfahren und Ver­ fahrensweise . . . . . . . . . 31 III. Der Umbau des Arbeitsrechts und -gerichts 1933 bis 1934. . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Das Auswechseln des Personals­. . . . . . . . . . . . 35 a) Die Vorsitzenden. . . . 36 b) Die Arbeitsrichter. . . 38 c) Die Prozessbevoll­ mächtigten . . . . . . . . 43 d) Der Wandel nach außen . . . . . . . . . . . . 44

I. Das Ende vom Anfang Als das VII. Korps der 1. amerikanischen Armee am 12.4.1945 das linksrheinische Köln befreit, ist auch das Ende des Arbeitsgerichts Köln nach nicht einmal 18 Jahren gekommen. Mit Proklamation Nr. 1 des Obersten Befehlshabers der Alliierten Streitkräfte vom März 1945 werden alle deutschen Gerichte innerhalb des besetzten Gebietes bis auf weiteres geschlossen. Viel wird wenige Tage vor der bedingungslosen Kapitulation kaum geblieben sein. Die Gebäude Am Quartermarkt 1 und 3 sind bereits durch den Bombenangriff vom 30./31.5.1942 vollkommen zerstört. 27

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In dem Fliegerschadensbericht des Landgerichtspräsidenten lesen wir: „Durch den Fliegerangriff in der Nacht vom 30. zum 31.5.1942 ist das Dienstgebäude des Arbeitsgerichts Köln Quartermarkt bis auf die Grundmauern und eine Trennungsmauer abgebrannt. Mit den Akten und Formularen, der reichhaltigen Bücherei und den Tarif- und Entscheidungssammlungen ist das gesamte in den 14 Diensträumen vorhanden gewesene Inventar des Arbeitsgerichts vernichtet. Es handelt sich um die Einrichtung von 3 Sitzungssälen, 3 Vorsitzendenzimmern, 1 Zimmer des geschäftsleitenden Beamten, 2 Geschäftsstellenräumen, 1 Zeugenzimmer, 2 Beratungszimmer, 1 Wachtmeisterzimmer und 1 Kanzleiraum. Außerdem sind eine künstlerisch wertvolle Sesselgarnitur, 3 große Bilder der früheren Vorsitzenden des Kaufmanns- und Gewerbegerichts und 6 Schreibmaschinen verbrannt. Da auch die Geräteverzeichnisse mitverbrannt sind, ist eine genaue Feststellung des Gesamtschadens nicht möglich. Das Gebäude selbst gehört der Stadt Köln.“1 Die Verwüstung hält eine heimlich gemachte Fotografie fest.2 Ob, in welchem Umfang und wo der richterliche und nichtrichterliche Dienst danach noch aufrechterhalten wurde, lässt sich nicht mehr nachverfolgen. Die letzte veröffentlichte Entscheidung, datiert vom 5.2.1942 – (?) Ca 5/42, findet sich in der Entscheidungssammlung der Deutschen Arbeitsfront 1943.3 Danach verlieren sich die Spuren im dichten Rauch des Untergangs bis zur Neuerrichtung am 4.4.1946 durch das Kontrollratsgesetz Nr. 21 vom 30.3.1946.4 Was vom Arbeitsgericht im Kölner Stadtarchiv geblieben ist, lässt sich leider nach Einsturz und den Folgen zurzeit nicht ermitteln. Einzig im Landesarchiv NRW findet sich etwas, wenn auch stark verstreut in den General- und Sammelakten des Oberlandes- und des Landgerichts Köln. Ein eigener Bestand für das Amtsgericht Köln betreffend das Arbeitsgericht war nicht auffindbar.

1 LAV Gerichte Rep. 255 Nr. 496 Bl. 10. 2 Thomas Deres und Martin Reuther, Hrsg., Fotografieren verboten, Köln 1995 S. 224. 3 DAF ES 1943, S. 87. 4 Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland S. 124, ber. S. 241.

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II. Die Anfänge von 1927 bis 1932 Mit dem Arbeitsgerichtsgesetz vom 23.12.1926 wird in Teilerfüllung des Art. 157 WRV erstmals in Deutschland ein einheitliches Arbeitsprozessrecht geschaffen.5 Dem folgend errichtet der Preußische Justizminister mit Verordnung vom 17.6.1926 im Bezirk des OLG Köln zum 1.7.1927 unter anderen das Arbeitsgericht Köln für die Amtsgerichtsbezirke Bensberg, Bergheim, Brühl, Kerpen, Köln, Köln-Mülheim und aus dem Amtsgerichtsbezirk Lechenich die Bürgermeisterei Liblar.6 Letztere wird dem Arbeitsgericht Köln nur zugeschlagen, um das Braunkohlengebiet einem einzigen Gericht zuzuordnen.7 Anders als die Berufungs- und Revisionsinstanz, die in das Landbzw. Reichsgericht eingegliedert werden, ist es gem. § 13 ArbGG ein Sondergericht. Im Gegensatz zu heute, wenn auch immer wieder in der Diskussion, führt die Justizverwaltung im Einvernehmen mit der obersten Landesbehörde der Arbeits- und Sozialverwaltung die Geschäfte der Verwaltung und die Dienstaufsicht. 1. Die Erstausstattung

Das Arbeitsgericht Köln übernimmt die Räume und auch die Einrichtung des zum 30.6.1927 aufgelösten Kaufmanns- und Gewerbegerichts im ,,1. und 2. Stock am Quatermarkt 1–3. Das Gebäude gehört der Stadt Köln. Es ist günstig gelegen, Entfernung vom Justizgebäude Appellhofplatz 10 und Reichenspergerplatz 25 Fußminuten. Im Untergeschoss sind 3 Ladenlokale und 1 Büro der Stadt.8 Im Hof befindet sich ein Abort, der zu Anfang wegen vieler Beschwerden aufgrund des hohen Zulaufs und der damit verbundenen Verschmutzung sehr viel Ärger bereitet.“9

5 RGBl 1926 I S. 85. 6 PreußGesBl 1927 S. 97. 7 LAV Gerichte Rep. Nr. 210 Bl. 46. 8 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 218 Bl. 11. 9 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 212 Bl. 24.

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Dienststunden sind Montag bis Samstag von 8.00 Uhr bis 16.00 Uhr mit Dienstbereitschaft jeweils bis 18.30 Uhr. Sitzungstag ist auch der Samstag.10 Nur neun Schreib- und Kanzleikräfte sowie ein Wachtmeister werden übernommen. Sonst erfolgt eine Neuausstattung mit Justizbeamten des oberen und mittleren Dienstes. Dazu gehören JOI Ortwein und neun weitere Bürobeamte für den Geschäftsstellen- und Protokolldienst sowie die Gerichtsstube, die später zur Rechtsantragsstelle umbenannt wird. Gem. § 17 ArbGG erhält das Arbeitsgericht Köln zunächst acht Kammern, getrennt in vier Arbeiter-, eine Angestellten- und eine Handwerkskammer. Hinzukommen je eine Fachkammer für Kaufmanns-Handlungsgehilfen und -lehrlinge sowie die Reichsbahnfachkammer für die Reichsbahndirektion Köln.11 2. Die Vorsitzenden

Im richterlichen Dienst ist das Gericht mit neun Richtern besetzt, davon sechs hauptamtliche Vorsitzende Richter und drei nebenamtliche. Sie alle müssen jetzt nach § 6 ArbGG erstmals rechtsgelehrt sein. Die hauptamtlichen werden zunächst aus dem bewährten Kader der Amtsrichter entnommen. Zum aufsichtsführenden Vorsitzenden wird AGR Dr. Paul Canetta (Jg. 1879), zu weiteren hauptamtlichen Vorsitzenden werden die AGRe Hendrichs (Jg. 1886), Dr. Hollender (Jg. 1874), Dr. Lehmacher (Jg. 1889), Dr. Loevenich (Jg. 1891) und Jakob Müller bestellt, zu nebenamtlichen drei der fünf bereits am Kaufmanns- und Gewerbegericht tätigen nebenamtlichen Vorsitzenden RAe Dr. Sauer, Dr. Forsbach (Jg. 1877) und Velder.12 Die Ferienzeit wird mit Amtsrichtern aufgefangen, die befristet als Hilfsrichter oder stellvertretende Vorsitzende an das Arbeitsgericht abgeordnet werden.

10 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 210 Bl. 157, 158. 11 LAV Gerichte Rep. 11 Nr. 1805 Bl. 61. 12 LAV a.a.O. Bl. 73.

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3. Die Arbeitsrichter

Die Be- und Abberufung der Arbeitsrichter erfolgt gem. § 20 ArbGG durch den Regierungspräsidenten im Einvernehmen mit dem Landgerichtspräsidenten aus Vorschlagslisten der wirtschaftlichen Vereinigungen, also der Arbeitgeberverbände und der Freien Gewerkschaften, die überwiegend der SPD nahestehen. Nach der Übersicht über die benötigte Zahl der Beisitzer für die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite vom 30.5.1927 wird sie für die Arbeiterkammern mit 2 × 48, die Angestelltenkammer und das Handwerksgericht mit je 2 × 8, für die Kaufmanns- mit 2 × 16 und die Reichsbahnfachkammer mit 2 × 6 festgesetzt.13 4. Verfahren und Verfahrensweise

Das ArbGG von 1927 entspricht mit Zuständigkeit, Beschluss- und Urteilsverfahren, mit seinen Güte- und Kammerverhandlungen im Wesentlichen unserem heutigen, das mit seiner Neuregelung vom 3.9.195314 an diese Vorschriften unmittelbar anknüpft. Abweichungen und spätere Änderungen können und sollen an dieser Stelle vernachlässigt werden. Anwälte sind als Prozessbevollmächtigte gem. § 11 ArbGG generell ausgeschlossen, nur zugelassen sind Mitglieder und Angestellte der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Gestartet wird in 1927 mit 5.851 Klageverfahren davon 3.787 Arbeitersachen, 1.341 Angestelltensachen, 723 Handwerkersachen und 22 Beschlussverfahren.15 Davon werden erledigt: durch Vergleich in der Güte 995, durch Vergleich in der Kammer 674, durch Anerkenntnis 228, durch Rücknahme 1.420, durch Versäumnisurteile 643, durch Endurteile 1.129. Bleiben unerledigt 676.16 Ca. 100 Verfahren fallen irgendwie aus der Statistik.

13 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 215 Bl. 9. 14 BGBl 1953 I S. 1267. 15 LAV a.a.O. Bl 62. 16 LAV a.a.O. Bl 62.

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Trotz dieses beeindruckenden Zahlenmaterials, lässt sich daraus kaum die wirkliche Belastung im richterlichen und nichtrichterlichen Dienst ablesen. Besser geeignet sind da die Jahresberichte des aufsichtsführenden Vorsitzenden Dr. Canetta. So heißt es in dem Bericht von 1928: „Klagen werden zu 90% zu Protokoll der Bürobeamten genommen…. Die Geschäftsstelle ist als Auskunftsstelle in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten sehr stark in Anspruch genommen. Das hat sich eingebürgert und vorzüglich bewährt. Zahlreiche Klagen sind durch die Vermittlung und Belehrung der Bürobeamten verhütet worden.“ Weiter heißt es dort: „Der Sitzungsdienst nimmt einen großen Teil der Arbeitskraft der Bürobeamten in Anspruch. Er ist besonders schwierig, da er bei der Art der Sachen, die zum größten Teil streitig verhandelt werden, und dem fast Fehlen rechtskundiger Prozessvertreter, ein schnelles Erfassen des wesentlichen Inhalts der oft verworren vorgetragenen Parteivorträge und Zeugenaussagen voraussetzt. Ein Diktat des Protokolls durch den Vorsitzenden erfolgt in der Regel nicht. Die Zahl der regelmäßigen Sitzungen ist sehr hoch. Es werden häufig bei besonderem Geschäftsandrang außerordentliche Sitzungen eingelegt.“17 In seinem Bericht vom 12.3.1930 führt er aus, „dass fast täglich 3 Sitzungen stattfinden.“ und weiter: „In jeder Sitzung muss wegen der Art des Publikums und wegen des starken Andrangs von Zuhörern zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein Wachtmeister zugegen sein. Mit 2 ist kein Auskommen …“ Weiter fährt er fort: „Die Sitzungssäle liegen auf verschiedenen Stockwerken. Von den Eingangstüren für Prozessbeteiligte und Zuhörer, die dauernd überwacht werden müssen, um eine Überfüllung der Säle zu verhüten, liegen zwei im Haus Quartermarkt 1 auf dem 1. und 2. Stockwerk sowie einer im Haus Quartermartkt 3.“18 Selbst wenn man berücksichtigt, dass solche Berichte wie auch heute noch personalpolitisch ein wenig tendenziös sind, bekommt man doch eine ungefähre Vorstellung von dem, was sich damals besonders in den Gütesitzungen abgespielt haben mag. Diese Berichte verfehlen ihre Wirkung nicht. Der Preußische Justizminister bewilligt eine weitere Stelle für einen hauptamtlichen Vor­ 17 LAV Gerichte Rep. Nr. 1806 Bl. 41. 18 LAV Gerichte Rep. Nr. 1805 Bl. 180 f.

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Eine kurze Geschichte (1.7.1927–3.4.1946)

sitzenden. Sie erhält ab dem 1.4.1929 zunächst befristet der AGR Dr. May (Jg. 1893).19 Mit Schreiben vom 14.10.1930 erklärt er sich mit der Weiterbestellung zum hauptamtlichen Vorsitzenden beim Arbeitsgericht einverstanden, wobei er den Zeitraum anheimstellt, aber im Falle des Rücktritts die Zusage auf Übertragung einer Planstelle bei einem ordentlichen Gericht aufrechterhalten wissen will.20 Eine möglicherweise kluge Überlegung, wie sich noch zeigen wird. Seinem Wunsch wird mit Schreiben des Preußischen Justizministers vom 3.12.1930 für die Zeit bis zum 31.12.1933 entsprochen.21 AGR Jakob Müller kehrt zum 15.2.1931 in den Amtsgerichtsdienst zurück. Für ihn rückt der schon lange Jahre zuvor beim Kaufmanns- und Gewerbegericht tätige nebenamtliche Vorsitzende RA Forsbach nach, der zum AGR ernannt wird.22 Im richterlichen Dienst verfügt das Arbeitsgericht damit weiter über neun Richter, aber jetzt sieben hauptamtliche Vorsitzende und nur zwei nebenamtliche mit halben Stellen. Für Ausfall- und Ferienzeiten stehen weiter zu Hilfsrichtern oder stellvertretenden Vorsitzenden abgeordnete Richter des Amtsgerichts zur Verfügung.23 Der nichtrichterliche Dienst setzt sich aus neun Beamten des oberen, vier Arbeitskräften des mittleren Dienstes, sechs Kanzleikräften und drei Wachtmeistern zusammen.24 Mit einer jährlichen Eingangszahl von ca. 12.500 in den Jahren 1929 und 1930 erreicht das Arbeitsgericht die Grenze seiner Belastbarkeit. Danach gehen sie erst um ca. 1.500 in 1931, dann um ca. 2.300 in 1932 zurück; eine Folge der langsamen, wenn auch kontinuierlichen Überwindung der Weltwirtschaftskrise. Die Verfahrensentwicklung bis 1933 veranschaulicht die nachfolgende Aufstellung, wobei in den Vordrucken eine weitere Differenzierung wie noch in der Anfangsstatistik für 1927 nicht mehr vorgenommen wird.

19 LAV Gerichte Rep. Nr. 28 Bl. 195. 20 LAV Gerichte Rep. Nr. 212 Bl. 138. 21 LAV a.a.O. Bl. 172. 22 LAV Gerichte Rep. Nr. 1806 Bl. 7. 23 LAV a.a.O. Bl. 17. 24 LAV Gerichte Rep. Nr. 11 Nr. 1805 Bl. 182.

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Achim Fritzsche 193025

193126

193227

12.591

10.942

8.678

Angest.-Sachen

4.005

4.002

3.312

Sonstige Verf.

8.586

6.940

5.366

Str. Urteile

2.219

1.831

1.535

Vergleiche

4.485

4.053

3.364

Gesamtverf.

Hinter den „sonstigen Verfahren“ verbergen sich fast ausschließlich die Verfahren vor den vier Arbeiter- und den drei Kaufmannskammern.252627 Angesichts dieser rückläufigen Entwicklung muss auch der aufsichtsführende Vorsitzende Dr. Canetta in seinem Bericht vom 3.10.1932 einräumen, mit 7 1/2 Richterstellen auskommen zu können, wenn auch die Vergleichbereitschaft stark nachgelassen hat, wie er betont. Dabei hält er an seinem schon an anderer Stelle vorgetragenen Schlüssel von 900 Angestellten- oder 1.500 Arbeitersachen, also durchschnittlich 1.200 je Richterkraft ausdrücklich fest. Auch verweist er in diesem Zusammenhang auf die besonderen Schwierigkeiten durch die vielen Statusverfahren, nachdem „viele Angestellte und Arbeiter Berufe ergriffen“ haben „durch die sie arbeitnehmerähnliche Personen geworden sind (Agenten, Warenverteiler).“28 So geht das Arbeitsgericht mit acht Richtern in das alles entscheidende Jahr 1933, nachdem eine nebenamtliche Richterstelle nicht mehr zu halten war.29

III. Der Umbau des Arbeitsrechts und -gerichts 1933 bis 1934 Trotz der dramatischen Umwälzungen zu Beginn des Jahres 1933 bleiben Arbeits- und Arbeitsprozessrecht zunächst unangetastet. 25 LAV Gerichte Rep. Nr. 11 Nr. 1806 Bl. 76. 26 LAV a.a.O. Bl. 76. 27 LAV a.a.O. Bl. 76. 28 LAV Gerichte Rep. Nr. 1806 Bl. 68. 29 LAV Gerichte Rep. Nr. 213 Bl. 104.

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Eine kurze Geschichte (1.7.1927–3.4.1946)

Das erste Halbjahr 1933 ist gekennzeichnet durch die Ausschaltung der politischen Feinde. Und diese suchen die Nationalsozialisten und ihre Verbündeten hauptsächlich im linken Spektrum und „rassisch Unwerten“. Danach geht es um eine tiefgreifende Veränderung der personellen Zusammensetzung der im Arbeitsleben handelnden Persönlichkeiten und Verantwortlichen mit dem Ziel ihrer Aus- bzw. Gleichschaltung. Hieran schließen sich in einem weiteren Schritt dann erste kleinere „Reparaturmaßnahmen“30 an, um so die erworbene Macht weiter zu konsolidieren. Erst zu Anfang 1934 wird das „Große Reformwerk“ mit dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.1934 in Angriff genommen, das ganz auf „dem Gemeinschaftsgedanken, dem Führergedanken und dem Persönlichkeitsgedanken“31 aufbaut. 1. Das Auswechseln des Personals

Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30.1.1933 wird wegen Verrat und hochverräterischer Umtriebe32 zum Schutz33 von Volk und Reich in höchster Not34 mit den „jüdischen Bolschewisten“ unter Mord, Folter und Verschleppung abgerechnet. Dabei ist der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28.2.1933, ob selbst gelegt oder nicht, nur willkommen. Am Arbeitsgericht geht das alles nach Lage der Akten spurlos vorüber. Von möglicherweise einzelnen, nicht aktenkundigen Ausnahmen abgesehen, bleiben auch die Beisitzer von dem ausgerufenen Belagerungszustand verschont. Keine Hinweise auf Verhinderungen an der Sitzungsteilnahme, keine Amtsniederlegung oder -entlassungen, nichts. Kaum anzunehmen, dass unter ihnen Kommunisten, Sozialisten oder gar Anarchisten gewesen sind.

30 Dr. Willy Franke, Die Rechtsentwicklung auf dem Gebiet des Arbeitsrechts 1934, JW 1935, S. 14. 31 Franke a.a.O. S. 15. 32 RGBl. 1933 I S. 83. 33 RGBl. 1933 I S. 85. 34 RGBL 1933 I S. 141.

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Von eher entscheidender Bedeutung ist das Ermächtigungsgesetz vom 24.3.1933,35 dem der Reichstag nach geänderter Geschäftsordnung mit 2/3 Mehrheit mit 444 Abgeordneten von 647 zustimmt. Es ist der Schlüssel zum Erfolg, das Arbeitsgericht und nicht nur dieses im Verordnungs- und Erlasswege zu wenden. a) Die Vorsitzenden

Im Glauben an die eigene Ermächtigung und im Vertrauen darauf, dass die gelungene Revolution imstande sei, neues Recht zu schaffen,36 sehen jetzt viele die Zeit zum Handeln gekommen. Nach dem ersten Schlag gegen die „jüdischen Bolschewisten“ richtet sich der zweite gegen die „Juden“, denen die Auflösung jeder Ordnung zugeschrieben wird.37 Am Freitag, den 31.3.1933 stürmen SA- und SS-Angehörige das Justizgebäude Reichensperger Platz. Nach vorher erstellten Listen werden Richter und Anwälte unter dem Verdacht, israelitischen Glaubens zu sein, aufgegriffen, misshandelt, durch die Gänge geschleift, auf Müllwagen verladen und unter Gejohle zum Polizeipräsidium in der Krebsgasse gefahren, wo man sie dann erst freilässt. Die Presse berichtet über diese Aktion in großer Aufmachung.38 Dem nicht genug, wird dieser selbstinitiierte Terror geschickt dazu genutzt, jüdische Richter sofort „zu ihrem eigenen Besten“ aus dem Dienst zu entfernen. Noch am selben Tag weist der erst am 27.3.1933 ernannte Reichskommissar für die preußische Justizverwaltung Hanns Kerrl die Oberlandesgerichtspräsidenten an: „Zum Schutz vor der Selbstjustiz sollten alle jüdischen Richter sofort um Urlaub nachsuchen, widrigenfalls sollte Hausverbot erteilt werden.“ „Jüdische Laienrichter sind nicht mehr einzuladen.“39

35 RGBl. 1933 I S. 141. 36 Klaus Luig, „… weil er nicht arischer Abstammung ist“. Jüdische Juristen in Köln in der NS-Zeit, Köln 2004, S. 29. 37 Götz Aly, Hitlers Volksstaat, Frankfurt am Main 2005, S. 31. 38 Klaus Luig a.a.O., S. 30. 39 Klaus Luig a.a.O., S. 32.

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Eine kurze Geschichte (1.7.1927–3.4.1946)

Dieser eilig „durch Funkspruch des Polizeifunks übermittelte“40 Erlass findet sich am 1.4.1933 zwar in der „Kölnischen Zeitung“ und im „Kölner Stadtanzeiger“ ebenso veröffentlicht wie im „Westdeutschen Beobachter“41, nicht aber in den Generalakten des Oberlandes- und Landgerichts Köln, wie diese eigenartigerweise auch sonst keine Vorgänge aus der Zeit vom 3.11.1932 bis zum 28.3.1933 enthalten. Es ist, als hielten alle den Atem an. Der Landgerichtspräsident Dr. Kuttenkeuler meldet am 1.4.1933 dem Präsidenten des OLG Köln den Vollzug für sechs Richter.42 Auch dieses bei Klaus Luig abgedruckte Schreiben findet sich in keiner der archivierten Akten. Vielmehr ist nach den Generalakten, soweit sie denn vollständig erhalten sind, auf den vorgenannten Erlass nur aus einem späteren Schreiben des Landgerichtspräsidenten zu schließen, in dem er die Unvollständigkeit seiner Meldung vom 1.4. einräumen muss. Am 4.4.1933 ergänzt er: „Meinem Bericht vom 1.4.1933 trage ich nach, dass ich am 1.4.1933 den Amtsgerichtsrat Dr. Otto May vom hiesigen Arbeitsgericht bis auf weiteres beurlaubt habe.“ Weiter fährt er fort: „Die Stelle soll nicht neu besetzt werden, weil der aufsichtsführende Vorsitzende vorläufig ohne Hilfskraft auszukommen hofft.“43 Auch ohne die Nennung des Beurlaubungsgrundes: Dr. May ist unter den Vorsitzenden des Arbeitsgerichts Opfer der rassistischen Säuberung. Ob Dr. Canetta nur auf Druck „freiwillig“ auf die Stelle verzichtet, ist den Akten nicht zu entnehmen. Jedenfalls verhält er sich loyal neutral, wenn er später im Bericht vom 10.5.1933 lediglich so nebenbei darauf eingeht, dass der „jüdische“ Vorsitzende Dr. May beurlaubt sei, so dass dessen Stelle nach dem Verfahrensrückgang zu Anfang 1933 eingespart werden könne.44 Am 18.7.1933 verfügt der Preußische Justizminister für Dr. May: „Auf Grund des § 5 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 RGBL I S. 175 werden Sie zum 1.8.1933 40 Klaus Luig a.a.O., S. 32. 41 Klaus Luig a.a.O., S. 33. 42 Klaus Luig a.a.O., S. 34. 43 LAV Gerichte Rep. 11 Nr. 1806 Bl. 90. 44 LAV a.a.O. Bl. 122.

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als Amtsgerichtsrat an das Amtsgericht Köln versetzt. Gleichzeitig werden Sie im Einvernehmen mit dem Herrn Minister für Wirtschaft und Arbeit vom genannten Zeitpunkt ab von Ihrem Amt als hauptamtlicher Vorsitzender des Arbeitsgerichts entbunden. iV. gez. Dr. Freisler.“45 In der Mitteilung an den OLG-Präsidenten in Köln ebenfalls vom 18.7.1933 heißt es weiter: “May behält bei dem AG Köln die durch Verfügung vom 28.4.1933 II J. 7913 vom AG Gummersbach auf das Amtsgericht Köln übertragene Amtsgerichtsstelle. Bis zum Dienstantritt in dieser Stelle bleibt die Beurlaubung fortbestehen. Wegen einer Beschäftigung beim Amtsgericht ersuche ich, nach dem Berichtsvorschlag zu verfahren. i.A. gez. Dr. Nadler.“46 Gemeint ist damit wohl, er solle auch nach Dienstantritt dort weiter beurlaubt bleiben. Die Stelle des Dr. May beim Arbeitsgericht wird sodann endgültig gestrichen.47 Der damals erst Vierzigjährige wird später zum 31.12.1935 zur Ruhe gesetzt. Seine ausführliche Biografie findet sich bei Klaus Luig auf S. 278. Über die Zeit nach seiner Zwangspensionierung lässt sich weder dort noch in der Datei des NS-Dokumentationszentrums Köln etwas Näheres erfahren. Einen „Arier-Nachweis“ wird übrigens nach Lage der Akten erstmals, und nur zwei Mal im Zusammenhang mit der Bestellung der AGRe Kniffler und Rott im April 1935 zu stellvertretenden Vorsitzenden verlangt, von beiden nach Ablauf einer etwas längeren Zeitspanne auch erbracht. Die NSDAP-Mitgliedschaft beider reicht dem Präsidenten zur Berufung nicht aus.48 b) Die Arbeitsrichter

Neben dem Vorsitzenden Dr. May werden die jüdischen Beisitzer nach dem schon erwähnten Kerrl-Erlass vom 31.3.1933 aussortiert, ohne zunächst formell abberufen zu werden.

45 LAV a.a.O. Bl. 100. 46 LAV a.a.O. Bl. 100. 47 LAV a.a.O. Bl. 102. 48 LAV a.a.O. Bl. 174, 176 f.

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Eine kurze Geschichte (1.7.1927–3.4.1946)

Widerspruch regt sich nicht. Es werden nicht einmal die Folgen einer möglichen Fehlbesetzung der Kammer thematisiert. Will wirklich niemand die Gefahr einer Nichtigkeit von Urteilen erkannt haben, wenn die Auswahl der Arbeitsrichter, die doch weiter im Amt sind, durch Erlass gesteuert wird? Ohne Murren wird die Weisung sofort von den Vorsitzenden streng befolgt, wie der aufsichtsführende Vorsitzende noch später mitteilen wird. Nächstes Ziel ist die Schwächung und Ausschaltung derjenigen wirtschaftlichen Vereinigungen, die bisher das fast ausschließliche Vorschlagsrecht für die Arbeitnehmerbeisitzer hatten, die sozialdemokratisch orientierten Freien Gewerkschaften. In einem ersten Schritt wird mit dem Gesetz über Betriebsvertre­ tungen und über wirtschaftliche Vereinigungen vom 4.4.1933 ihr bisheriges Prozessvertretungsmonopol gebrochen.49 Mit der nach Art. IV erlassenen 1. VO vom 8.4.1933 werden die Nationalsozialistische Betriebs­ zellen-Organisation und die Stahlhelm-Selbsthilfe gleichgestellt.50 Das hört sich zunächst harmlos an, bekommt aber als Grundlage für einen späteren Trick noch Bedeutung. Obwohl die Freien Gewerkschaften durch ihre Teilnahme am 1. Mai, dem neuen Tag der nationalen Arbeit bedingungslose Staatstreue zeigen, wird am 2.5.1933 auch in Köln das Gewerkschaftshaus des ADGB in der Severinstraße von SA und SS unter Polizeischutz erstürmt und besetzt. Desillusioniert lösen sich die davon unvorbereitet getroffenen Gewerkschaften widerstandslos bis zum 10.5.1933 „selbst“ auf. Darunter sind der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund ADGB, der DGB-Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands, der Gewerkschaftsring Deutscher Arbeiter- und Angestellten- und Beamtenverbände, der Allgemeine Freie Angestelltenbund, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband, um nur die wichtigsten zu nennen. Demgegenüber bleibt die Vereinigung Kölner Arbeitgeberverbände bestehen und behält, wenn auch nur vorläufig, weiter bis zur Neuregelung 1934 ihr Vorschlagsrecht.51

49 RGBl. 1933 I S. 161. 50 RGBl. 1933 I S. 193. 51 LAV Gerichte Rep. 11 Nr. 1858 Bl. 25.

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Für jüdische Beisitzer gibt es zwar eine vorläufige Regelung, aber was soll jetzt mit den linksgerichteten Gewerkschaftsmitgliedern geschehen, die zu Arbeitsrichtern berufen bleiben? Der Landgerichtspräsident tröstet auf die Anfrage des Arbeitsgerichts Gummersbach, „dass schon in nächster Zeit darüber entsprechend Bestimmungen erlassen werde.“52 Sie lassen auch nicht lange auf sich warten. Die trotz der forschen Erlasslage doch irgendwie „gefühlte“ Rechtsunsicherheit „heilt“ endlich als erste größere „Reparaturmaßnahme“ das Gesetz über die Beisitzer der Arbeitsgerichte und Schlichtungsbehörden und der Fachausschüsse für das Handwerk vom 18.5.1933.53 Es ermächtigt die Landesjustizverwaltung unter Verlängerung der Amtszeit bis zum 1.1.1934 über die Berufung und Abberufung unter Abweichung von § 20 ArbGG Bestimmungen zu treffen. Nach Abs. 2 gilt diese Ermächtigung auch für alle schon seit dem 21.3.1933 getroffenen Maßnahmen. Der Kerrl-Erlass vom 31.3.1933 bekommt damit endlich, wenn auch rückwirkend, seine Legitimation, ist und bleibt damit Rechtsgrundlage für die Ausschaltung jüdischer Arbeitsrichter, ob formal abberufen oder nicht. In seinem erläuternden Rundschreiben an die Regierungspräsidenten stellt der preußische Justizminister klar: „Sie sind ferner abzuberufen, wenn die Voraussetzungen der §§ 3, 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 (RGB. I 175) oder § 4 der 2. VO zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 4.5.1933 (RGBl. I 233) vorliegen. Die Entscheidung über die Abberufung steht ausschließlich Ihnen im Benehmen mit den Präsidenten des zuständigen Landgerichts zu.“54 Ab- und Neuberufung sollen „nach Fühlung mit den Beteiligten“ bis zum 31.12.1933 erfolgen, „wobei die Zahl der Beisitzer für die Kammern der Arbeitsgerichte variiert werden kann, soweit der Sitzungsdienst nicht beeinträchtigt wird.“55 Offensichtlich wird befürchtet, die ursprüngliche Beisitzerzahl nicht halten zu können. „Auf jeden Fall soll auf das komplizierte Verfahren nach dem ArbGG verzichtet 52 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 216 Bl. 10. 53 RGBl. 1933 I S. 276. 54 LAV a.a.O. Bl. 25. 55 LAV a.a.O. Bl. 26.

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werden, dessen „Bestimmungen über die Vorschlagslisten und die Verhältnismäßigkeit bei ihrer Entnahme“ ohnehin „außer Kraft“ seien.56 Stellt sich jetzt die Frage, wer sind die Beteiligten, mit denen zur Neuberufung „Fühlung“ aufzunehmen ist. Nach der Zusammenfassung des Ergebnisses vom 5.7.1933 über eine gemeinsame Dienstbesprechung von Regierungs- und Landgerichtspräsident mit der Vereinigung der Kölner Arbeitgeberverbände auf der einen, NSBO und die Stahlhelm-Selbsthilfe auf der anderen Seite als den alleinigen wirtschaftlichen Vereinigungen, „prüfen sie für ihren Geschäftsbereich die zur Verfügung gestellten Listen danach, ob a) die Beisitzer nach ihrer Einstellung und Betätigung noch den Interessen der Vereinigung entsprechen. b) sie nach dem Gesetze zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums arisch sind, … wobei wegen der kurz bevorstehenden Amtszeit unter b) nichts Besonderes ermittelt werden muss.“57 Das verschiebt man auf später, wenn mehr Zeit ist. Auf Bitten des Landgerichtspräsidenten überreicht Dr. Canetta am 23.6.1933 zunächst eine Liste mit Beisitzern nichtarischer Abstammung und bekräftigt, dass sie aufgrund der Verfügung des Landgerichtspräsidenten vom 1.4.1933 nicht mehr zu Sitzungen herangezogen wurden. „Die Abberufung liegt im Interesse eines störungsfreien Verlaufs der Sitzung“, hebt er dabei besonders hervor. Es handelt sich dabei ausschließlich um Arbeitsrichter der Arbeitgeber –– für die Arbeiterkammer: Gerhard Frank, Kaufmann und Herbert Steinberg, Fabrikant; –– für die Kaufmannskammer: Franz Berger, Julius Gabriel, Hermann Herz, Eugen Marxheimer, Ernst Meyer, Jakob Thalheimer, Josef Weiß und Julius Schloss, alle Kaufleute; –– für das Handwerksgericht: Jakob Franken, Installateur.

56 LAV a.a.O. Bl. 25. 57 LAV a.a.O. Bl. 58.

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Sie sind die weiteren Opfer rassistischer Säuberung. In der Internetdatei des NS-Dokumentationszentrums Köln findet sich für den am 22.12.1896 geborenen Kaufmann Hermann Herz der Eintrag „Deportiert Minsk (1942).“ Über das weitere Schicksal der anderen Arbeitsrichter war nichts in Erfahrung zu bringen. Zur weiteren Bereinigung fügt der aufsichtsführende Vorsitzende Dr. Canetta eine weitere Liste derjenigen Arbeitsrichter bei, „die von den Freien Gewerkschaften in Vorschlag gebracht sind.“ Wer davon der SPD angehört oder nicht, könne er allerdings nicht sagen.58 Diese Liste findet sich in der Generalakte nicht als Anhang wie die der jüdischen Arbeitsrichter, ist aber möglicherweise mit der des Regierungspräsidenten identisch, die alle nach seiner Meinung unzuverlässigen, vom ADGB vorgeschlagenen aufführt.59 Im Ergebnis beruft der Regierungspräsident im Einvernehmen mit dem zum 1.10.1933 neu bestellten Landgerichtspräsidenten Müller sämtliche Arbeitnehmerbeisitzer für alle Kammern ab, von den 47 Arbeitgeberbeisitzern in der Arbeiterkammer aber nur elf, darunter die beiden bereits genannten jüdischen; von acht in der Angestelltenkammer einen; alle oben aufgeführten acht jüdischen von 31 in der Kaufmannskammer; sieben der 13 im Handwerksgericht, darunter der jüdische Beisitzer; und zwei der 13 in der Reichsbahnfachkammer. Ein ausgewechseltes Team auf der einen steht einem bewährten auf der anderen Seite gegenüber. Die Liste wird dem Landgerichtspräsidenten mit Schreiben vom 21.12.1933 übersandt. Sie findet sich in einer Tasche der Akte beigeheftet.60 Gleichzeitig wird eine neue Liste der nunmehr Berufenen überreicht. Ihre Amtszeit wird jetzt für die Zeit vom 10.1. bis zum 31.12.1934 verfügt, nachdem schon die Amtszeitverlängerung bis 31.12.1933 nochmals hinausgeschoben werden musste.61 Danach werden insgesamt 96 neue Arbeitnehmer- und 28 neue Unternehmerbeisitzer berufen, alle sicherlich vorläufig als linientreu und rassisch rein eingeschätzt. Ihre Amtszeit wird allerdings nur bis zum 30.4.1934 dauern.62 So sicher ist man sich da doch nicht. 58 LAV a.a.O. Bl. 33. 59 LAV a.a.O. Bl. 60. 60 LAV a.a.O. Bl. 61, 84. 61 LAV a.a.O. Bl. 61. 62 LAV a.a.O. Bl. 85, 106.

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Was die Spruchpraxis angeht, war das Arbeitsgericht damit zu einer steuerbaren Größe geworden, mehr noch als die ordentliche Zivilgerichtsbarkeit mit ihren „Nurberufsrichtern.“ Beredte Beispiele dafür sind die von Prof. Müller-Maly in seinem sehr lesenswerten Aufsatz aufgeführten Entscheidungen anderer Arbeitsgerichte, in denen im wahrsten Sinne vorauseilender Gehorsam geübt wird.63 Dem konnten sich die Vorsitzenden sicher nur schwer entziehen, wenn sie es denn überhaupt gewollt haben. Dabei ist hinzuzufügen, dass es allerdings jedem der Vorsitzenden, vielleicht mit Ausnahme des Dr. Forsbach, freistand, in den Amtsgerichtsdienst zurückzukehren, in dem sich alle sowieso mehr oder weniger bald wiederfinden sollten. c) Die Prozessbevollmächtigten

Anwälte bleiben auch in 1933 weiter von einer Prozessvertretung ausgeschlossen. Allerdings wird, wie oben bereits angedeutet, das bisherige Vertretungsmonopol durch das Gesetz über die Betriebsvertretungen und wirtschaftliche Vereinigungen vom 4.4.1933 gebrochen.64 Mit der ersten hierzu ergangenen Verordnung werden den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften in der Prozessvertretung gleichgestellt: „die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO) und die Stahlhelm-Selbsthilfe.“65 Mit der zweiten Verordnung folgen dann statt der bereits aufgelösten wirtschaftlichen Vereinigungen: der Bund für Nationalwirtschaft und Werksgemeinschaft, der Deutschnationale Arbeiterbund, der Gesamtverband evangelischer Arbeitervereine, Vereinigung der deutschen christlichen Bauernvereine, der Reichsbund der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften Raiffeisen, Deutscher Verband Kaufmännischer Vereine, der Verband Katholischer Kaufmännischer Vereinigungen Deutschlands und der Bund der Versicherungsunternehmen.66

63 Theo Müller-Maly, Die Arbeitsgerichtsbarkeit und der Nationalsozialismus in Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Arbeitsgerichtsverbandes, Köln, S. 6 ff. 64 RGBl. 1933 I S. 161. 65 RGBl. 1933 I S. 193. 66 RGBl. 1933 I S. 282.

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Mit der dritten und letzten Verordnung bekommt auch noch die Nationalsozialistische Kriegsopferversorgung ihre Chance, zur Prozessvertretung vor dem Arbeitsgericht zugelassen zu werden.67 Wenn auch die Ansammlung der angeführten Organisationen von NSBO bis hin zum Bund Katholischer Kaufmännischer Vereinigungen auf den ersten Blick wenig Sinn macht, so darf man dabei nicht aus dem Auge verlieren, dass es zu diesem Zeitpunkt noch zur Machtsicherung gehört, die Vereinigungen zu bedenken, die eine breite Zustimmung zur nationalen Erhebung mit dem Ermächtigungsgesetz vom 20.3.1933 sicherten. Diese Klientel gilt es zunächst „bei der Stange zu halten“, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick bis zur Machtkonsolidierung. d) Der Wandel nach außen

So personell gewendet vollzieht sich für alle erkennbar auch nach außen ein Wandlungsprozess in der zweiten Hälfte des Jahres 1933. Mit Erlass vom 17.6.1933 wird das Merkblatt für Schöffen und Geschworene und damit auch für die Beisitzer geändert. „Gegen die Anlegung der Farben des Reichs und Preußens und das Tragen von Abzeichen, welche die Zugehörigkeit zu den hinter der Regierung stehenden Kreisen zum Ausdruck bringen, ist nichts einzuwenden.“68 Und mit Erlass vom 19.7.1933 wird der „Deutsche Gruß“ in der Justizverwaltung eingeführt, dessen Erbietung in allen Einzelheiten, ob mit oder ohne Mütze, mit welchem Arm und mit welchen Wortbegleitungen, festgelegt ist. Aufmunternd heißt es dann am Ende: „Wer nicht in den Verdacht kommen will, sich bewusst ablehnend zu verhalten, wird daher den Hitlergruß erweisen.“69 2. Die arbeitsrechtlichen „Reparaturmaßnahmen“

Parallel hierzu werden bereits Anfang 1933 erste arbeitsrechtliche Veränderungen vorgenommen, mit denen „besonders reparaturbedürftige Stellen im Aufbau des Arbeitsrechts ausgebessert“ werden.70 67 68 69 70

RGBl. 1933 I S. 367. DJ 1933 S. 165. DJ 1933 S. 237. Franke, JW 1934, 14.

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Eine solche ist die Anwendung arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften auf jüdische Bolschewisten, den „Auswurf der Gesellschaft“, Kommunisten und Sozialisten, soweit sie nicht schon zuvor ermordet, eingesperrt oder verjagt sind. Dabei kann sich glücklich schätzen, wer sonst körperlich unversehrt nur seinen Arbeitsplatz verliert. Was aber, wenn er dennoch seiner Entlassung widerspricht, der Betriebsrat die Weiterbeschäftigung verlangt und sogar durch Kündigungsschutzantrag nach §§ 84 ff. BRG im Wege des Beschlussverfahrens durchzusetzen gedenkt? Hier ist Eile geboten. Nach Art. II des Gesetzes über Betriebsvertretungen und über wirtschaftliche Vereinigungen vom 4.4.1933 gibt es gegen eine Kündigung wegen des Verdachts staatsfeindlicher Einstellung nur die Einspruchsmöglichkeit bei dem Regierungspräsidenten, der darüber abschließend ohne Rechtsmittel entscheidet.71 Diese allein vom Arbeitgeber genannte Begründung soll fortan immer ausreichen, den bisherigen gesamten Kündigungsschutz nach §§ 84 ff. BRG zu verlieren. Von noch weitreichender Bedeutung ist das Gesetz über Treuhänder der Arbeit vom 19.5.1933, mit dem sich ein erster Systemwechsel nach der zwangsweisen Selbstauflösung der Tarifvertragsparteien und Überführung ihres Vermögens am 10.5.1933 in die Deutsche Arbeitsfront andeutet.72 Zwar gilt die Tarifvertragsverordnung in der Fassung vom 2.3.1928 einschließlich ihrer Allgemeinverbindlichkeitsregelung zunächst fort, in die Rechtstellung der bisherigen Tarifvertragsparteien treten aber die ernannten Treuhänder der Arbeit.73 Für das Rheinland mit Sitz Köln regelt Wilhelm Börger zukünftig für Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Mindestbedingungen für den Abschluss der Arbeitsverträge und sorgt „auch im Übrigen … für den Arbeitsfrieden“, wie es in § 2 Abs. 2 heißt. Diese Regelung soll zwar nur bis zur Neuordnung der Sozialverfassung gelten, die auch nicht lange auf sich warten lässt, aber in diesem Punkt keine Änderungen bringt.

71 RGBl. 1933 I S. 161. 72 RGBl. 1933 I S. 285. 73 RGBl. 1928 I S. 47.

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3. Der arbeitsrechtliche „Neubaukomplex“

Erst mit dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.1934 wird der angekündigte Systemwechsel sowohl im materiellen als auch prozessualen Sinn vollzogen.74 a) Die materielle Neuordnung

Mit ihr wird das Führerprinzip auch im Arbeitsrecht durchgesetzt. Es entscheidet allein der Betriebsführer gegenüber der Gefolgschaft in allen betrieblichen Angelegenheiten. Ihm zur Seite steht beratend ein Vertrauensrat. Das Betriebsrätegesetz wird ersatzlos aufgehoben. Diesen­Arbeitsfrieden überwacht weiter der Treuhänder, der in innerbetrieblichen Konfliktfällen mit eigener Entscheidungskompetenz ausgestattet ist. Die Mindestarbeitsbedingungen regelt er durch Tarifordnungen oder Richtlinien über den Inhalt von Einzelverträgen. Auch die Tarifvertragsverordnung wird jetzt aufgehoben. Vom Betriebsrätegesetz bleibt nur die Kündigungsschutzregelung für Arbeitnehmer der §§ 84 ff. BRG in §§ 54 ff. AOG erhalten, allerdings dahin modifiziert, dass nunmehr der gekündigte Arbeitnehmer ein eigenes Klagerecht erhält, während vorher sein Anspruch auf Widerruf der Kündigung durch den Betriebsrat im Wege des Beschlussverfahrens gem. §§ 80 ff. ArbGG geltend zu machen war. Diese Lösung bleibt nur, will man nicht dem Vertrauensrat systemwidrig ein eigenes Klagerecht einräumen, ist er doch mit seiner allein beratenden Funktion ganz dem Betriebsführer untergeordnet. Beibehalten wird das schon vorher bestehende Wahlrecht des Unternehmers, sich auf jeden Fall durch eine Entschädigungszahlung von einer Weiterbeschäftigung zu befreien. Soweit zum Mythos Kündigungsschutz als angebliche Wohltat des Führers.75 Es gilt weiter nur eingeschränkt. Mit der Begründung des Verdachts staatsfeindlicher Einstellung Gekündigten wird der Rechtsweg weiter nach dem Gesetz über Betriebsvertretungen und über wirtschaftliche Vereinigungen vom 4.4.1933 verwehrt.76 Das führt zu einer Reihe von 74 RGBl. 1933 I S. 45. 75 Hueck-Nipperdey-Dietz, München und Berlin 1939, Anm. 1 f. zu § 56 AOG. 76 RGBl. 1933 I S. 161.

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Eine kurze Geschichte (1.7.1927–3.4.1946)

Abgrenzungsproblematiken in Hinblick auf die unterschiedlichen Kündigungsgründe in § 626 BGB, § 123 RGewO und auch §§ 56 ff. AOG, je nachdem ob man rein formell auf die vom Arbeitgeber erklärte Begründung oder die materielle Begründetheit abstellt. Dies beschäftigt in der Folgezeit alle Arbeitsgerichte immer wieder mit z.T. ganz unterschiedlichen und widersprüchlichen Ergebnissen. Entscheidungen des Arbeitsgerichts Köln sind dazu allerdings nicht erhalten, so dass auf die allgemein zugänglichen Entscheidungssammlungen verwiesen werden muss. b) Die prozessualen Veränderungen

Daneben enthält das AOG eine Reihe prozessualer Vorschriften, mit der das ArbGG von 1927 nachhaltig verändert wird.77 Es entfallen die §§ 80 ff. des 2. Abschnitts über das Beschlussverfahren. Für die neuen Vertrauensräte gibt es keine vergleichbare Regelung. Sie können gem. § 16 AOG in besonderen Fällen nur den Treuhänder anrufen, der endgültig entscheidet. Gröbliche Verstöße gegen die sich aus der Betriebsgemeinschaft ergebenden Rechte und Pflichten werden als Ehrverletzungen gem. § 36 AOG vor einem neben dem Arbeitsgericht errichteten Ehrengericht geahndet. Es ist ähnlich einem Strafverfahren gestaltet. Allein antragsberechtigt ist der Treuhänder.78 Eine abschließende Neuregelung erfährt die Berufung der Beisitzer. Das Vorschlagsrecht für Unternehmer- und Gefolgschaftsbeisitzer, wie es jetzt heißt, hat neben den in § 22 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG genannten Körperschaften des öffentlichen Rechts jetzt ausschließlich die Deutsche Arbeitsfront. Sie erhält darüber hinaus auch das Monopol zur Prozessvertretung gem. § 11 Abs. 1 ArbGG. Nur die Leiter und Angestellten der von ihr getrennt nach Unternehmern und Beschäftigten einzurichtenden Rechtsberatungsstellen sind dazu berufen. Allerdings kann sie Rechtsanwälte in Einzelfällen zur Vertretung ermächtigen, sofern sie es für opportun hält.

77 RGBl. 1934 I S. 319. 78 Hueck-Nipperdey-Dietz, Anm. 1 zu § 36 AOG.

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Achim Fritzsche

c) Die unmittelbaren Folgen

Diese Neuregelung verändert die Zusammensetzung der Arbeitsrichter nochmals nachhaltig nach Ablauf der Amtszeit zum 30.4.1934. Mit Beginn der neuen zum 1.5.1934 wird die Zahl der Arbeitsrichter auf je 2 × 24 jeweils in den Arbeiter- und Kaufmannskammern, auf 2 × 12 in der Angestellten- sowie je sechs in der Reichsbahnfachkammer und dem Handwerksgericht reduziert.79 Diese Höchstzahl bleibt auch für die weiteren Amtszeiten gültig.80 Der Bezirksverwalter der DAF stellt in Zusammenarbeit mit dem Bezirksbeauftragten für Unternehmerfragen eine neue Vorschlagsliste getrennt nach Unternehmer- und Gefolgschaftsbeisitzern auf. Daraus werden die vom Regierungspräsidenten im Einverständnis mit dem Landgerichtspräsidenten berufenen Arbeitsrichter entnommen. Das ist auch mit einer der Gründe dafür, dass die personelle Zusammensetzung noch einmal nachhaltig geändert wird. Von 72 Arbeitnehmer-, jetzt Gefolgschaftsbeisitzern bleiben nur 19 im Amt und von den ebenfalls 72 Unternehmerbeisitzern 20. Mehr als zwei Drittel der gerade Berufenen werden damit ausgewechelt.81 Über die Auswahlkriterien geben die Generalakten keine Auskunft. Akten des Regierungspräsidenten über die Berufung ehrenamtlicher Richter sind nicht auffindbar. Mit einer so rassisch und politisch handverlesenen Berufs- und Arbeitsrichterschaft sowie Prozessbevollmächtigten ist das Fundament für den Neubau gelegt. Mehr gelingt allerdings nicht. d) Der Versuch einer Rechtsfortbildung

Mit dem neuen AOG geht durchaus eine Euphorie des Aufbruchs zu „neuen Ufern“ einher. Dem stagnierenden Heute soll als „völkisches Morgenrot“ ein Sozialstaat entgegengesetzt werden, der endlich alle sozialen Schranken einreißt.82 In diesem Sinn bittet der Treuhänder für das Rheinland Wilhelm Börger zu einer Besprechung am 28.6.1934. Teilnehmer sind die Präsidenten des OLG Köln Dr. Bergmann, des LG 79 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 216 Bl. 99. 80 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 214 Bl. 75–85. 81 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 216 Bl. 106 ff. 82 Götz Aly a.a.O. S. 11, 14.

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Eine kurze Geschichte (1.7.1927–3.4.1946)

Walter Müller, des Ehrengerichts LGR Dr. Ernst und die Vorsitzenden der Arbeitsgerichte Köln und Bonn.83 Nach dem von Dr. Canetta und Protokollführer JI Knaab II unterzeichneten Bericht fordert der Treuhänder eine engere Zusammen­ arbeit zwischen ihm und den Gerichten u.a. „in Fällen ungerechter Entlassung bei kleinlichen Anlässen als Ursache für Arbeitgeber/ Unternehmer­, die in ihrem Größenwahn und Herrenmenschentum lieber Lohn für Wochen zahlten, als dass sie es zuließen, dass der Arbeitnehmer wieder in den Betrieb komme. Hiermit müsse aufgeräumt werden. … Zum Kommunisten werde man nicht geboren, sondern gemacht.“ „Von Seiten der Richter wurde daraufhingewiesen, dass oberstes Ziel der vergleichsweisen Regelung die Weiterbeschäftigung sei, aber wo die Kunst des Vergleiches aufhöre, müsse der Richter das Gesetz anwenden. … Eine Anordnung zur Weiterbeschäftigung bestehe auch nach dem neuen Gesetz (AOG d. Verf.) nicht, wenn es dem Betriebsführer die Möglichkeit gebe, zwischen Weiterbeschäftigung und Entlassungsentschädigung zu wählen.“ … Allerdings, „wenn ein im Gesetz genannter Entlassungsgrund vorliege, so müsse das Gericht die Entlassung billigen“, heißt es dort weiter. „Andere Maßnahmen wie Verweis, Geldbuße, Entlassung auf beschränkte Zeit habe es nicht. Besser und freier sei das Gericht im Rahmen des BGB gestellt bei Entlassungen Betriebsbeamter, Werkmeister, kaufmännische Angestellter. Was wichtiger Grund sei, bestimme immer noch das Gericht.“ „Bei allem muss aber oberstes Gebot sein“, da sind sich alle Beteiligten einig, „dass alles vermieden wird, was den Anschein erwecken könne, das Gericht sei bei seiner Urteilsfindung nicht frei.“ Der Treuhänder Börger bittet abschließend um Vorschläge zu einer Gesetzesänderung, die er dem Ministerpräsidenten Hermann Göring vorlegen will.84 Zwei werden ihm daraufhin tatsächlich eingereicht. Der OLG-Präsident Dr. Bergmann schlägt u.a. vor, dem Gericht durch Ergänzung des § 123 RGewO bei unbilliger Härte der fristlosen

83 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 213 Bl. 137. 84 LAV a.a.O. Bl. 137 f.

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Achim Fritzsche

Kündigung mildere Sanktionsmöglichkeiten einzuräumen wie Verweis oder Lohnkürzung auf Zeit.85 Dr. Canetta hält es für notwendig, in allen Vorschriften auf jede erschöpfend oder beispielhafte Aufzählung der Kündigungsgründe zu verzichten und statt dessen allein auf einen wichtigen Grund abzustellen,“ der es dem Zurücktretenden nach Treu und Glauben unzumutbar macht, das Arbeitsverhältnis mit dem anderen fortzusetzen.“ Auch er regt einen Bußkatalog wie in Betriebsordnungen oder eine Erweiterung der Straftatbestände in Ehrengerichtsverfahren an.86 Alles verläuft im Sande. Nicht einmal eine Eingangsbestätigung des Treuhänders ist in den Akten. Ähnliche Initiativen finden sich nicht mehr. Der Alltag hat sie wieder. Die DAF verlangt vom Arbeitsgericht, ihre Mitglieder immer zunächst an ihre Rechtsstelle zu verweisen, bevor eine Klage zu Protokoll erhoben wird. Das lehnt Dr. Canetta zwar nicht ab, hält dem aber entgegen: „Nach § 47 ArbGG ist die Klage schriftlich einzureichen oder bei seiner Geschäftsstelle mündlich zur Niederschrift anzubringen. Im letzteren Fall wird zwecks Beschleunigung des Rechtsstreites dem Kläger sofort der Termin mitgeteilt, so dass eine schriftliche Ladung der Kläger überflüssig ist. Die Zeitspanne zwischen Anbringung der Klage zu Protokoll und der Verhandlung zwecks gütlicher Einigung der Parteien beträgt in den allermeisten Fällen noch keine Woche. Wohnt nämlich die beklagte Partei am Sitz des Gerichts, was in arbeitsgerichtlichen Verfahren die Regel sein dürfte, so dass also die Klage am Wohnsitz des Arbeitgebers zuzustellen ist, so beträgt die Einlassungsfrist gem. § 47 Abs. 3 ArbGG nicht drei Tage, wie nach § 499 ZPO im amtsgerichtlichen Verfahren, sondern die Klage muss mindestens am zweiten Tag vor dem Termin zugestellt werden. Im Sprachgebrauch der ZPO (§ 499) würde die Einlassungsfrist des § 46 Abs. 3 S. 1 ArbGG also mindestens einen Tag betragen. Nach § 266 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 3 S. 2 ArbGG kann diese an sich kurze Einlassungsfrist auf bloßen Antrag des Klägers durch Verfügung des Vorsitzenden des Arbeitsgerichtes noch abgekürzt werden.“87 85 LAV a.a.O. Bl. 143. 86 LAV a.a.O. Bl. 144. 87 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 213 Bl. 151.

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Eine kurze Geschichte (1.7.1927–3.4.1946)

Abgesehen davon, dass er niemand wegschicken könne, hält er den von der DAF gemachten Verfahrensvorschlag dann mit folgender Begründung auch für viel zu zeitaufwendig: „Der Kläger kommt mit einer einfachen Sache zum Arbeitsgericht, muss hier eine zeitlang warten, bis er vorgelassen wird, dann wird ihm der Rat gegeben, zur Arbeitsfront zu gehen. Er geht zur Arbeitsfront, muss hier wieder warten, die Darstellung der Kläger wird nach Orientierung der Arbeitsfront von dieser aufgenommen, die Abteilung Gefolgschaft der Arbeitsfront setzt sich nun mit der Unternehmensabteilung zwecks Verständigung in Verbindung. Gelingt diese Verständigung nicht, wird die Klage beim Arbeitsgericht eingereicht. Dann kommt es erst zur Güteverhandlung vor dem Vorsitzenden, und falls die Angelegenheit nicht erledigt wird, zum Termin vor der Kammer. Eine starke Verzögerung auch und besonders im Hinblick auf die Zweiwochenfrist bei Kündigungsschutzklagen.88

IV. Stabilisierung von 1935 bis 1939 Mit fortschreitender Stabilisierung nehmen die arbeitsgerichtlichen Verfahren deutlich weiter ab, wie die Jahresstatistiken zeigen, nehmen aber mit dem Jahr 1936 genauso wieder zu.89909192 193389

193490

193591

193692

Gesamtverf.

6.594

5.198

4.408

4.921

Angest.-Sachen

3.006

2.104

1.617

1.741

Sonstige Verf.

3.588

3.094

2.791

3.180

Str. Urteile

915

720

606

669

Vergleiche

2.337

2.147

1.796

1.916

88 LAV a.a.O. 89 LAV Gerichte Rep. 11 Nr. 1806 Bl. 192. 90 LAV a.a.O. 91 LAV a.a.O. 92 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 45 Bl. 99.

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Achim Fritzsche

Sie werden nach den Akten des Arbeitsgerichts nicht über den 31.8.1936 hinaus geführt. In denen des Amtsgerichts Köln finden sich immerhin noch Angaben über arbeitsgerichtliche Verfahrenszahlen bis zum 28.2.1937. Die Folge ist ein weiterer Abbau von Stellen im richterlichen und nichtrichterlichen Dienst. Wie die folgende Geschäftsverteilung zeigt, bleibt das Gericht ab dem 1.1.1936 nur noch mit vier hauptamtlichen Vorsitzenden besetzt. Das Handwerksgericht als Fachkammer gibt es nicht mehr.93 1931

1933

1935

1936

Arbeiter­ kammern

Corty Hendrichs Loevenich Hollender

Forsbach Lehmacher Velder na.

Hendrichs Hollender

Forsbach Hollender

Kaufmanns­ kammern

J. Müller May Velder na.

Loevenich Hendrichs

Lehmacher Forsbach

Lehmacher

Handw.Ger.

Canetta

Velder na.

Forsbach

RB.Fkammer

Lehmacher

Canetta

Forsbach

Canetta

Angestelltenkammer

Lehmacher

Hollender Canetta

Canetta

Canetta

Die Verwaltungsgeschäfte führt weiter der aufsichtsführende Vorsitzende Richter Dr. Canetta. Ab 1935 wird die Justizverwaltung zentralisiert und ganz erheblich rationalisiert. Damit wird faktisch auch die Sonderstellung der Arbeitsgerichte beseitigt. Im Zusammenhang mit der Überleitung der Rechtspflege auf das Reich werden mit VO vom 20.3.1935 Richter der Amtsgerichte verpflichtet, richterliche Geschäfte u.a. auch bei den Arbeitsgerichten wahrzunehmen.94 Von da an ist es nur ein Schritt alle Vorsitzenden an das Amtsgericht Köln zu versetzen, erst nur mit, dann aber auch ohne ihre Zustimmung. Das gilt auch für die Beamten des gehobenen und mittleren 93 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 212 Bl. 104, 164, 186. 94 RGBl. 1935 I S. 403.

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Eine kurze Geschichte (1.7.1927–3.4.1946)

Dienstes. Mit dem 1.9.1936 verfügt das Arbeitsgericht über keine Stellen mehr. Sie sind alle auf das Amtsgericht übertragen. Die Dienstgeschäfte führt seit dem der Direktor des Amtsgerichts Köln.95 Das Arbeitsgericht Köln ist ab September 1936 nichts weiter als ein eingerichtetes Gebäude mit Anschrift und Namensschild. Vorsitzende und Beamte sind sämtlich Abgeordnete des Amtsgerichts. Es ist von ihm absorbiert. Dem entsprechend lassen sich in seinen Akten keine Verfahrensstatistiken über den 31.8.1936 hinaus finden. Die Stellenbewirtschaftung erfolgt ab jetzt abhängig von der Gesamtbelastung des Amtsgerichts unter Einschluss der Arbeitsgerichtsverfahren, die wie eigene ausgewiesen werden. Eine vollständige Verfahrensstatistik für 1936 findet sich daher nur in den Generalakten für das Amtsgericht unter VI „Geschäfte des nebenamtlichen Arbeitsgerichts“ aufgeführt. Offensichtlich wird auf vor dem 1.7.1927 verwendete Vordrucke zurückgegriffen.96 Für die ersten beiden Monate des Jahres 1937 meldet das Amtsgericht immerhin noch 897 Gesamtverfahren, hochgerechnet gegenüber 1936 ein weiterer deutlicher Anstieg.97 Ein Zeichen dafür, dass der Aufschwung nur schöner Schein war, der eben nur nicht so gefühlt wurde.98 Der Präsident des Landgerichts beantragt am 7.9.1936 Ersatz für die beiden früheren Vorsitzenden Hendrichs und Dr. Lehmacher wegen der wieder zugenommenen Geschäfte. Er geht dabei jetzt von einer durchschnittlichen Belastung von 800 Angestellten- oder 1.200 Arbeitersachen, also durchschnittlich von 1.000 neuen Verfahren pro Richter aus.99 Der Präsident des OLG will erstmalig auch die Neueingänge beim Amtsgericht mitberücksichtigt wissen.100 Mehr als die vorübergehende befristete Bewilligung einer halben Stelle für das Amtsgericht lässt sich so nicht durchsetzen.101 Es bleibt dann bis 1939 wieder bei den vier abgeordneten Vorsitzenden.  95 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 213 Bl. 205 u. Nr. 587 Bl. 3.  96 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 45 Bl. 99.  97 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 45 Bl. 127.  98 Götz Aly a.a.O. S. 51 ff.  99 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 587 Bl. 13. 100 LAV a.a.O. Bl. 21. 101 LAV a.a.O. Bl. 32.

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Achim Fritzsche

Weitere verlässliche Angaben über Besetzung und Verfahrensmenge für 1937 und die die Jahre danach lassen sich nicht mehr machen. Das Amtsgericht erhält zum 1.1.1937 einen Präsidenten und wird als selbständig aus der Verwaltungs- und Dienstaufsicht des Landgerichts entlassen, dessen Generalakten über die Einrichtung und Besetzung des Amtsgerichts erst Ende 1944 geschlossen werden, ohne allerdings nennenswertes zum Arbeitsgericht auszusagen.102

V. Dem Ende zu – 1939 bis 1945 Greifen wir also wieder auf den verbliebenen Aktenbestand des Arbeitsgerichts zurück. Dieser Rest ist schnell durchgeblättert und berichtet. Die Aktenlage ist dünn und verstreut. Vieles bleibt jetzt bruchstückhaft. Ende 1939 wird Dr. Forsbach zur Ruhe gesetzt. Seine Stelle scheint mit AGR Kniffler vorerst wiederbesetzt zu sein. Auch Dr. Hollender ist a.D., wird aber ab dem 5.7.1940 beim Amtsgericht weiterverwendet.103 Zum 1.5.1940 beginnt zwar eine neue Amtsperiode für die ehrenamtlichen Arbeitsrichter. Sie wird aber nicht zum 30.4.1940 beendet, sondern durch Verfügung des Reichsministers der Justiz für die Dauer des Krieges verlängert.104 Geänderte oder neu gefasste Beisitzerlisten finden sich in den Akten nicht mehr. Ab 1941 ist nun allein erkennbar abgeordnet der frühere aufsichtsführende Vorsitzende Dr. Canetta. Er bleibt wohl auch bis zum Schluss, befördert zum AGDir. In den Akten haben sich nur die Bestellungsschreiben für seine Vertretungen erhalten, die letzten für die AGRe Dr. Corty und Kniffler vom 20.11.1944 für das Geschäftsjahr 1945.105 Dies erhellt auch den Umstand, dass die zuletzt veröffentlichte Entscheidung­des Arbeitsgerichts vom 5.2.1942 das Aktenzeichen

102 LAV Gerichte Rep. 28 Nr. 46. 103 LAV Gerichte Rep. 255 Nr. 317 Bl. 31. 104 LAV Gerichte Rep. 11 Nr. 1858 innen liegendes Beiblatt. 105 LAV Gerichte Rep. 255 Nr. 317 Bl. 157.

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Ca 5/42 trägt.106 Bei einer Kammer bleibt die nähere Bezeichnung durch eine Nummer vor dem Ca entbehrlich. Dieses Urteil ist auch wie die übrigen veröffentlichten nicht besonders erwähnenswert. Auch die in veröffentlichten Berufungs- und Revisionsentscheidungen angegriffenen haben weder einen negativen noch positiven Bezug zur nationalsozialistischen Herrschaft im Sinne der von Müller-Maly zitierten Rechtsprechung. Inwieweit das auch tatsächlich zutrifft, ist nicht mehr nachprüfbar, nachdem der Urteilsbestand 1942, wie schon eingangs erwähnt, komplett verbrannt ist. Auch spätere Entscheidungen finden sich nicht im Bestand des Landesarchivs. In welchem Umfang in den Folgejahren Dr. Canetta für das Arbeitsgericht abgeordnet bleibt, lässt sich ebenso wenig feststellen wie die Anzahl der Verfahren, geschweige denn solche jüdischer Kläger, die zum 4.11.1941 an die dafür gebildete und zukünftig allein zuständige Spruchkammer abgegeben werden. Die Akten verzeichnen dazu nichts. Damit könnten auch wir die Akten schließen, ja wenn sich da nicht doch noch was finden ließe, was neugierig auf die Zukunft macht.

VI. Vorwärts auf Start Nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 20.10.1945 wird nur die ordentliche Gerichtsbarkeit zum 2.11.1945 wiederhergestellt. Die Arbeitsgerichtsbarkeit wird ausdrücklich außen vorgelassen.107 Für das Arbeitsgericht Köln beginnt die neue Zeit im teilzerstörten „Justizgebäude am Appellhofplatz, rechter Flügel, rechter Eingang im Torbogen Aufgang rechts.“ Diese Räume werden für die Aufnahme der Tätigkeit des Arbeitsgerichts als geeignet befunden, und zwar zunächst die Räume im Hochparterre für das zum 4.4.1946 zu errichtende Arbeitsgericht und später die entsprechenden Räume im 1. Stock für das Landesarbeitsgericht. Eine Hilfestellung der Justizverwaltung bei der Wiederherrichtung der Räume ist allerdings nicht zu erwarten. Sie schmollt, ist die neue Arbeitsgerichtsgerichtsbarkeit ihr doch nach

106 DAF ES 1943 S. 87. 107 Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland S. 22.

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dem eingangs zitierten Kontrollratsgesetz Nr. 21 vom 30.3.1946 ausdrücklich entzogen.108 Als mögliche Vorsitzende werden zunächst schon alte Bekannte vorgeschlagen: AGDir. Dr. Canetta, AGR Dr. Corty und AGR Kniffler. Sie alle werden es nicht.109 Mit einer Kammer und vier Beisitzern geht es wieder los.110 Der neue Vorsitzende heißt AGR Dr. Poelmann, in der Tat mit der Dienstanschrift Appellhofplatz, wie seinem Schreiben vom 19.4.1947 zu entnehmen ist. Darin weigert er sich, die vor dem 4.4.1946 bei dem Amtsgericht anhängigen Arbeitsgerichtssachen zu übernehmen.111 Warum sollte er auch, war doch das Arbeitsgericht jetzt von der ordentlichen Gerichtsbarkeit endgültig geschieden. Ob die Weigerung letztlich erfolgreich war oder nicht, vermelden die wenige Blätter später endgültig geschlossenen Akten nicht. Ein neues Kapitel in der Geschichte des Arbeitsgerichts hat begonnen.

Abkürzungen ADGB Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund AGDir Amtsgerichtsdirektor AGG Arbeitsgerichtsgesetz, veraltet AGR/e Amtsgerichtsrat/-räte AOG Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit ArbGG Arbeitsgerichtsgesetz BRG Betriebsrätegesetz DAF ES Entscheidungssammlung der DAF Deutsche Arbeitsfront DJ Deutsche Justiz DVO Durchführungsverordnung JI Justizinspektor JOI Justizoberinspektor JW Juristische Wochenschrift 108 LAV Gerichte Rep. 255 Nr. 315 Bl. 140. 109 LAV a.a.O. Bl. 70. 110 LAV a.a.O. Bl. 73. 111 LAV a.a.O. Bl. 197.

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Eine kurze Geschichte (1.7.1927–3.4.1946)

LAV Landesarchiv NRW na nebenamtlich NSBO Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation PreußGesBl Preußisches Gesetzblatt RGBl Reichsgesetzblatt RGewO Reichsgewerbeordnung

Archivverzeichnis Findbuch 222.02.01 OLG Köln 1. Besetzung des Arbeitsgerichts Köln 1927–1936/ Gerichte Rep. 11 Nr. 1795 und 1805–1806 2. Einrichtung von Arbeitsgerichten 1927–1935 Gerichte Rep. 43 Nr. 165 3. Beisitzer der Arbeitsgerichtsbehörden 1936–1940 Gerichte Rep. 11 Nr. 1858 4. Vorsitzende der Arbeitsgerichte 1938–1953 Gerichte Rep. 255 Nr. 317 5. Fliegerschäden an den Justizgebäuden in Köln Gerichte Rep. 255 Nr. 469 Findbuch 223.08 LG Köln 1. Einrichtung und Besetzung des Amtsgerichts Köln 1936–1945 Gerichte Rep. 28 Nrn. 45 und 46 2. Einrichtung, Geschäftsverteilung, Personal u. ä. 1927–1936 Gerichte Rep. 28 Nrn. 210-213 3. Raumbeschaffung und Einrichtung 1927–1934 Gerichte Rep. 28 Nr.218 4. Beisitzer der Arbeitsgerichte 1927–1934 Gerichte Rep. 28 Nrn 214-117 5. Sitzungen der Beisitzerausschüsse 1929–1934 Gerichte Rep. 28 Nr. 499 6. Einrichtung und Besetzung des Arbeitsgerichts Köln 1936–1944 Gerichte Rep. 28 Nr. 589 7. Geschäftsverteilung 1936–1937 Gerichte Rep. 28 Nr. 589

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Neubeginn Erinnerungen­an Fritz Poelmann­ Johannes Poelmann Vorsitzender Richter am Landgericht Wuppertal

Nach dem zweiten Weltkrieg begann der Aufbau in vielfältiger Weise, so auch in Köln. 1946 wurde das Arbeitsgericht gegründet. Der erste Richter und Behördenleiter, Dr. jur. Fritz Poelmann, nahm beruflich und mit meiner Geburt im selben Jahr auch privat Fahrt auf. Sein Berufsleben verlief dann sehr ereignisreich, rasant und erfolgreich. Das Privatleben musste der enormen beruflichen Belastung angepasst werden. Die Familie war froh, dass der berufliche Einstieg gelungen war, nachdem mit Ende des „Dritten Reiches“ maßgebende Hindernisse entfallen waren. Mein Vater entstammte einer Juristenfamilie. Zunächst aber studierte er einige Semester Theologie, Philosophie, Geschichte und Literatur, bevor er sich der Jurisprudenz zuwandte. Hervorragende Examina und Promotion wären normalerweise gute Voraussetzungen für den angestrebten Eintritt in den Staatsdienst als Gerichtsassessor gewesen. Aber damals galten noch andere Auswahlkriterien. Eine jüdische Großmutter im Ahnenpass und unverhohlen parteifeindliche Einstellung, die meinem Vater u.a. zwei unfreiwillige Tages- und Nachtaufenthalte im Kölner Gestapokeller einbrachten, gehörten dazu nicht und waren alles andere als förderlich. Den zweiten Weltkrieg überstand er als Gefreiter in Norwegen und nach Behandlung im Lazarett als Fahrer beim Kraftfahrpark in Köln. Nach Kriegsende geriet er in britische Gefangenschaft und verbrachte einige Monate auf den Rheinwiesen. Mit Rückkehr eines unabhängigen Richterstandes nach dem Ende des „Dritten Reiches“ wurden fest geschlossene Türen glück­licherweise weit geöffnet. Schon 1946 erfolgten Übernahme als Gerichts­assessor, Ernennung zum Amtsgerichtsrat und die Übertragung der Leitung des Arbeitsgerichts Köln. Der mit der Neugründung ver­bundene organisatorische Aufwand war nicht unerheblich. Das Gericht­und die Woh59

Johannes Poelmann

nung im rechtsrheinischen Dellbrück bildeten gleichsam zwei Brennpunkte einer Ellipse. Dabei war das Gericht der stärkere Brennpunkt. Zunächst aus Erzählungen in der Familie, später auch aus eigener Erinnerung kann ich sagen, dass die Arbeitsbelastung sehr hoch war. Sie blieb es während der Tätigkeit als Vorsitzender der neu gegrün­deten Zweiten Kammer des LAG Düsseldorf mit Sitz in Köln, als Präsident­des LAG Hamm und ab 1954 als Mitglied des Bundesarbeitsgerichts. Das Wohnzimmer in der Kölner Wohnung wurde für die Familienmitglieder abends und an Wochenenden so manches Mal zur Sperrzone erklärt und diente als Arbeitszimmer. Durch die Tür hörte man das flinke Klappern der alten Conti-Schreibmaschine, auf der mein Vater Urteile, Beschlüsse und Verfügungen schrieb. Im Tippen mit beiden Zeigefingern hatte er Routine entwickelt. Und dennoch: Untergegangen ist weder das gesellschaftliche Engagement noch das Privatleben. Gesellschaftlich lagen ihm die Neuorganisation der von den Nazis verbotenen katholischen Vereinigung Bund Neudeutschland und die Gründung der rechtsrheinischen Kölner CDU am Herzen. Auf privater Ebene gab es im Freundeskreis ab und zu abendliche Zusammenkünfte und Samstage, an denen mit Freunden und Kindern Fußball gespielt wurde. Um als jüngster Kicker technisch mithalten zu können, bekam ich im Alter von noch nicht vier Jahren meine ersten Fußballschuhe. Ich gehe davon aus, dass meinem Vater die möglichen Folgen seiner Schenkung bewusst waren. Er vertraute offenbar darauf, dass die Blessuren, die ich mit Spitze und Stollen den Mit- und insbesondere den Gegenspielern zufügen würde, sich in menschlich und rechtlich vertretbaren Grenzen hielten. Er hat mich zwar mal als „Grenzgänger“ bezeichnet, sah aber für die Anwendung weitergehender pädagogischer oder disziplinarischer Maßnahmen keinen Anlass.

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Neubeginn – Erinnerungen­ an Fritz Poelmann

Zu Hause lag generell als erzieherisches Zwangsmittel ein Bambusstock hoch oben auf dem Küchenschrank. Zum praktischen Einsatz blieb meinem Vater wenig Gelegenheit. Es galt nämlich das Prinzip, dass die Strafe der Missetat auf dem Fuße zu folgen hatte. Gottlob kam mein Vater meist erst abends nach Hause. Meine Mutter übte tagsüber die „elterliche Gewalt“ nur in seltenen, besonders schweren Fällen aus. Von daher sind mir die Gründungs- und Aufbaujahre der Kölner Arbeitsgerichtsbarkeit in guter Erinnerung. Zwei Episoden zum Ende dieser Zeit stehen mir heute noch vor Augen. Mein Vater war früher Assistent bei den bekannten Kölner Arbeitsrechtlern Prof. Dr. Herschel und Prof. Dr. Nipperdey, dem ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts. Als die Errichtung dieses Gerichts anstand, wollte Prof. Dr. Nipperdey meinen Vater unbedingt mit nach Kassel nehmen. Doch so leicht war das nicht. Eines Abends hielt ein Dienstfahrzeug vor der Haustür. Prof. Dr. Nipperdey kam zu Besuch. Es wurde ein sehr langer Abend. Im Wohnzimmer schien man bei Häppchen und guten Getränken bestens gelaunt. Meine Mutter nahm teil an dieser Runde. Mein älterer Bruder und ich durften in der Wohnküche dem Chauffeur, Herrn Geuter, beim Essen und Trinken (alkoholfreier) Getränke Gesellschaft leisten. Das Ende der Veranstaltung habe ich verschlafen. Als Ergebnis habe ich erfahren: Gewinner nach Punkten war mein Vater, denn er hatte sich nicht zum Wechsel nach Kassel überreden lassen. Aber der Gast erwies sich als hartnäckig. Er kam kurze Zeit später erneut abends zu Besuch, und zwar mit einigen Flaschen Wein, um sein Vorhaben auf feuchtem Umweg in trockene Tücher zu bekommen. Für meinen Bruder und mich waren es unversehens wieder herrliche Stunden mit Herrn Geuter in der Küche. Der Abend wurde noch viel länger als der erste. Nach dem Erwachen hörte ich von meiner Mutter: Prof. Dr. Nipperdey hatte in den frühen Morgenstunden das Schlachtfeld als Sieger verlassen. Für meinen Vater lautete das Motto nun: Ab nach Kassel! 1956 folgte die Familie. Mein Vater hätte gerne – wie früher – seine praktische Arbeit mit wissenschaftlicher verbunden und einen Lehrauftrag an der Universität zu Köln angenommen. Es hat ihn innerlich getroffen, dass der damals zuständige Minister sich entgegen aller Fürsprachen mit der Zustimmung zurückhielt. Ach, wäre er doch in Köln geblieben! Diese

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Johannes Poelmann

Enttäuschung hat die alsbald folgende Ernennung zum Senatspräsidenten im Jahr 1956 nur teilweise ausgleichen können. Die Pensionierung hat mein Vater nicht mehr erreicht. 1977 verstarb er als Vizepräsident nach einem sehr bewegten und erfüllten Berufs- und Privatleben. Schon früh, nämlich als die Arbeitsgerichtsbarkeit nach Kriegsende als ziemlich junge Institution im Rechtswesen noch etwas „nebenher lief“, hat mein Vater die Frage gestellt: „Haben Entscheidungen im Arbeitsrecht mehrfach nicht für einen weit größeren Teil der Öffentlichkeit Bedeutung als solche des Zivil- und Strafrechts?“ Für ihn war es wohl eher eine rhetorische Frage.

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Das TH–Gericht Kleine Geschichte(n) des Arbeitsgerichts Köln Hartmut Münster Richter am Arbeitsgericht Köln i.R.

Thiele – Theilenberg – Thür drei Namen, drei Direktoren, drei Gerichtsstandorte, drei Epochen – ein halbes Jahrhundert.

I. Direktor Dr. Thiele habe ich nur kurz während meiner Referendarzeit kennengelernt. Das war im Herbst 1969 und auch im Herbst seiner Tätigkeit beim Arbeitsgericht Köln, denn ein Jahr später war bereits sein Nachfolger im Amt. Dem Vernehmen nach muss es sich bei der Zeit seiner Regentschaft um die so genannte gute alte Zeit gehandelt haben. Da soll besondere Harmonie zwischen Richtern und Parteienvertretern bestanden haben. Man erzählte sich früher, dass so manche Vergleichsverhandlung älterer Richter gemütlich im Richterzimmer in trauter Männerrunde bei einer Zigarette und Kaffee stattgefunden habe oder gar, um den juristischen Verstand zu schärfen und zum erfolgreichen Vergleichsabschluss zu kommen, von dem einen oder anderen kurzen Klaren begleitet gewesen sei. Mir fiel damals lediglich auf, dass Herr Dr. Thiele das Zeugnis meines Ausbilders unterschriftlich ausdrücklich mit dem Vermerk „einverstanden“ versehen hatte, ein während meiner gesamten Referen­ darzeit einzigartiger Vorgang.

II. Im September 1971 zum Gerichtsassessor ernannt erhielt ich meine informatorische Ausbildung beim neuen Chef Theilenberg. Da war 63

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nichts mit gemütlichem Plausch der Prozessbeteiligten, sondern stramme und zielstrebige Verhandlungsführung, die auch ohne Kaffee oder geistige Getränke fast immer zum Vergleichsabschluss führte. Seine Vergleichsquote war legendär. Ein Prozessvertreter entschuldigte sein verspätetes Erscheinen in meiner Sitzung einmal mit der Bemerkung, er sei soeben bei der 4. Kammer zum Vergleichsabschluss verurteilt worden. Wie alle Richter versuchte ich natürlich auch, eine hohe Vergleichsquote zu erzielen und es ihm nachzutun. Der Unterschied war aber da. In einem Fall hatten Herr Theilenberg und ich Parallelsachen, die sich nur durch die Person des Klägers unterschieden. Er hatte seine Sache bereits rechtskräftig verglichen. Als ich in der Verhandlung meiner Sache vorschlug, diese auch entsprechend zu vergleichen, erklärte der Vertreter des Arbeitgebers mit einem Lächeln: „Nein, Herr Vorsitzender, von Ihnen hätten wir gerne ein Urteil“. Zur Protokollführung in meiner ersten Sitzung war mir eine nach Art und Umfang eher außergewöhnliche, doch erfahrene Mitarbeiterin zugeteilt. Mit Hinweisen wie „So machen wir das hier nicht“ brachte sie mir erste „Linienkonformität“ in der Abfassung von Protokollen nahe. Sie nahm nur höchst ungern über die Formalitäten hinausgehende Erklärungen auf, obwohl alle damaligen Protokollführerinnen über gute stenografische Kenntnisse verfügen mussten. Später wurde sie übrigens zur Leiterin einer kleinen Schreibkanzlei ernannt und eines ihrer Privilegien bestand darin, über eine eigene Toilette zu verfügen. Protokollführerinnen und andere Mitarbeiterinnen des nichtrichterlichen Dienstes wurden damals noch ganz üblich, je nach familienrechtlichem Status, mit Frau oder Fräulein angesprochen. Das störte niemanden. Ja, ich erinnere mich noch an den Fall einer altersvorgerückten Klägerin, die in selbst verfassten Schriftsätzen ausdrücklich auf ihren Status als Fräulein hinwies und dies auch erforderlichenfalls gynäkologisch beweisen wollte. Das Gericht wollte nicht. Was die technische Ausstattung anlangte, war das Arbeitsgericht Köln in den ersten Jahren meiner richterlichen Tätigkeit im Vergleich zur heutigen Zeit noch die reinste Diaspora. Urteilsentwürfe wurden entweder handschriftlich oder mit der eigenen Schreibmaschine gefertigt. Schreibkräfte waren selig, wenn sie über eine elektrische Schreibmaschine verfügten und sich nicht mehr auf alten Hackbrettern die Finger wund tippen mussten. Urteilsreinschriften fertigte man auf 64

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Schreibmaschinen mit fünf Durchschlägen auf einem pergamentähnlichen dünnen Papier unter Verwendung von Kohlepapierbögen. Da Tippfehler mit Korrekturweiß verbessert werden mussten, sahen die Urteilsreinschriften entsprechend unschön aus. Änderungen, die sich beim Korrekturlesen eventuell noch angeboten hätten, waren ausgeschlossen, weil dies zu Protestgeschrei der Schreibkräfte geführt hätte. Formulare oder etwa auch den Geschäftsverteilungsplan schrieb man auf Matritzen, von denen mit einem handbetriebenen Gerät die erforderlichen Abzüge gefertigt wurden. Erleichterung beim Abfassen der Urteile verschafften die dann eingeführten Diktiergeräte. An deren Einsatz anstelle von Protokollführerinnen in der Sitzung war damals aber noch nicht zu denken. Mit dem Gedanken wurde zwar auch damals schon gespielt. Er stieß aber auf breite Ablehnung. Das ging so weit, das der Direktor die Richter bat, intern eine Verpflichtung zu unterzeichnen, nicht mit Band in die Sitzung zu gehen. Gedacht war dabei in erster Linie daran, die Stellen des nichtrichterlichen Dienstes zu erhalten. Aber auch die meisten Richter mochten nicht auf eine Protokollführerin verzichten. Zu dieser Gruppe gehörte ich auch bis zu meinem Abschied im Februar 2007. Ich kann mich nicht daran erinnern, je mit Band in die Sitzung gegangen zu sein. Bei meiner Einstellung gab es etwa neun Richterstellen. Die Gesetzeslage war vergleichsweise einfach, die Rechtsprechung noch sehr übersichtlich und viel weniger ausgefeilt als heute. Das neue Betriebsverfassungsgesetz kam erst 1972, es gab noch kein Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, also auch keinen PSV, kein Teilzeit- und Befristungsgesetz, keine Abmahnungs- oder Weiterbeschäftigungsprozesse, wesentlich einfacher gestrickte Mutterschutzvorschriften und schon gar keine Regelungen über Erziehungsurlaub. Gleichbehandlung in heutiger Ausgestaltung lag noch in weiter Ferne. Anwälte mussten bei Prozessen mit einem Streitwert bis 300 DM vom Gericht eigens zugelassen werden. Kündigungsschutzverfahren betrafen kaum betriebsbedingte Kündigungen. Die späteren harten Kämpfe beispielsweise um Fragen der Betriebsratsanhörung, Vergleichbarkeit von Arbeitsplätzen, soziale Auswahl, Rechtsnachfolge oder Betriebsänderungen waren damals unvorstellbar. Regelmäßig wurden solche Verfahren mit Abfindungen verglichen, ja, die Prozessparteien brachten die bereits ausgehandelten 65

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Vergleichsinhalte oft genug schon mit in die Sitzungen. Die Akten waren und blieben meistens sehr übersichtlich. Das Erstellen von Schriftsätzen war noch richtige Handarbeit. Vor allem aber gab es noch nicht das Unwesen der Doppel- oder gar Vielfacheinreichungen von Schriftsätzen und deren Einsortierung und damit Aufblähung der Akten, denn es gab – dem Herrn sei Dank – noch keine Faxgeräte. Es war nahezu eine Sensation, als das Gericht den ersten Kopierer bekam, ein nach heutigen Maßstäben steinzeitlich wirkendes Gerät. Ich meine mich daran erinnern zu können, dass es ein gebrauchtes Gerät war und vom Arbeitsgericht Siegburg kam, sicher bin ich da aber nicht mehr. Eine solche hoch komplizierte Technik, bei der mindestens zwei bis drei Bedienelemente einschließlich eines Schlüssels zur Anwendung kamen, überforderte nach Auffassung der Verwaltung des Gerichts natürlich jeden Richter, und es wurden eigens Mitarbeiter des nichtrichterlichen Dienstes in die Bedienung des Apparates eingewiesen. Für Richter streng verboten, die ja im Übrigen das Gerät womöglich auch für nicht dienstliche Zwecke hätten missbrauchen können. Später erhielten die Richter allerdings Schlüssel, mit denen sie den zum Kopieren erforderlichen Schlüssel aus einem verschlossenen Schlüsselkasten entnehmen und den Kopierer benutzen durften, nicht ohne vorher ausgiebig geschult worden zu sein. Das Wunder geschah: Richter zeigten sich in der Lage, Kopien zu fertigen. Die Führung des Gerichts hatte damals eher patriarchalische Strukturen. Das hatte durchaus positive Seiten. Hatte etwa eine Mitarbeiterin Probleme privater Art – seien sie finanzieller oder rechtlicher Art – und wandte sie sich mit diesen an den Direktor, so konnte sie sicher sein, dass er sich wirklich für sie einsetzte und ihr aus der Misere half. Ein Vater lässt eben seine Kinder nicht im Stich. Dieser an sich lobenswerte Fürsorgegedanke hatte auch Einfluss im gerichtlichen Alltag. Richter wurden von einer nicht unerheblichen Anzahl von Angestellten bisweilen eher als Störfaktoren im Betriebsablauf betrachtet. Besonders jüngere Richter hatten schon damals die Eigenart, sich nicht strikt an Vorgaben der Verwaltung halten zu wollen und bestanden auf ihrem Recht der freien Arbeitseinteilung. So gab es zeitweilig einen Konflikt, weil die Richter ohne zeitliche Einschränkungen, etwa zur Mittagszeit, an ihre Dezernatsfächer wollten, die Geschäftsstellenfrauen aber meinten, ihnen stehe auch räumlich 66

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eine ungestörte Mittagspause zu. So wurden die Geschäftsstellen mit ausdrücklicher Billigung der Verwaltung mittags abgeschlossen und die Richter waren ausgesperrt. Wer Sitzung hatte, hatte meistens auch das Nachsehen, denn er kam nicht an sein Dezernat. Folge war, dass man sich die Akten vorher holte und erforderlichenfalls vor die verschlossene Geschäftsstellentür legte. Das Geschrei der Damen und die Empörung des Direktors über solch dreistes Verhalten war groß, sahen sich erstere doch in ihrer Würde verletzt, weil sie die Akten vom Flurboden aufheben sollten. Und die Verwaltung sah das genauso und außerdem die Aktensicherheit nicht mehr gewährleistet. Richter ohne Aufsicht der Geschäftsstellen an ihre Aktenfächer zu lassen, schien zunächst völlig unvorstellbar, offenbar in der Erwartung, dass diese nicht ordentlich mit Akten umgehen und Chaos und Unauffindbarkeit der Akten die Folge sei. Weitere Zugangsprobleme gab es auch insofern, als Richter auch außerhalb der regulären Dienstzeiten und an Wochenenden gerne Zugang zum Gericht gehabt hätten, um eine freie Arbeitszeitgestaltung verwirklichen zu können. Auch dies schien unmöglich, und der Streit darum verbreitete sich bis zum Präsidenten des Landesarbeitsgerichts und zum damals noch zuständigen Arbeitsministerium. Bewerber um Beförderungsstellen wurden in Gesprächen gerne gefragt, ob sie auch Schlüsselprobleme hätten. Von solchen Alltagsquerelen im Spagat zwischen Interessen von Richtern einerseits und Angestellten andererseits einmal abgesehen war es gerade Herr Theilenberg, der durch sein hohes Engagement und seine Großzügigkeit unter der Richterschaft ein Gemeinschaftsgefühl förderte und erzeugte, welches sich bis hin zur Freundschaft bei dieser Gruppe verfestigte und alle Zeitläufte bis heute überstanden hat. Ich möchte mich dafür an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal bei ihm bedanken. Nicht zuletzt seiner Tatkraft ist es auch zu verdanken, dass das Arbeitsgericht, in der Hülchrather Straße sehr beengt untergebracht, im Dezember 1973 in das Haus in der Aduchtstraße mit seinen größeren Räumlichkeiten umziehen konnte. Das war umso notwendiger, als die Zahl der Richterstellen von 1970 bis 1972 von 9 auf 12 angestiegen war. Als Folge der Ölkrise im Herbst 1973 und der daraus resultierende Entlassungswelle stieg die Zahl der Eingänge kräftig an. Es gab zeitweise Eingangszahlen von fast 100 Sachen pro voller Kammer und 67

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Monat, in einigen Monaten sogar darüber. Der Kölner Stadt-Anzeiger berichtete darüber umfänglich in seiner Ausgabe vom 18. Februar 1975. Hinzu kamen etwa 1250 Beschlussverfahren aus dem Hause eines großen Kölner Autoherstellers, da man nach Einführung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 eine systematische Einordnung der Angestellten in leitende und nicht leitende vornahm und darüber in großen Streit mit dem Betriebsrat geriet. Dankenswerterweise einigten sich die Kontrahenten, als sich abzeichnete, dass diese Verfahren gerichtlich auf unabsehbare Zeit nicht würden zu bewältigen sein, da­ rauf, bestimmte Musterverfahren zu betreiben, und schließlich gelang eine weitgehende Gesamtverständigung. Breiten Raum nahmen nun auch Rechtsstreite der drei Kölner Rundfunkanstalten um freie Mitarbeiterschaft bzw. Angestelltenstatus sowie damit häufig zusammenhängende Eingruppierungsklagen ein. Das wurde einigen Prozessvertretern zur Lebensaufgabe und sie entwickelten wohl ganze Strategien hierfür. Ebenso arbeiteten Prozessvertreter und deren Mandanten nun alle denkbaren Streitfragen der betrieblichen Altersversorgung im Verhältnis zum Pensionssicherungsverein (PSV) ab, und die Zeiten der einfachen Prozesse und geringen Urteilszahlen waren endgültig vorbei. Die Zahl der Richterstellen stieg zwar weiter an, durch Abordnungen und anderweitige Ausfälle hinkte die Zahl der tatsächlich vorhandenen Richter dem Bedarf aber stets hinterher. Besonders bemerkenswert war der Anstieg von Stellen, die mit weiblichen Richtern besetzt wurden. Das Konzept gleicher Anteile der Geschlechter an den Richterstellen wurde zügig umgesetzt. Kolleginnen berichteten damals in dem einen oder anderen Fall von anfänglichen Akzeptanzproblemen bei einigen älteren Anwälten. Andererseits war gerade deren Verhalten bei Gericht noch geprägt von formvollendetem Auftreten und ausgezeichneten Umgangsformen. Im Jahre 1982 folgte die Trennung der Kammern Köln vom Landesarbeitsgericht Düsseldorf und das Landesarbeitsgericht Köln war geboren. Sein erster Präsident war Herr Dr. Stahlhacke, und auch beim Landesarbeitsgericht Köln war nun ebenfalls ein Namensphänomen zu beobachten. Präsidenten waren bzw. sind die Herren Dr. Stahlhacke, Dr. Bleistein, Dr. Isenhardt, Dr. vom Stein, alles harte Männer. Einzige Unterbrechung war Herr Dr. Pünnel, aber der blieb in seinem Herzen wohl immer Düsseldorfer. 68

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In den achtziger Jahren erhielt das Arbeitsgericht Köln die ersten Bildschirmschreibmaschinen. Direktor und Angestellten gelang es mit erheblichem Arbeitseinsatz, diese Dinger einigermaßen „ans Laufen“ zu bringen. Der große Renner waren sie nicht, aber immerhin – der Anfang zur elektronischen Datenverarbeitung war gemacht. Ein nicht enden wollendes Thema war der Sitzungskaffee. Ein Teil der Mitarbeiterinnen lehnte es ab, für die Sitzungen Kaffee zu kochen. Dazu mussten teils abenteuerliche Begründungen herhalten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir, dass man jedenfalls für die zur Ausbildung anwesenden Referendare Kaffee nicht mitkochen wollte. Und auch die Frage der Finanzierung spielte immer wieder eine Rolle, besonders, als die Auszahlung der Sitzungsgelder an die ehrenamtlichen Richter nicht mehr bar, sondern per Überweisung erfolgte. Es wurden alle möglichen Modelle ausprobiert, aber irgendwann und irgendwo hakte es immer wieder und erst Herrn Thür gelang letztendlich eine dauerhafte Lösung des Problems durch den richterfinanzierten zentralen Kaffeedienst, wobei wohl auch einige Richter ihren Kaffee selbst zubereiten bzw. zubereiteten.

III. Als Herr Theilenberg im Jahre 1990 in Pension ging, folgte als Direktor Herr Thür bis Frühjahr 2006. Für ihn waren Zugangsmöglichkeiten der Richter außerhalb der Dienstzeiten der Angestellten überhaupt kein Problem. Seither arbeiten Richter bis in den Abend und an Wochenenden im Gericht mit jederzeitiger Zugangsmöglichkeit zu den Akten auf den Geschäftsstellen. Und mir ist kein Fall bekannt, dass es deswegen zu Aktenverlusten gekommen wäre. Seine Dienstzeit beim Arbeitsgericht Köln ist geprägt von Liberalisierung, Erneuerung und technischem Fortschritt. So wurde – dank Initiative und besonderen Einsatzes von Herrn Brüne – der Geschäftsverteilungsplan völlig neu gestaltet, insbesondere die Zuteilung der Akten an die einzelnen Kammer von einem Endziffernsystem auf ein dezimalgerechtes Paketsystem umgestellt. Dies war umso angezeigter, als es mittlerweile durch Teilzeittätigkeiten in zunehmendem Maße schwieriger wurde, eine gerechte Zuteilung mit-

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tels Endziffern zu gewährleisten. Insgesamt erhielt der Geschäftsverteilungsplan eine neue professionelle Systematik. Am 1.1.1996 bezog dann das Arbeitsgericht Köln die noch jetzt benutzten Räumlichkeiten in der Pohligstraße, und es war wiederum der Direktor, der durch sein Engagement gerade an der Verwirklichung dieser Lösung einer einheitlichen Unterbringung ganz wesent­ lichen Anteil hatte und so jedenfalls eine auch angedachte Depen­ dancelösung vermieden wurde. Diese neuen Räumlichkeiten waren einerseits wegen des weiter angestiegenen Platzbedarfs durch Einrichtung weiterer Kammern notwendig geworden, andererseits und insbesondere aber auch wegen des Einzugs der EDV in den Gerichtsalltag. Deren technische Installation wäre in den Räumlichkeiten in der Aduchtstraße wohl nicht ohne weiteres möglich gewesen. Der Weg bis zu einer auf allen Ebenen funktionierenden EDV war steinig und von manchen Widerständen begleitet. Aber sowohl Angestellte wie Richter gewöhnten sich allmählich daran, und ich denke, kaum einer möchte sie heute noch missen. Für jüngere Mitarbeiter auf allen Ebenen ist sie eine Selbstverständlichkeit geworden. Auch der Sitzungsdienst hat sich verändert. Richter gehen heute weitgehend mit Diktiergeräten anstatt mit Protokollführerinnen in die Sitzung. Und die Welt ist übrigens auch nicht untergegangen, als ich gegen Ende meiner Tätigkeit bei Gericht zeitweilig mit einer Kopftuch tragenden muslimischen Protokollführerin in die Sitzung ging.

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Eine Arbeitsplatzbeschreibung – das Arbeitsgericht­Köln aus der Sicht eines „jungen­“ Richters Dr. Sebastian Roloff Richter am Arbeitsgericht, Vorsitzender des Richterrats Arbeitsgericht Köln

V. Die Parteien und ihre Prozessbevollmächtigten­. . 76 VI. Die Ausstattung. . . . . . . . 77 VII. Der Richterrat. . . . . . . . . 78 VIII. Ausblick. . . . . . . . . . . . . . 80

I. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . 71 II. Die Kolleginnen und Kollegen. . . . . . . . . . . . . . . 71 III. Die Justizbeschäftigten und die Rechtspfleger . . . . . . . . 73 IV. Die Arbeit. . . . . . . . . . . . . . 74

I. Einleitung Der Direktor des Arbeitsgerichts Köln hat mich gebeten, einen Beitrag zur Festschrift zu leisten, der die Arbeitssituation und das Arbeitsumfeld beim Arbeitsgericht Köln aus der Sicht eines „jungen“ Richters beleuchten soll. Über die ehrenamtlichen Richter des Arbeitsgerichts Köln hat der Kollege Herr Dr. Fabricius, über die Vergangenheit haben der ehemalige Kollege Herr Münster und Herr Rechtssekretär Fritzsche geschrieben. Ich verweise auf die gelungenen Ausführungen. Der Beitrag verfolgt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und gibt nur die Auffassungen des Verfassers wieder.

II. Die Kolleginnen und Kollegen Sämtliche Richterkollegen1 des Arbeitsgerichts Köln verfügen über ein hohes arbeitsrechtliches Know-how. Bevor sie das Land zu Richtern 1 Ich verwende im weiteren Text nur die männliche Form, um den Text zu vereinfachen. Dabei will ich aber ergänzen, dass derzeit nach Köpfen genau gleich viele Richterinnen und Richter beim Arbeitsgericht Köln tätig sind.

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der Arbeitsgerichtsbarkeit ernannt hat, haben viele als wissenschaftliche Mitarbeiter oder Rechtsanwälte erhebliche Erfahrungen in der Praxis des Arbeitsrechts gesammelt. Viele wurden zudem von namhaften Professoren des Arbeits- oder Prozessrechts promoviert. Zu dieser besonderen fachlichen Qualifikation tritt auch eine menschliche: Der größte Teil der Kollegen arbeitet auf einer Etage, die Bürotüren sind geöffnet und fachliche Fragen werden in spontan gebildeten Kaffeerunden besprochen. Allen Kollegen ist diese abgestimmte richterliche Unabhängigkeit wichtig. Denn ein starkes Argument für die Berufswahl ist natürlich die Tatsache, dass der Arbeitsrichter ab dem ersten Tag seiner Laufbahn als Vorsitzender eines Spruchkörpers – also nicht weisungsgebunden – tätig ist, § 53 Abs. 2 ArbGG. Das Arbeitsgericht Köln verfügt derzeit über 20 Kammern. Nicht alle Kammern sind im vollen Umfang besetzt, da einige Kollegen aufgrund ihrer Verwaltungs- oder Teilzeittätigkeit eine Entlastung bei den Eingängen erhalten. Folglich bestehen unter dem Strich 17 volle Kammern. Drei Kollegen stehen als Proberichter am Beginn ihrer richterlichen Laufbahn. Die Altersstruktur ist gemischt und gleichmäßig auf alle Altersstufen zwischen 31 und 64 Jahren verteilt. Das Arbeitsgericht Köln hat in der Vergangenheit wohl auch wegen einer tatsächlichen oder gefühlten hohen Arbeitsbelastung eine geringe Anziehungskraft auf Richter des Bezirks ausgeübt: Als ich 2004 beim Arbeitsgericht Bonn anfing, raunten mir Kollegen zu, welches Glück ich habe, nicht in Köln anfangen zu müssen. Ich habe die Zeit beim Arbeitsgericht Köln jedoch stets als Bereicherung empfunden. Bei so vielen Richterpersönlichkeiten ist eine gewisse Heterogenität vorgegeben. Fruchtlose Auseinandersetzungen sind jedoch derzeit, auch wegen eines verjüngten Kollegenkreises immer weiter in Auflösung begriffen. Das Arbeitsgericht Köln verfügt über ein besonderes Bonbon für die Kollegen: Seit dem Umzug in das neue Gerichtsgebäude am 1. Januar 1996 dürfen die Mitarbeiter in der Kantine der Gothaer Versicherung gegen einen geringen Aufschlag zu Mittag essen. Auch wenn das Essen manchmal eintönig ist, entschädigt der kollegiale, fachliche und menschliche Austausch.

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III. Die Justizbeschäftigten und die Rechtspfleger Die Regierungsbeschäftigten unterstützen die Richter am Arbeitsgericht Köln sehr. Sie sind stolz darauf, den einen oder anderen Richterkollegen auf die richtige Spur gesetzt zu haben2. Da ist sicher etwas dran: Denn die Abläufe bei Gericht, die Verwaltung der Akten und die Verfügungstechnik sind für einen jungen Richter häufig ein Buch mit sieben Siegeln. Eine erfahrene Geschäftsstellen- oder Kanzleikraft weiß in aller Regel auch ohne Verfügung des Richters, was mit der Akte geschehen soll. Der Verwaltung sei Dank, dass jeder Richter weiterhin mit einer eigenen Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle zusammenarbeiten darf. Die Kanzleikräfte begleiten den Richter leider nicht mehr als Protokollführer in den Sitzungssaal. Hier zeigte sich früher die echte Erfahrung der Regierungsbeschäftigten, wenn sie das Protokoll schon erstellt hatten, bevor der Richter überhaupt ein Wort diktiert hatte. Auch die im Sommer 2006 befragten Anwälte und Verbandsvertreter bemängeln, dass Sitzungsprotokolle nur in Ausnahmefällen direkt im Anschluss an die Sitzung ausgedruckt und übergeben werden. In Zeiten dünn besetzter Geschäftsstellen lässt sich jedoch die Hinzuziehung einer Protokollkraft während einer mehrstündigen Sitzung nicht mehr rechtfertigen, wenn sie in der gleichen Zeit ein Vielfaches an Arbeit auf der Geschäftsstelle erledigen kann. Dass damit § 159 Abs. 1 Satz 2 ZPO leerläuft und der nachdrücklichen Anregung der Anwaltschaft und der Verbandsvertreter nicht nachgekommen werden kann, ist leider hinzunehmen. Die Inspektoren und die Rechtspfleger runden das Bild ab. Fragen der Prozesskostenhilfe und des Kostenrechts werden neben anderen Themen souverän bearbeitet. Nachfragen der Richter werden stets und umfassend beantwortet. Daneben betreuen die Rechtspfleger professionell die Rechtsantragstelle, die ein wichtiges Aushängeschild des Arbeitsgerichts Köln für rechtsuchende Bürger ist.

2 Vgl. Münster, S. 64.

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IV. Die Arbeit Die Arbeit als Arbeitsrichter ist geprägt vom Aktenstudium und vom Verhandeln der Fälle. Im Schnitt erhält eine Kammer des Arbeitsgerichts Köln jeden Monat ungefähr 60 neue Urteils- und zwei neue Beschlussverfahren. Die Kollegen mit einer vollen Kammer führen in der Woche eine Güte- und eine Kammersitzung an unterschiedlichen Tagen durch. In der Gütesitzung verhandelt ein Arbeitsrichter ungefähr 20 Fälle im 10–20-Minuten-Takt, in der Kammersitzung ungefähr 7 Fälle im 30-Minuten-Takt. Diese Terminierung entspricht auch den Wünschen der Anwaltschaft und der Verbandsvertreter, die in der Befragung im Sommer 2006 ganz überwiegend für Gütesachen eine Verhandlungsdauer von 10–15 Minuten und für Kammersachen von 15–30 Minuten für angemessen hielten. Im Vordergrund der arbeitsrichterlichen Tätigkeit steht wie bereits in der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Königlichen Gewerbegerichts Köln hervorgehoben3 die gütliche Erledigung wie sie auch § 57 Abs. 2 ArbGG verlangt. Dieser Aufgabe kommt das Arbeitsgericht Köln nach: So sind im Jahre 2010 von 11.834 vom Arbeitsgericht Köln erledigten Verfahren 6.264, also über 50 %, durch Vergleich beendet worden. Neben der gütlichen Erledigung ist die Beschleunigung der Verfahren eines der obersten Gebote der arbeitsrichterlichen Tätigkeit, §§ 9 Abs. 1, 61a Abs. 2–6, 83 Abs. 1a ArbGG. Inzwischen können die Sitzungsprotokolle zeitnah, also innerhalb weniger Tage an die Parteien versandt werden. Aus meiner Sicht ist unklar, warum diktierte Urteile nicht schneller als innerhalb von wenigen Tagen nach dem Diktat geschrieben dem Richter vorgelegt werden können. Das beklagten auch die im Sommer 2006 befragten Anwälte und Verbandsvertreter, die die Zeit zwischen der Verkündung und Übersendung des Urteils ganz überwiegend als zu lang oder als deutlich zu lang empfanden. Bei 11.834 im Jahr 2010 eingegangenen Urteilsverfahren bedeutet dies für jeden Kollegen 726 neue Verfahren, was ungefähr 60 neue Sachen im Monat sind. Eine schier unvorstellbare Anzahl, bei der Vieles auf der Strecke bleiben muss. 12 % dieser Verfahren mussten im 3 Heinrich Dahmen, Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Königlichen Gewerbegerichts Cöln, 1911, S. 33: „Die erste Pflicht“.

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Jahr 2010 durch streitiges Urteil erledigt werden, insgesamt 1.406. Damit liegt Köln an der Spitze der erstinstanzlichen Gerichte im Bezirk des LAG Köln und wohl auch in ganz Nordrhein-Westfalen. Die vergleichsweise hohe Zahl streitiger Urteile beim Arbeitsgericht Köln wäre empirisch zu untersuchen. Gefühlt ist sie darauf zurückzuführen, dass am Arbeitsgericht Köln viele entscheidungsträchtige Verfahren geführt werden, die Fragen der betrieblichen Altersversorgung oder Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst betreffen. Zudem tritt beim Arbeitsgericht Köln eine bunte Mischung Parteien und Vertreter auf, die aufgrund der Anonymität einer Großstadt weniger geneigt sind, eine gütliche Erledigung eines Verfahrens zu erzielen. Die Wahrscheinlichkeit des Wiedersehens ist anders als bei kleinen Gerichten zu gering. Neben der Sitzungsvorbereitung bleibt da leider nur wenig Zeit, die Begründung der Urteile auf einem hohen Niveau sicherzustellen. Die Fälle zeichnen sich durch eine große Bandbreite rechtlicher und tatsächlicher Probleme aus. Da in Köln viele Betriebe des produzierenden Gewerbes, namhafte Landes- und Bundesbehörden, eine große Anzahl von Geschäften im Einzel- und Großhandel sowie viele Hotels und Gaststätten angesiedelt sind, gibt es an Fällen nichts, was es nicht gibt. Auch hier macht die Mischung den Reiz aus. Daneben darf das Arbeitsgericht Köln als bundesweit örtlich zuständiges Arbeitsgericht nach §§ 48 Abs. 1, 1a Satz 1, 2 Nr. 5 ArbGG die besonders spannenden Fälle gegen den Pensionssicherungsverein verhandeln und auch entscheiden. Der richterliche Arbeitsplatz ist abgesehen vom Straßenlärm eher ruhig. Insbesondere wird das Aktenstudium oder das Absetzen von Urteilen nicht durch übermäßige Anrufe von außen gestört. Die Prozessbevollmächtigten und Parteien respektieren weiterhin, dass der Richter nicht ständig zur telefonischen Verfügung steht. So gaben die im Sommer 2006 befragten Bevollmächtigten an, dass der Bedarf, mit Richtern in Kontakt zu treten, als eher gering eingeschätzt wird. Neben dieser dienstlichen Beanspruchung ist der Freiraum für Nebentätigkeiten eng begrenzt. Dennoch veröffentlichen einige Kollegen in ihrer Freizeit Beiträge in Fachbüchern, Kommentaren und Zeitschriften und beteiligen sich an der wissenschaftlichen Auseinan­ dersetzung. Sie bilden damit ein wichtiges Standbein am Arbeits­ rechtswissenschaftsstandort Köln, gemeinsam mit den renommierten Arbeitsrechtsprofessoren der nahegelegenen Universitäten Köln und 75

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Bonn. Die Einsätze als Vorsitzende einer Einigungsstelle sind überschaubar. Das mag daran liegen, dass ausgeschiedene Richter des Arbeitsgerichts Köln auf diesem Gebiet weiterhin verdienstvoll tätig sind.

V. Die Parteien und ihre Prozessbevollmächtigten Bei einem Großstadtgericht trifft sich eine bunte Vielfalt von Parteien und Prozessbevollmächtigten. Die Parteien haben wie die Stadt auch eine multikulturelle Zusammensetzung. Die Prozessbevollmächtigten stammen überwiegend aus Köln und naher Umgebung. Sie zeichnen sich durch eine hohe Professionalität aus. Insbesondere die Verbandsvertreter, Rechtssekretäre und Fachanwälte bereiten den Sach- und Streitstand hochwertig auf. Für den Richter ist diese Vielfalt vom einzelkämpfenden Anwalt bis hin zum Anwalt aus der Großkanzlei oder Arbeitsrechtsboutique eine echte Herausforderung. Wie der ehemalige Direktor Thür zu seinem Abschied sagte, hält einen das Arbeitsgericht Köln geistig fit. Besondere Erwähnung verdient der Umstand, dass die IG Metall als Einzelgewerkschaft mit zwei Rechtssekretären die Fälle ihrer Mitglieder betreut. Es ist eine Besonderheit, dass neben der DGB Rechtsschutz GmbH eine Einzelgewerkschaft tätig ist. Die Bevollmächtigten sind zudem in großem Stil bereit, das Arbeitsgericht zu entlasten und Verzögerungen hinzunehmen. In Zeiten moderner Kommunikation ist dies nicht selbstverständlich. So hat etwa der Arbeitsrechtsausschuss des Kölner Anwaltvereins die Anregung des Gerichts aufgenommen und seine Mitglieder um weniger Faxko­ pien, weniger Anrufe und die elektronische Übermittlung von Vergleichstexten nach § 278 Abs. 6 ZPO gebeten. Um auch an anderer Stelle auf die Belange der Anwalt- und Richterschaft hinzuweisen, können Rechtsanwaltsfachangestellte und Regierungsbeschäftigte des Arbeitsgerichts an einem Austausch teilnehmen, um den jeweils anderen Arbeitsplatz kennenzulernen. Der Umgang mit den Bevollmächtigten ist zudem ausgesprochen freundlich. So veranstalten der Arbeitsrechtsausschuss des Kölner Anwaltvereins und das Arbeitsgericht Köln jedes Jahr einen Frühjahrsempfang. Neben einem Fachvortrag tauschen sich hier die Prozessbe76

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vollmächtigten und die Richter bei dem einen oder anderen Kölsch nicht nur fachlich aus. So kann Verständnis für die Belastung und Rolle des anderen entstehen und wachsen. Neben dieser Institution findet stets ein Austausch mit den Bevollmächtigten auf der offenen Sitzungssaalebene statt, wenn der Richter die Bibliothek aufsucht und der Anwalt auf den Aufruf seiner Sache wartet.

VI. Die Ausstattung Die technische und sachliche Ausstattung des richterlichen Arbeitsplatzes lässt fast keinen Wunsch offen. Jeder Kollege verfügt über eine Handbibliothek, bestehend aus den Beck-Texten im dtv zum Arbeitsrecht, zum BGB und zur ZPO, dem Erfurter Kommentar, dem Arbeitsrecht Kommentar von Henssler/Willemsen/Kalb, dem Germelmann und dem Palandt, alles stets in neuester Auflage. Hinzu kommt der Zugang zu den Datenbanken von juris und beck-online. Daneben kann sich die Bibliothek des Arbeitsgerichts sehen lassen und bietet die Möglichkeit zur weiteren Vertiefung von Rechtsfragen. Moderne Computer und Flachbildschirme lassen das Herz des modernen Juristen höher schlagen. Digitale Diktiergeräte und Lautsprecher in der Sitzung verblüffen auch den Anwalt aus der Großkanzlei. Die Netzwerke erlauben einen digitalen Zugriff auf sämtliche Urteile und Protokolle sämtlicher Kammern des Arbeitsgerichts Köln der letzten Jahre – ein schier unerschöpflicher Fundus. Alle Information zu einer Akte lassen sich inzwischen digital nachvollziehen. Das Programm heißt treffend „Shark“. Leider ist die private Nutzung der Telefonanlage auch gegen Entgelt ausgeschlossen und der Handyempfang im Gericht miserabel. Dieser Umstand erhöht die Arbeitseffizienz jedoch ungemein. Die Büros müssen als klein und funktional akzeptiert werden. Immerhin hat jeder Richter aktuell ein eigenes Büro und muss es nicht teilen. Inzwischen sind auch alle Büros seit dem Einzug 1996 erstmalig neu angestrichen worden und strahlen jetzt wieder in Weiß. Die Sitzungssäle bestechen durch einen geringen herrschaftlichen Anstrich: Die Richtertheken sind nicht erhöht und die Tische für die Parteien können dem Gericht und dem Gegner zugewandt werden. Das Inventar der Sitzungssäle ist aus der Aduchtstraße übernommen worden, 77

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damit sich die Kollegen im neuen Gebäude nicht allzu fremd fühlen. Durch die 2006 eingebaute Klimaanlage sind die Säle zur Straße auch ohne ohrenbetäubenden Lärm zu benutzen. Dass die Beratungszimmer über keine Heizkörper verfügen, muss als planerischer Unfall bezeichnet werden. Die personelle Ausstattung des Arbeitsgerichts Köln ist im richterlichen Bereich mittlerweile auskömmlich, muss im nicht-richterlichen Bereich aber als eher schlecht bezeichnet werden. Ob dies an einer generellen Unterbesetzung oder an teilweise hohen Abwesenheitszeiten der Beschäftigten liegt, vermag ich nicht zu beurteilen. Die hohe Belastung lässt sich stets an der Erledigungszeit der Verfügungen und Diktate ablesen. Sie hängt m.E. wesentlich damit zusammen, dass die Arbeitsprozesse für die Regierungsbeschäftigten in den letzten Jahren immer stärker technisiert, verdichtet und entfremdet worden sind. Die Mitarbeiter sehen sich einem ständig klingelnden Telefon ausgesetzt – sie fühlen sich teilweise wie in einem Callcenter. Sie müssen eine Vielzahl von Akten und Verfügungen bearbeiten und haben keinen echten Kontakt mehr zu den Prozessen und den prozessführenden Parteien oder Anwälten. Das muss frustrieren! Der zwischenmenschliche Austausch und Kontakt muss auch für die Regierungsbeschäftigten wieder im Vordergrund stehen und an die Stelle eines Schreibstubendienstes treten.

VII. Der Richterrat Der Richterrat beim Arbeitsgericht Köln besteht aus drei Richtern, die Ende 2010 gewählt wurden. Die Themen wiederholen sich in all den Jahren regelmäßig: 1. So ging es immer wieder um die finanzielle Ausstattung der Kaffeekasse und die Bereitstellung des Kaffees, der den gemeinsamen Kaffeegenuss mit den ehrenamtlichen Richtern während der Beratungen ermöglichen soll. 2. Auch der Ort und die Art der Unterbringung des Arbeitsgerichts sind Dauerthemen. Bereits 1988 begrüßte der Richterrat die Unterbringung des Gerichts in der Blumenthalstraße und wehrte sich gegen eine Unterbringung an der Luxemburger Straße. Mehrfach sprach der Richterrat die unzumutbaren Zustände des damaligen Gerichtsgebäu78

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des in der Aduchtstraße an. Insbesondere als im Dezember 1993 ein Teil der abgehängten Decke einstürzte, war der Handlungsbedarf klar. Es kam dann Anfang 1996 zum Umzug des Gerichts in die Pohligstraße, dem jetzigen Gerichtsgebäude. Der Richterrat machte umfassend von seinem Mitbestimmungsrecht zur Gestaltung der Arbeitsplätze Gebrauch. 3. In den 80-er Jahren beschäftigte sich der Richterrat mit den Fragen der Anwesenheitszeiten von Richtern. Wegen der Überlassung von Schlüsseln zum Gerichtsgebäude und den Zimmern der Geschäftsstellen leitete der Richterrat ein Stufenverfahren beim Hauptrichterrat ein, das sich jedoch nach einem Kompromiss mit dem damaligen Direktor erledigte: Die Schlüssel wurden gegen entsprechende Haftungserklärungen übergeben.4 4. Die Diskussion über die Anwesenheit von Protokollkräften in der Sitzung ist ebenfalls ein ständiges Thema gewesen. Auch die zu geringe Personalstärke im richterlichen und nichtrichterlichen Dienst wurde stets, wiederholt und eindringlich thematisiert. 5. Die Zusammenarbeit zwischen Richtern und Geschäftsstellen ist ein weiteres Dauerthema: Vielfach wurden Fragen des Umgangs und der Arbeitsvereinfachung gewälzt. Auch weiterhin versuchen Richterrat und Personalrat durch eine Formularsammlung Arbeitsabläufe zu vereinheitlichen. Ein Arbeitskreis konnte jetzt vier abgestimmte Vordrucke vorschlagen. 6. Auch der Austausch zwischen Präsidium und Richterrat darf als spannend gewertet werden. Regelungen zur Geschäftsverteilung, insbesondere Vertretungsregeln, die Kommunikation von Präsidiumsentscheidungen und ihre Vorbereitung ziehen sich wie ein roter Faden durch die Jahre der Richterratstätigkeit. Inzwischen ist eine erhebliche Beruhigung durch einen fein abgestimmten Geschäftsverteilungsplan eingetreten, der jährlich allenfalls um Kleinigkeiten ergänzt wird und die Zustimmung aller Kollegen genießt. 7. Schließlich taucht auch die Diskussion über die Fristen des § 60 Abs. 4 Satz 2, 3 ArbGG immer wieder auf. Ihre Kontrolle auch zur Leistungsbeurteilung der Richter ist wiederholtes Streitthema zwischen der Verwaltung des LAG und den Richtergremien. Aktuell hat die Auseinandersetzung zur Einführung eines neuen Stempels geführt, 4 Münster, S. 67.

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mit dessen Hilfe erfasst wird, wann ein Urteil diktiert, wann es geschrieben dem Richter vorgelegt und wann es korrigiert und unterschrieben zur Geschäftsstelle gegeben wurde. 8. Auch rechtspolitisch hat sich der Richterrat eingebracht: So schlug er unter anderem 1994 vor, dass für Entfristungsklagen die Frist des § 4 KSchG gelten solle oder dass die Gerichtskosten merklich erhöht werden sollten. Beiden Vorschlägen ist der Gesetzgeber inzwischen nachgekommen. Welches Gewicht den Kölner Vorschlägen zukam, lässt sich nicht mehr nachprüfen. 9. Ein besonderes Schmankerl zum Schluss: 1994 hat der Richterrat dem damaligen Präsidenten zu seinem 50. Geburtstag neben freundlichen Grüßen einen Kaktus geschenkt. Der Präsident hat sich artig bedankt und mitgeteilt, dass der Kaktus stets an einer sichtbaren Stelle stehen werde.

VIII. Ausblick Das Arbeitsgericht Köln kann auf eine reiche Vergangenheit zurückblicken und ist für die Zukunft gerüstet. In Zeiten der Hochkonjunktur, jedoch nach einer herben Wirtschaftskrise bleibt abzuwarten, wohin die Reise geht. Wer weiß, vielleicht erleben die jüngeren Kollegen noch einmal Zeiten wie die, die die älteren Kollegen so schwär­ merisch beschreiben: Als die Eingänge angeblich nur bei der Hälfte der aktuellen Eingänge pro Kammer lagen und damit Zeit und Muße für tiefschürfende Aktenbearbeitung, Verhandlung, Weiterbildung und Sonstiges zur Verfügung stand.

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Nicolai Fabricius und Inge Lohmar

Die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter beim Arbeitsgericht Köln Dr. Nicolai Fabricius Richter am Arbeitsgericht a.d.st.V. d.D.

und Inge Lohmar Regierungsbeschäftigte

I. Es geht nicht ohne die Beisitzer . . . . . . . . . . . . . . . 81 II. Der Weg vom eigenen Arbeitsplatz­an die Richterbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

III. Klassenkampf im Beratungs­ zimmer? . . . . . . . . . . . . . . . 87 IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . 89

I. Es geht nicht ohne die Beisitzer Was wären wir ohne unsere ehrenamtlichen Richterinnen und Richter? Nichts? So schlimm ist es wohl doch noch nicht um die Berufsrichterinnen und -richter, um die Geschäftsstellenmitarbeiterinnen und Beamten bestellt. Es ist aber jedenfalls so, dass die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter aus unserem Arbeitsalltag nicht wegzudenken sind. Für diejenigen im nichtrichterlichen Dienst, die es mit den Beisitzern zu tun haben, sind diese die Fenster nach draußen. Sie frischen den von Aktenbearbeitung geprägten Gerichtsalltag auf: freundliche Menschen aus der realen Welt, die einem auf Augenhöhe begegnen und uns deutlich machen, dass sie gerne zu uns kommen. Für die hauptamtlichen Richterinnen und Richter sind die ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen unverzichtbar. Sie werten die Arbeit an der Rechtsprechung in vielerlei Hinsicht auf. Sie bereichern dabei das Arbeitsgericht auf eine Weise, die anderen Gerichtszweigen nur zu wünschen ist. Gleich in mehreren Funktionen unterstützen sie uns und nehmen uns zuweilen sogar an die Hand: Als Know-howTräger, als Verbindung zur ökonomischen Wirklichkeit, als Autori81

Nicolai Fabricius und Inge Lohmar

tätssteigerung, als Gedankenstütze, als Rechtfertigung, als geduldige Zuhörer, als kritische Beobachter, als kompetente Gesprächspartner und als nette Mitmenschen, mit denen man Interesse und (ja, auch:) Spaß an der richterlichen Tätigkeit teilen kann. Dieser Beitrag soll sich nicht befassen mit den Normen, die die Rechte und Pflichten der Beisitzer regeln. Wen dies interessiert, der mag in den Kommentierungen der §§ 20 ff. ArbGG nachlesen. Der Beitrag soll vielmehr den Menschen gewidmet sein, mit denen wir es hier zu tun haben. Zurzeit sind am Arbeitsgericht Köln 413 ehrenamtliche Richterinnen und Richter tätig. Um ihnen gerecht zu werden, müssten an dieser Stelle eigentlich alle namentlich genannt werden. Dafür reicht aber der Platz nicht. Deshalb beschränken wir uns stellvertretend auf die dienstältesten in der Hoffnung, dass sich keiner zurückgesetzt fühlt: Wolfgang Britz seit dem 1.11.1982, Wolfgang Rasten seit dem 1.2.1983, Alexander Breuer seit dem 1.11.1986, Richard Braun seit dem 1.4.1987, Hans-Jürgen Hengst seit dem 1.3.1990, Georg Josef Gnacke seit dem 1.4.1990, Ingrid Foryta seit dem 1.9.1990, Eugen Sohl seit dem 1.3.1991 und Ewald Hell seit dem 1.4.1992. Diese Aufzählung war chronologisch und nicht nach Arbeitgeber-/Arbeitnehmerseite geordnet. Der Grund für diese kleine formale Inkorrektheit findet sich weiter unten unter der Überschrift „Klassenkampf im Beratungszimmer?“. Dass Berufsrichter alleine nicht in der Lage sind, alle Konflikte aus dem Arbeitsleben sachgerecht zu lösen, wurde schon früh erkannt. Mit Gesetz vom 18.3.1806 wurde in Lyon ein conseil de prud’hommes errichtet, nach dessen Muster später in Köln die arbeitsrechtliche Rechtsprechung aufgenommen wurde. In einer Rede anlässlich der Veröffentlichung des Gesetzes (zitiert nach der Festschrift zum 100jährigen Bestehen des königlichen Gewerbegerichts Cöln) heißt es: „Die zu lösenden Aufgaben erheischen Kenntnisse, welche nur Fabrikanten oder Werkmeister in sich vereinigen können. Sie fordern neben unbeugsamer Strenge auch eine Art von väterlicher Güte, welche die Strenge des Richters mildert, zuweilen auch Nachsicht erlaubt, stets Zutrauen erweckt… Es wird [dem conseil de prud’hommes] eine beinahe häusliche und dennoch feierliche Magistratur anvertraut.“ Was das angeht, scheint sich während der gut 200 vergangenen Jahre nichts geändert zu haben. Vierzehn Jahre später, am 14.2.1820 wurde in 82

Die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter

Köln eine Rede gehalten anlässlich der Neuwahl der Mitglieder zum Rat der Gewerbeverständigen (ebenfalls zitiert nach der o.g. Festschrift). Dort heißt es: „… Es lässt sich leicht begreifen, dass ein solcher Wirkungskreis nur Männern anvertraut werden mag, die mit dem besten Leutmut tiefe Sachkenntnisse verbinden und die Tugenden eines wahren Familienvaters und Versöhners bei Zwisten eigen haben …“. Nun – es zeigt sich, dass in den vergangenen 200 Jahren dann doch die eine oder andere sozialpolitische Entwicklung die Verhältnisse aufs richtige Gleis gesetzt hat: Im Jahre 2011 erreichte der Anteil der Frauen unter den Beisitzern einen Wert von 30 % – immerhin – wir sind ja erst am Anfang des dritten Jahrtausends. Auch in einer anderen Beziehung spiegelt die Auswahl der 413 Menschen noch nicht vollständig diejenigen Verhältnisse wider, wie wir sie in den Unternehmen vorfinden: Gerade einmal zwei der 413 Namen lassen den Rückschluss auf einen Migrationshintergrund zu. Hier muss noch einiges geschehen, wenn wir weiterhin für uns beanspruchen wollen, wir hätten durch den Gedankenaustausch mit unseren ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern eine hinreichend belastbare Verbindung zur betrieblichen Wirklichkeit. Jedenfalls die vertretenen Berufe und Betriebe spiegeln die Vielfalt der Kölner Unternehmen wider und zeigen im Vergleich zum Anfang des 20. Jahrhunderts, wie sehr sich das Wirtschaftsleben der Stadt entwickelt hat. Um die Jahrhundertwende finden sich unter den Beisitzern Berufe wie Pumpenmacher, Rotgerber, Steindrucker, Gelbgießer, Zigarrenmacher, Hutmachergeselle, Fuhrmann, Hafenarbeiter, Bauhülfsarbeiter sowie jede Menge von Fabrikanten: Stärkefabrikant, Kattunfabrikant, Tapetenfabrikant, Seidenfabrikant, Tabakfabrikant etc. oder eben einfach nur „Fabrikant“. Heute herrscht auf der Arbeitgeberliste die Berufsbezeichnung „Personalleiter/in“ vor, es finden sich aber auch Elektromeister, Schornsteinfegermeister, Malermeister, Augenoptikermeister, Fleischer, Tischler, Bäckermeister, Goldschmiedemeister. Erst die Berufsbezeichnungen auf der Arbeitnehmerliste und die dort zu findende Benennung der Arbeitgeberunternehmen zeigt vollständig die Vielfalt der von den ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen repräsentierten Wirtschaftszweige. Der Dienstleistungsbereich ist hier besonders stark vertreten­: Verwaltungen jeder Art, Versicherungen, Banken, Informatikdienstleistungen, Krankenhäuser und allgemein Betriebe des Ge83

Nicolai Fabricius und Inge Lohmar

sundheitswesens, Energieversorger, Gebäudereinigungsunternehmen sowie Wach- und Sicherheitsunternehmen. Im Metallbereich finden sich Unternehmen, die sich mit Kabelproduktion befassen, mit Maschinenbau und mit Autobau (einschließlich der Zulieferer). Im Bereich Handel kommen viele ehrenamtliche Richterinnen und Richter aus Unternehmen des Einzelhandels, nur wenige aus solchen des Großhandels. In der Dom-, Messe- und Tourismusstadt Köln zeigt auch der Hotel- und Gaststättenbereich große Präsenz. Natürlich sind gleichfalls Unternehmen der Chemieindustrie und der Bauwirtschaft vertreten. Vollständigkeit nimmt diese Aufzählung selbstredend nicht für sich in Anspruch. Da sich die Berufsbezeichnungen in der Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des königlichen Gewerbegerichts so schön lesen, sollen auch hier einige genannt werden. Vielleicht findet in 100 Jahren ein Leser gefallen daran. Es gibt zunächst immer mehr fremdsprachliche Berufsbezeichnungen wie Infrastructure Analyst, Senior System Engineer, Service Manager oder Supporter. Massenhaft finden sich die Berufsbezeichnungen kaufmännischer Angestellter und technischer Angestellter. Stellvertretend für alle anderen soll hier noch eine kleine Auswahl benannt werden: Sekretärin, Zahnarzthelferin, Reinigungskraft, Fachkocharbeiterin, Probenzieher, Hotelfachmann, Cheffahrer, Fluggerätemechaniker, Flugdatenbearbeiter, Fluglotsin, HochdruckRohrschlosser, Reprofotograf, Straßenbahnfahrer, Zugchef. Bei dieser Vielfalt stellt sich die Frage, was diese Menschen von ihrem Arbeitsplatz an den Richtertisch geführt hat; wie wird man eigentlich ehrenamtlicher Richter und wie wird man der einzelnen Verhandlung zugeteilt?

II. Der Weg vom eigenen Arbeitsplatz an die Richterbank Wie versprochen, sollen hier nicht die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 20 ff. ArbGG heruntergebetet oder gar kommentiert werden. Ein paar Eigenschaften sollen aber doch benannt werden, die vorliegen müssen, damit jemand überhaupt den Weg vom eigenen Arbeitsplatz zur Kammersitzung antreten kann: Man muss Arbeitgeber oder Arbeitnehmer sein (auch Arbeitslose); man muss das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag haben; das 25. Lebensjahr muss vollendet sein; 84

Die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter

man sollte nicht in Vermögensverfall geraten sein; man muss die Befähigung zur Bekleidung öffentlicher Ämter haben; es darf keine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten vorliegen (nach Kölner Maßstäben also: „keine schweren Jungs!“; in der tatsächlichen Umsetzung dieser Voraussetzung werden aber nur Führungszeugnisse ohne jeden Eintrag akzeptiert). Die Mitarbeiter des Arbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts kommen als Beisitzer nicht in Frage. Diejenigen, die am Landesarbeitsgericht Beisitzer werden wollen, müssen weitere Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen mindestens 30 Jahre alt sein und sie müssen bereits auf mindestens fünf Jahre einer Tätigkeit als ehrenamtliche/r Richter/in beim Arbeitsgericht zurückschauen. Seit dem Jahre 2001 sind die Präsidentinnen und Präsidenten der Landesarbeitsgerichte in NRW zuständig für die Ernennung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter bei den Gerichten der Arbeitsgerichtsbarkeit, jeweils für ihren Geschäftsbereich. Zur Bündelung der im Zusammenhang mit der Berufung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter anfallenden Verwaltungsaufgaben ist bei dem Landes­ arbeitsgericht Düsseldorf eine Agentur gebildet worden. Die näheren Einzelheiten ergeben sich aus der RV d. JM vom 8.11.2001 (7650 – I A. 145). Die Agentur trägt die Bezeichnung „Geschäftsstelle für die Berufung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter in der Arbeitsgerichtsbarkeit NRW“. Sie führt die Personalakten der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter einschließlich der Registratur; sie führt die Verzeichnisse der vorschlagsberechtigten Stellen; sie führt das Verzeichnis über die quotenmäßige Berücksichtigung der vorschlagsberechtigten Stellen bei den Arbeitsgerichten und den Landesarbeitsgerichten. Es werden die Berufungsentscheidungen vorbereitet und alle übrigen in diesem Zusammenhang anfallenden Verwaltungsaufgaben erledigt. Wer interessiert ist, sich ehrenamtlich an der Arbeitsrechtsprechung in Nordrhein-Westfalen zu beteiligen, die persönlichen Voraussetzungen erfüllt und nicht ohnehin bereits von einer vorschlagsberechtigten Stelle angesprochen worden ist, sollte sich also zunächst an eine örtliche Arbeitnehmer- oder Arbeitgebervereinigung wenden, die vorschlagsberechtigt ist. Welche dies zurzeit sind, kann bei der Agentur beim Landearbeitsgericht Düsseldorf erfragt werden. Wichtig ist, dass man seine vorschlagsberechtigte Stelle von sich überzeugt. Die weite85

Nicolai Fabricius und Inge Lohmar

ren Hürden sind weniger hoch. „Ewige Wartelisten“ existieren nicht und die (insbesondere altersbedingte) Fluktuation ist recht hoch. Es ist sodann die Aufgabe des Präsidenten, die ehrenamtliche Richterin bzw. den ehrenamtlichen Richter zu ernennen. Der echte Startschuss, die Vereidigung, findet in der ersten öffentlichen Sitzung statt. Das kaiserliche Dekret vom 11.6.1811 sah den folgenden Text vor: „Ich schwöre Gehorsam den Gesetzen, Treue dem Kaiser und verspreche, mein Amt mit Eifer und Redlichkeit auszuüben.“ Hier hat sich auch nicht viel geändert, nur der Kaiser und der Eifer wurden gestrichen. Der heute vorgesehene Text lautet gemäß § 2 LRiG: „Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, getreu der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe.“ Hierzu erhalten die ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen eine Belehrung, dass sie die Glaubensformel weglassen dürfen und dass sie ein entsprechendes Gelöbnis sprechen können, wenn ihnen ihr Glaube den Eid verbietet. Es passiert hin und wieder, dass diejenigen, die noch zuvor sehr überzeugt geäußert hatten, sie würden den letzten Halbsatz weglassen, sich in der Situation der Vereidigung beim Ablesen der Eidesformel dann aber doch von Gott helfen lassen. Sie werden dann von uns getröstet: Schaden tut es bestimmt nicht. Mit ihrer Ernennung gelangen die „Neuen“ auf die Listen der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter beim Arbeitsgericht Köln. Von da ab werden sie von Frau Lohmar und ihrer Stellvertreterin Frau Kruschke betreut. Ein Computerprogramm hilft bei der Zuteilung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter zu den einzelnen Sitzungen nach den Regelungen des richterlichen Geschäftsverteilungsplanes und damit bei der Gewährleistung des gesetzlichen Richters. Bei kurzfristigen Verhinderungen greift das Programm auf eine Hilfsliste zurück. Hier finden sich Kolleginnen und Kollegen mit einer kurzen Anreise, die sich zu Noteinsätzen bereit erklärt haben. Der Ausgleich von Fahrtkosten, Parkhauskosten und Verdienstausfall werden beim Arbeitsgericht Köln von Herrn Mayer und Herrn Meerkamp erledigt. In deren Büros stehen zwei Sparschweine. Diese Sparschweine sind der Inbegriff unseres running gags: Wir befinden uns hier im öffentlichen Dienst. Für alle Anschaffungen, also auch für den Einkauf von 86

Die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter

Nahrungsmitteln, gilt öffentliches Haushaltsrecht. Während unsere Beisitzer in ihren Unternehmen ihren Gästen teilweise frischen Obst­ salat anbieten, fehlt es hier am Gericht an einem Haushaltstitel für den Beisitzer-Kaffee. Das Geld muss also bei den hauptamtlichen und den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern des Arbeitsgerichts gesammelt werden. Das ist alles ein bisschen peinlich, genauso peinlich wie die Tatsache, dass der Beisitzer-Kaffee am Arbeitsgericht Köln (noch im vergangenen Jahrhundert) zu einem Vorgang im Ministerbüro geführt hat. Das damalige Ansinnen wurde übrigens abschlägig beschieden unter Hinweis auf den Dienstweg. Wir sind dem Steuerzahler und damit der Sparsamkeit verpflichtet. Das verstehen auch unsere ehrenamtlichen Richterinnen und Richter und tragen langmütig mit ihrem Kleingeld zur Finanzierung des Kaffees bei. Wir arbeiten hart daran, die Qualität des Kaffees dem Maß der Großzügigkeit anzunähern.

III. Klassenkampf im Beratungszimmer? Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Klassenkampf findet nicht statt. Es stellt kein Verstoß gegen das Beratungsgeheimnis dar, wenn an dieser Stelle mitgeteilt wird, dass in aller Regel im Beratungszimmer kollegiales Einvernehmen herrscht. Meistens wird der hauptamtlichen Richterin oder dem hauptamtlichen Richter gar nicht spontan deutlich, wer eigentlich zu welcher Seite gehört. Bei über 400 ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern ist es den Vorsitzenden nicht möglich, alle zu kennen oder auch nur sicher sagen zu können, ob man mit dieser konkreten Kollegin oder diesem konkreten Kollegen schon mal „gesessen“ hat. Oft hilft ein Blick auf das Entschädigungsformular mit den persönlichen Daten. Äußerlichkeiten helfen einem jedenfalls nicht weiter. Der Arbeitnehmervertreter kommt in aller Regel nicht im Blaumann zur Sitzung und hat kein ölverschmiertes Gesicht und der Arbeitgebervertreter erscheint auch nicht im dreiteiligen Nadelstreifenanzug, er hat keine Melone auf dem Kopf und raucht keine Zigarre. Diejenigen unter den hauptamtlichen Richterinnen und Richtern, die Besuchergruppen vor und nach der Verhandlung schulen, haben besonderen Spaß an dem Ratespiel „Wer ist wer?“. Fast nie bildet sich eine deutlich Mehrheit in der Besuchergruppe. Viele Beobachter glauben, sie könnten für die Identifikation der Beisitzer aus deren Körper87

Nicolai Fabricius und Inge Lohmar

sprache oder gar aus dem Inhalt von Nachfragen während der Sitzung Schlüsse ziehen. Das ist ein Irrweg. Oft geht nämlich die jeweilige ehrenamtliche Richterin oder der ehrenamtliche Richter mit „ihrer/seiner“ Partei härter ins Gericht als mit der anderen. Oft fühlt man regelrecht die Erschütterung der Arbeitgeberbeisitzerinnen und -beisitzer, „wie man so mit seinen Beschäftigten umgehen kann“, „wie man so wirtschaften kann“, „wie man so abrechnen kann“, während die Arbeitnehmerbeisitzerin oder der -beisitzer ruhig bleibt und meint, so sei halt das Leben. Umgekehrt zeigt so manche Arbeitnehmerbeisitzerin oder -beisitzer Entsetzen über die „Anspruchshaltung“ einiger Kläger, während die Arbeitgeberkollegin oder -kollege gewohnt ist, genau diesen Ansprüchen seiner Arbeitnehmer im eigenen Unternehmen gerecht zu werden. Es hilft also alles nichts, es sei denn man kennt das Geheimnis der Sitzordnung. Uns ist kein Gesetz oder auch nur ein Erlass bekannt, woraus sich die Sitzordnung auf der Richterbank des Arbeitsgerichts ergeben könnte. Wer uns da weiterhelfen kann, wird in der Zweitauflage dieser Festschrift mit einer Fußnote belohnt. Tatsache ist aber, dass sich unsere ehrenamtlichen Richterinnen und Richter immer (meistens) gleich setzen: Die Arbeitnehmerbeisitzer links von den hauptamtlichen Richterinnen und Richtern, die Arbeitgeberkollegin oder der -kollege rechts. Das hat wohl weniger mit politischer Ausrichtung zu tun, als vielmehr mit der Tatsache, das die links sitzenden Kläger systembedingt meistens die Arbeitnehmer sind und die rechtssitzenden Beklagten die Arbeitgeber. Die Beisitzer sitzen mithin „ihrer“ Partei gegenüber. Für die Parteien mag es manchmal geheimnisvoll erscheinen, wie lange oder wie kurz die Kammer im Beratungszimmer zur Vorberatung verbleibt. Die meisten Vorurteile diesbezüglich treffen nicht zu. Überaschend kurze Vorberatungen sind in aller Regel auf die Tatsache zurückzuführen, dass bereits vor Beginn des Sitzungstages der Fall ausführlich erörtert worden ist. Überraschend lange Vorberatungen können unterschiedliche Gründe haben. Häufig finden sich im Fall Rechtsfragen, die die Parteien bisher noch nicht gesehen oder zumindest schriftsätzlich noch nicht angesprochen haben. Häufig ist die Vermittlung des Sachverhaltes aufwendiger, als die mit dem Fall vertraute Partei vermutet. Sicher können sich die Parteien jedenfalls sein, dass ihr Fall mit großem Ernst und tatsächlich „nach bestem Wissen und

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Die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter

Gewissen“ behandelt wird. Natürlich wird „Kaffee getrunken“, dies aber genauso natürlich nicht als Selbstzweck. Wie eingangs schon deutlich gemacht, kann von Klassenkampf im Beratungszimmer keine Rede sein. Hier zeigt sich das gleiche Phänomen wie beim dargestellten Verhalten während der Verhandlung. Besonders deutlich wird dies bei der Behandlung von verhaltensbedingten oder gar fristlosen Kündigungen, wenn sich die hauptamtliche Richterin oder der hauptamtliche Richter die Freiheit (oder die Blöße?) erlaubt, den Beisitzern zunächst nur den blanken Sachverhalt darzustellen, ohne ein rechtliches Votum abzugeben, ohne also auf die von der Rechtsprechung entwickelten Unterschiede zwischen „Bienenstich“ und „Emmely“, zwischen Arbeitszeitbetrug und Arbeitsbummelei, zwischen Spesenbetrug und Rechenfehler, zwischen DuzfreundBeleidigung und Vorgesetzten-Verunglimpfung einzugehen. Es kommt durchaus vor, dass es in solchen Situationen die Arbeitnehmerseite ist, die spontan äußert „wer so etwas macht, der will ja wohl nicht mehr“, während es die Arbeitgeberbeisitzerin oder der Arbeitgeberbeisitzer ist, die oder der spontan erwidert „wieso? Das macht doch jeder“. In dieser zugespitzten Form passiert dies natürlich selten, aber es passiert. Die Zusammenarbeit mit den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern scheint nicht nur eine Einbahnstraße zu sein dergestalt, dass es nur das Arbeitsgericht wäre, das von der Zusammenarbeit profitiert. Immer wieder bekommen wir gesagt, man habe heute wieder „viel gelernt“. Dabei hoffen wir natürlich, keinen ironischen Unterton zu hören. Das Erstaunen lässt einen aber verstummen, wenn ein Malermeister (Eingeweihte wissen, von wem hier die Rede ist) kurz die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtssprechung zur doppeltratierlichen Kürzung von Betriebsrentenanwartschaften referiert. Es scheint hier um eine Situation zu gehen, die von gegenseitigem Gewinnen geprägt ist.

IV. Ausblick Anlass dieser Festschrift ist das 200-jährige Bestehen der Arbeitsrechtssprechung in Köln. In diesen vergangenen 200 Jahren zeigte sich die herausragende Bedeutung der ehrenamtlichen Richterinnen und 89

Nicolai Fabricius und Inge Lohmar

Richter aus dem Wirtschaftsleben dieser Stadt für die Qualität der Rechtsprechung. Damit schauen wir auf eine gute Tradition im besten Sinne zurück. Aus heutiger Perspektive ist schwer vorstellbar, dass bei den nächsten Jubiläen, also in 50 oder 100 Jahren, eine Arbeitsgerichtsbarkeit existiert, die ohne ehrenamtliche Richterinnen und Richter auskommen könnte. Mit Spannung dürfen wir jedenfalls erwarten, mit welchen Berufen wir es dann zu tun haben werden: Gen-Designer? Cyber-Controller? Mond-Steward? oder nach wie vor „Cheffahrer“, dafür aber in chinesischen Schriftzeichen geschrieben? Wir werden sehen. Bis dahin vielen Dank an unsere ehrenamtlichen Richterinnen und Richter!

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Die Kölner Arbeitsgerichtsgebäude Dr. Martin Lützeler Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht CMS Hasche Sigle, Köln VI. Moderne Architektur: Hülchrather­Straße 17–23. 120 VII. Gründerzeitbau: Aducht­ straße 7 . . . . . . . . . . . . . . 126 VIII. Heute: Pohligstraße 9 . . . 131 IX. Ausblick. . . . . . . . . . . . . . 134

I. Das Arbeitsgericht Köln. . . 91 II. Vergessene Vergangenheit . . 94 III. Der Beginn: Quatermarkt 1–3 . . . . . . . . . . . . . 95 IV. Nachkrieg: Justizgebäude Appell­hofplatz. . . . . . . . . . 109 V. Konsolidierung: Behörden­ haus Blumenthalstraße 33. . 115

I. Das Arbeitsgericht Köln Das Arbeitsgericht Köln, das größte Arbeitsgericht Nordrhein-West­ falens, befindet sich seit dem Jahr 1996 in der Pohligstraße 9 in KölnZollstock zwischen Bahndamm, Autohäusern und Versicherungsgebäuden.1 Die Wenigsten werden das Gebäude beschreiben können. Das Arbeitsgericht sitzt im Gebäuderiegel zur Pohligstraße. Dessen Erdgeschoss wirkt wie ein Fundament, darin nur schmale Fenster wie Schießscharten gruppiert. Die Fassade ist mit Naturstein verkleidet. Die Fenster im ersten Obergeschoss reichen bis zum Boden, sind im unteren Teil aber undurchsichtig. An der Straßenecke zur Berlin-Kölnischen-Allee, die nach dem Bauherrn benannt wurde, mündet die Fassade in einen gläsern wirkenden Turm, der ein wenig zurückversetzt mit hervorkragendem Blendschutz gekrönt ist. Das Parkhaus ist an seiner Stirnseite zur Pohligstraße mit Aluminiumplatten abgesetzt. Darunter liegt das stillgelegte „Café JuS“, in dem früher die Raucher standen. Jetzt ist es vergittert und verstaubt. Über dem ebenerdigen, zurückversetzten Eingang ist der Schriftzug „Arbeitsgericht“ mit einem hochglanzpolierten Landeswappen angebracht. Rechts steht der obligatorische Aschenbecher. Das Gebäude ist 1 Der Verfasser hat das Gerichtsgebäude Pohligstraße im Dezember 2010 mit zahlreichen Ansichten beschrieben, www-cmshs-bloggt.de/archives/2448.

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Martin Lützeler

Das Arbeitsgericht heute: klare Strukturen aus Granit, Glas und Metall, der Eingang versteckt sich tief unten im Fundament (Lützeler)

Die Hofseite: unten die Erweiterung für die Sitzungssäle, oben Geschäftsstellen und Richterzimmer (Lützeler)

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Die Kölner Arbeitsgerichtsgebäude

schlicht gehalten, so dass die Besucher das weiß gestrichene Treppenhaus ohne einen weiteren Blick bis zur 1. Etage, in der sich die Sitzungssäle befinden, hinaufsteigen. Dabei muten die mit grauem Stein belegten Treppen im Zusammenspiel mit dem weiß lackierten Geländer aus filigranen Streben und poliertem Handlauf bauhäus­lerisch und leicht an. Je weiter nach oben der Besucher kommt, desto lichter wird es im Treppenhaus, große Fenster geben den Blick zum Innenhof frei, der vorletzte Treppenabsatz wurde mit einem großformatigen Gemälde geschmückt. Der Wartebereich vor den Verhandlungssälen entspricht den üblichen Vorstellungen von Behördenbau und Wartezone, der helle Kunststoffboden ist mit blauen und grauen Sprenkeln versehen und wird von einem mittelblauen Streifen zur Wand abgesetzt. Hier hat vermutlich der Wunsch nach Farbe den Ausschlag gegeben. Als Sitzgelegenheiten finden sich schlichte graue Plastikstuhlwannen in Sitzreihen, die ein wenig an Verner Panton erinnern, aber auch im öffentlichen Nahverkehr eingesetzt sein könnten. Im großen Teil des Wartebereichs blicken die deutschen Bundespräsidenten, der letzte fehlt derzeit noch, von der Wand auf eine kleine Spielecke mit hölzernem Tisch und Stuhl und Schaukelpferd. Die Kindermöbel setzen einen sichtbaren Kon­ trast. Wären da nicht die Kunstbäume mit Plastikblättern, die in Blumenkübeln auf dem Flur stehen, könnte man für einen kurzen Moment meinen, dass man sich in einer Installation befindet. Die Sitzungssäle entsprechen der schlichten Sachlichkeit des Gebäudes. Grauer Teppichboden und schwarz gepolstertes Mobiliar stehen vor gemaserten Holztischen. Die Richterbank ist der Blickpunkt eines jeden Raumes. Die fast schon altertümlichen Schwanenhalsmikrofone auf den Richtertischen werden heute vom Zubehör der elektronischen Diktiergeräte verdrängt, die Arbeitsplätze für die Protokollführung sind verwaist. Als habe man eine optische Trennung zwischen Warteund Verhandlungsbereich vollziehen wollen, sind die Stühle für die Zuschauer in den Sälen braun. Zur Pohligstraße verhindert der Straßenlärm, dass im Sommer zur Kühlung oder Lüftung die Fenster geöffnet werden. Die Sitzungssäle zum Innenhof geben den Blick frei auf eine kleine Rasenfläche, ein Baumareal und Pflanzenranken, die sich urwaldähnlich an den offenen Nischen des Parkhauses hochziehen. Das Arbeitsgericht ist ein Zweckbau, der Funktion untergeordnet und Repräsentation zurückstellend. Dass mag daran liegen, dass die 93

Martin Lützeler

Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland so jung und funktional ist, dass man ihr keine eindrucksvollen Prunkbauten, keine Justizpaläste gewidmet hat.

II. Vergessene Vergangenheit Die Arbeitsgerichte wurden durch das Arbeitsgerichtsgesetz vom 23. Dezember 19262 als selbständige staatliche Gerichte in der I. In­ stanz mit Wirkung zum 1. Juli 1927 eingerichtet. Auch Köln bekam sein Arbeitsgericht. Wo war es seitdem untergebracht? Die beim Arbeitsgericht heute vorhandenen Generalakten geben wenig Aufschluss über diese fast 85 Jahre. Die Erinnerung aktiver und inaktiver Richter, die schon in den früheren Stationen tätig waren, reicht einige Jahre zurück. Aber was war davor? Ohne den für den Ausgangspunkt dieser Recherchen maßgeblichen Hinweis, nämlich auf Greven‘s Adressbücher,3 wäre dieser Beitrag nicht zustande gekommen. Die Adressbücher waren Anfang des 20. Jahrhunderts keine Telefon-, sondern Einwohnerverzeichnisse. In ihnen ließ sich ablesen, wo das Arbeitsgericht am 1. Juli 1927 eingerichtet wurde und wo es seitdem untergebracht war. Die anschließende Recherche umfasste zahlreiche Gespräche und Ortstermine mit Eigentümern, Vermietern und Mietern, Verwaltern und Architekten, Sichtungen des Bestands des Rheinischen Bildarchivs und des Landesarchivs NRW,4 Archivbesuche und die Aktenrecherche. Mein Dank gilt all denen, die mich mit ihren Hinweisen, Erläuterungen, Erinnerungen und Unterlagen unterstützt haben.5 Es war faszinierend bei 2 RGBl. I, S. 507; Landesarbeitsgerichte als Berufungsinstanz und Reichsarbeitsgericht als Revisionsinstanz waren den Landgerichten sowie dem Reichsarbeitsgericht angegliedert, Linsenmaier, Die Arbeitsgerichtsbarkeit, www.bundesarbeitsgericht.de/All­gemeines/Ge­schichte.html. 3 In der Stadtbücherei Köln sind – anders als beim Greven‘s Verlag – die Originale der Adressbücher noch heute einsehbar. 4 Unter www.museenkoeln.de/Rheinisches-Bildarchiv/ und www.archive.nrw. de. 5 Hierbei seien neben vielen anderen Herr Dr. Peter Heinz Lützeler, Rechtsanwalt, Köln, der Direktor des Arbeitsgerichts Dr. Hans Jörg Gäntgen und die Richterinnen am Arbeitsgericht Frau Marlies Schmitz-DuMont und Frau Dr. Anne-Babette Goebel, Herr Werner Heinen, Architekturhistoriker der

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Die Kölner Arbeitsgerichtsgebäude

Gesprächen, beim Blättern durch die Akten der Geschichte des Arbeitsgerichts auf die Spur zu kommen. Dieser Beitrag ist das Ergebnis:

III. Der Beginn: Quatermarkt 1–3 Das Arbeitsgericht Köln nahm zum 1. Juli 1927 seine Arbeit auf. Wer das Gerichtsgebäude sucht, wird enttäuscht. Heute befindet sich dort neben einem Neubau nur ein Parkplatz.6 Das Gericht schloss sich einer langjährigen Tradition an und übernahm die Räume, in denen schon das Gewerbe- und Kaufmannsgericht7 untergebracht war. Die Adresse: Quatermarkt 18, gegenüber der westlichen Schmalseite des Gürzenichs. Diese Lage ist der Grund, dass das Gebäude des Arbeitsgerichts überhaupt auf Bildern festgehalten wurde, wenn auch nur am Rande. GAG, Köln, Herr Fred Meurer, Firma Schumacher Metall, Rommerskirchen, Herr Karl Friedrich Wiek, Rechtsanwalt, Köln, Frau Beatrice BraunLorenz, Lorenz Hausverwaltung, Starnberg, Herr Sven Blau und Herr Gerd Mrohs von KSP Jürgen Engel Architekten, Köln, Herr Kaspar Kraemer, Architekt, Köln, Herr Manfred Schneider, Gothaer Versicherung, Köln, Herr Joachim Schmitz und Herr Kristian Kapitza, Katasteramt Köln, Herr HansGeorg Wahl, Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Düsseldorf sowie der Präsident des Landesarbeitsgerichts Köln, Dr. Jürgen vom Stein und der Präsident des Verwaltungsgerichts Köln, Dr. Joachim Arntz genannt. 6 Jüngst wurde über Pläne einer neuen Bebauung im Rahmen des Masterplans berichtet, Kölnische Rundschau 22.7.2011, S. 29. 7 Das Königliche Gewerbe- und Kaufmannsgericht zog 1910 an die Adresse Quatermarkt 1. An dieser Stelle hatte sich seit Mitte des 19. Jhdts. die Höhere Bürgerschule befunden. Für die Adresse sind seit 1232 Gebäude bekannt, vgl. Keussen, Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, Bonn 1919, S. 175. 8 Greven´s Adressbuch des Jahrgangs 1927 enthält noch keinen Eintrag zum Arbeitsgericht. Dies ist verständlich, weil das Adressbuch im Vorjahr erstellt wurde. Der erste Eintrag des Kölner Arbeitsgerichts befindet sich daher im Adressbuch für das Jahr 1928. Das Arbeitsgericht übernahm die TelefonNr. 4332, die das damals noch königliche Gewerbe- und Kaufmannsgericht Köln bereits seit 1906 führte. Die Zahl der Telefonanschlüsse in Köln machte 1928 die Verteilung auf mehrere Fernsprechämter notwendig, so dass das Gericht 1928 über das Amt Anno unter 4332, ab 1930 unter der Nr. 224332 und ab 1931 unter der zusätzlichen Telefon-Nr. 224337 erreichbar war.

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Martin Lützeler

So findet sich das Arbeitsgericht auf den Köln-Bildern August Sanders aus den dreißiger Jahren9 ebenso wieder wie auf anderen zeitgenössischen Fotografien des Kölner Gürzenichs oder des gegenüberliegenden Stadthauses.10 Die beiden städtischen Gebäude Quatermarkt 1 und 3 waren schmucke Ziegelhäuser mit jeweils drei Geschossen und damit alles andere als die monumentalen Justizpaläste der Zeit.11 Das Gebäude Quatermarkt 1 hatte einen L-förmigen Grundriss. Hinter dem Haupthaus mit seiner symmetrischen Fassade lag rechts ein weiterer Trakt.12 Neben dem zentralen Eingangsportal, das von einem Gesims gekrönt war, befanden sich jeweils vier zweiflügelige Sprossenfenster, in den weiteren Etagen insgesamt neun Fenster. Das Erdgeschoss wurde von einem Gesims gekrönt, das hohe Walmdach aus Schiefer lief auf dem Hinterhaus in einen Giebel aus. Zum Quatermarkt lagen

Greven’s Adressbuch 1928 zeigt mehr als nur eine Telefonnummer (Lützeler)

  9 Siehe die Abbildung in August Sander, Köln wie es war, Köln 2009, Mappe 8 Bild 2 am Gürzenich, im Hintergrund die Domtürme, um 1938; Bild 3, Gürzenich um 1938; Mappe 9, Bild 2, Gürzenich um 1938; Mappe 13, Bild 7, Gürzenich und Stadthaus, 1930–1931. 10 Das Stadthaus, von Stadt Baumeister Bolte von 1911 bis 1913 errichtet, beherbergte städtische Behörden und wurde im Krieg schwer zerstört, heute ist es einem Hotel- und Geschäftskomplex gewichen. 11 Vergleiche die Darstellungen in Klemmer/Wassermann/Wessel, Deutsche Gerichtsgebäude, München 1993, S. 34–111. 12 Erkennbar in Meynen/Schäfke, Köln im Flug durch die Zeit, S. 176.

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Die Kölner Arbeitsgerichtsgebäude

Im rechten Bildrand neben dem Stadthaus: das Haus Quatermarkt 1 mit den Räumen des Arbeitsgerichts im 1. und 2. Stock (© Rheinisches Bildarchiv Köln)

vier Dachgauben, an den Schmalseiten des Hauses – etwas höher angesetzt – weitere Dachgauben. Fotografien aus den dreißiger Jahren zeigen, dass die Fenster im Erdgeschoss am Quater­markt 1 durch große bogenförmige Fensterstürze ersetzt worden waren, um den Geschäften größere Schaufenster zu ermöglichen,13 vor denen Rollgitter und als Sonnenschutz rechteckige Markisen herabgelassen werden konnten. Das Gebäude Quatermarkt 3 war sehr viel einfacher. Sein Eingang lag links, die aus sechs Fenstern bestehenden Fensterreihen im ersten und zweiten Stock waren in der ersten Etage etwas unter denen des 13 So sind für das Jahr 1928 auch der Allgemeine Deutsche Frauenverein e.V., der eine Verkaufsvermittlung für Kleidung betrieb, und ein Büro benannt. In den dreißiger Jahren befanden sich im Gebäude zudem die Anzeigenverwaltung Georg Gerdes, die Speiseöl-Handlung Karl Koth und die Feinkosthandlung von Max Zimmermann.

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Mit Gürzenich und Dom: der Quatermarkt 1 ganz links hat Schaufenster bekommen, rechts daneben der Quatermarkt 3 (© Rheinisches Bildarchiv Köln)

Nachbarhauses, im zweiten Stock auf gleicher Höhe. In der Gesamtansicht wirkten beide Fassaden – nur abgesetzt durch die unterschiedliche Hausfarbe – durchgehend, obwohl sie nicht auf einer Fluchtlinie lagen. Das Haus Nr. 3 besaß allerdings ein mit drei Dachgauben versehenes niedrigeres Satteldach, dessen Giebel es vom Nebenhaus auch optisch trennte. 98

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Blick nach Westen: links im Bild das Arbeitsgericht in den 30er-Jahren mit Markisen im Erdgeschoss (© Rheinisches Bildarchiv Köln)

Nach § 118 des neuen Arbeitsgerichtsgesetzes mussten ausschließlich von Gewerbe- und Kaufmannsgerichten genutzte Grundstücke nebst ihrer Geräteausstattung unentgeltlich dem Staat übertragen werden­, waren auch andere Einrichtungen untergebracht, so waren Räume, Geräteausstattung, Beleuchtung, Heizung und Reinigung un-

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entgeltlich „auf besonderes Ersuchen“ zur Verfügung zu stellen.14 Letzteres traf auf das Kölner Gericht zu. Nach der Zusammenstellung des Gewerbe- und Kaufmannsgerichts vom 11. März 1927 nebst Raumverzeichnis standen am Quartermarkt 1 sieben Räume im ersten und drei Räume im zweiten Stockwerk zur Verfügung: die Zimmer für den Vorsitzenden, den Vorsteher der Gerichtsschreiberei, die Gerichtsschreiberei, Sitzungssäle, Beratungs- und Zeugenzimmer, von denen eines als Kanzlei diente, und ein Speicherraum zur Aktenaufbewahrung. Im Fall der Weiternutzung durch das Arbeitsgericht befürchtete man Raumprobleme, denn „wenn sie unter den jetzigen Verhältnissen schon kaum den Anforderungen genügen, so sind sie nach Erweiterung der sachlichen und voraussichtlichen örtlichen Zuständigkeit als durchaus unzureichend zu bezeichnen“, auch weil beim Arbeitsgericht mit mehreren hauptamtlichen Vorsitzenden gerechnet wurde, denen man wohl je ein Zimmer als Arbeitsraum zur Verfügung stellen müsse.15 Die nebenamtlichen Vorsitzenden des Gewerbegerichts hatten sich außerhalb der Sitzungen kaum im Gebäude aufgehalten. Raumprobleme wurden auch für die Gerichtsschreiberei angenommen, denn „Bei dem überaus lebhaften Verkehr mit dem Publikum – fast den ganzen Tag wird gleichzeitig mit mehreren Rechtssuchenden verhandelt – stört das enge Zusammensitzen ungeheuer. Um sich verständlich machen zu können, muss laut gesprochen werden. Eine Partei hört, was die andere am Nebentisch vorträgt, und was zu großen Unzuträglichkeiten führt. Diese werden wachsen in demselben Maßstabe, wie der Betrieb wächst“.16 Hinzu kam, dass in einem der beiden Räume auch ein Fernsprecher vorhanden war, „der den ganzen Tag fast ununterbrochen benutzt wird“. Auch wurde bezweifelt, ob zwei Sitzungssäle den Anforderungen genügen würden. Beim Gewerbegericht fanden wöchentlich 12 bis 14 Sitzungen statt, bei einer Zunahme der Geschäfte sei ein dritter Sitzungssaal erforderlich. Und auch mit drei 14 Mitteilung des preußischen Justizministers vom 25.2.1927 zur Unterbringung und Geräteausstattung der Arbeitsgerichte und Landesarbeitsgerichte. Das Ministerium ging mit Verweis auf die einschlägige Kommentierung davon aus, dass dies für Büroräume, Sitzungssäle und Diensträume gelte. 15 Mitteilung des Gewerbe- und Kaufmannsgerichts vom 11.3.1927: „Es wird nicht angehen, alle Vorsitzende in dem einen vorhandenen Raum unterzubringen“. 16 Mitteilung des Gewerbe- und Kaufmannsgerichts vom 11.3.1927.

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Sitzungssälen werde man nur dann auskommen können, wenn wie bisher auch Nachmittagssitzungen abgehalten werden. Die Raum­ frage könne „befriedigend nur durch Verlegung der Behörde in ein anderes Dienstgebäude gelöst werden. Die beste Lösung wäre die, das Arbeitsgericht in einem der Justizgebäude Appellhofplatz oder Reichenspergerplatz unterzubringen“.17 Gegen einen Umzug sprach aber nicht nur „die Gewohnheit der Leute“,18 auch hätte die Justiz auf kostenlose Räumlichkeiten verzichtet – eine weder heute noch damals überzeugende Option. Überdies war das Gebäude am Quatermarkt mit einer Zentralheizung komfortabel ausgestattet. Ferner sorgte die Stadt Köln für Reinigung, Heizung und Beleuchtung. Als Lösung bot sich eine Ausdehnung auf die Diensträume des staatlichen Schlichtungsausschusses im zweiten Stock, bestehend aus einem Zimmer für den Vorsitzenden, einem Zimmer für die Geschäftsstelle und einem Sitzungszimmer, und auf den großen, als Sitzungssaal geeigneten Raum des städtischen Lohnbüros im Nachbarhaus an. „Wenn für den Schlichtungsausschuss und die städtische Abteilung eine andere Unterbringung gefunden werden könnte und diese Räume noch für das Arbeitsgericht hinzugemietet werden könnten, wäre die Raumfrage einstweilen gelöst. Denn in den neuen Räumen können noch zwei Vorsitzende sowie ein Teil der Geschäftsstelle untergebracht werden und es stünde außerdem noch ein dritter Sitzungssaal zur Verfügung“.19 Die in den Gerichtsakten des Oberlandesgerichts vorhandene Auflistung führt für das Zimmer des Vorsitzenden im ersten Stock, Raum Nr. 9, auf: Ein Schreibtisch in Eiche (Diplomat), ein Schreibtischsessel, ein Tisch in Eiche (2 Meter mal 1 Meter) mit grüner Stoffeinlage, 12 Stühle, geflochten, ein Bücherschrank in Eiche mit Glasfalltüren, eine Waschgarnitur, ein Wandspiegel, ein Garderobenständer in Holz, zwei große bunte Kunstdrucke, gerahmt, zwei kleine bunte Kunstdrucke, gerahmt, ein großer Kupferdruck, gerahmt (Wilhelm, I.), eine große Radierung, gerahmt, eine kleine Radierung, gerahmt, ein Marmortin17 Mitteilung des Gewerbe- und Kaufmannsgerichts vom 11.3.1927. 18 Bericht an die Präsidenten des Oberlandes- und Landgerichts vom 24.3.1927. 19 Mitteilung des Gewerbe- und Kaufmannsgerichts vom 11.3.1927.

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tenfass mit Bronzefiguren und Löscher dazu, zwei Steinguturnen, eine Steingutvase, ein Papierkorb, ein Korkteppich (3 1/2 mal 4 Meter), eine Deckenlampe, zwei Zuglampen, zwei Fenstergalerien mit Behang. Das Zimmer des Vorstehers der Gerichtsschreiberei (Nr. 8) war mit gleichem Schreibtischmodell ausgestattet, hatte allerdings nur vier Stühle sowie einen Aktenbock und Aktenschränke. In der Gerichtsschreiberei in den Räumen Nr. 4 und Nr. 5 waren neben Schreibtischen, ein Stehschreibpult mit Aufsatz, Akten- und Formular- und Kleiderschrank und Aktenbock, aber auch zahlreiche Stühle für Personal und Rechtssuchende, denn der größte Teil aller Klagen wurden zur Niederschrift erhoben. Fünf Schreibmaschinen standen zur Verfügung. Aufgelistet wurde auch das Inventar der Schreibkanzlei, in der die einzigen Frauen arbeiteten. Der Sitzungssaal im ersten Stock verfügte über ein Podium, einen Sitzungstisch mit grünem Tuchüberzug, ein Tintenfass, zwei Löscher, eine Sitzungsglocke, einen Sessel mit Wachstuchpolstern, sieben Stühle mit Wachstuchpolstern, einen Holzschrank mit zwei Pulten, zwei kleine Tische, fünf Bänke mit Lehne, 22 Stühle, ein kleines Anschlagbrett, eine runde Wanduhr, ein Thermometer, fünf Fenstergalerien mit Behang, eine Deckenlampe und drei Zuglampen. Ferner gab es ein Beratungszimmer mit Konferenztisch und Bücherschrank, auf dem Flur zwei Schränke für Akten- und ein Putzmittel sowie eine Bank ohne Lehne und einen Feuerlöschapparat. Der zweite Sitzungssaal im zweiten Stock war ähnlich ausgestattet. Die Bibliothek war umfangreich, die Liste der Bücher, Gesetze und Zeitschriften umfasste acht Seiten. Die Inventarliste enthält unter anderem einen Haustürbriefkasten, zahlreiche Dienstsiegel, sieben Stempelkissen, drei Dutzend Handtücher, eine Briefwaage und drei Aktentaschen. Für den Geschäftsbetrieb des Arbeitsgerichts waren jedoch weitere „Mittel zu Geschäftsbedürfnissen“ erforderlich,20 nämlich für den Sitzungssaal Gardinen und weiteres Mobiliar für die einzurichtende Geschäftsstelle des Handwerksgerichts, der Kaufmannskammer und der Angestelltenkammer und auch die zusätzlichen Richterzimmer sollten ausgestattet werden, wie der erste aufsichtsführende Vorsitzende des Arbeitsgerichts Dr. Paul Canetta mitteilte.21 Erst Mitte des Jahres 1928 20 Schreiben des aufsichtsführenden Vorsitzende Dr. Canetta vom 11.7.1927. 21 Er wurde durch den preußischen Justizminister bereits am 24.6.1927 zum aufsichtsführenden Richter beim Arbeitsgericht bestellt.

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machten Schlichtungsstelle und Stadt Köln die weiteren Räume frei.22 Ab diesem Zeitpunkt umfasste das Arbeitsgericht im Haus Quartermarkt 1 im ersten Stock zwei Geschäftsstellen, einen Sitzungssaal und ein Beratungszimmer, die Kanzlei sowie das Zimmer des geschäftsleitende Bürobeamten und des aufsichtsführenden Vorsitzenden. Im zweiten Stockwerk lagen der zweite Sitzungssaal nebst Beratungszimmer, ein Richterzimmer für zwei Vorsitzende und ein weiteres für vier Vorsitzende. Im Haus Quartermarkt Nr. 3 gab es im ersten Stockwerk je einen Raum für die Geschäftsstelle der Kaufmannskammer und der Angestelltenkammer und im zweiten Stock den dritten Sitzungssaal, der mangels Beratungszimmer nur für Güteverhandlungen genutzt wurde. Was lässt sich heute noch über den Geschäftsbetrieb sagen? Laut Greven´s Adressbuch war die Geschäftsstelle an Wochentagen vormittags von 10 bis 12 Uhr geöffnet. Da gemäß § 11 ArbGG 1926 vor dem Arbeitsgericht Rechtsanwälte lediglich in BetriebsräteAngelegen­heiten oder ab einem Streitwert von 300 Reichsmark zugelassen waren, wurde der größte Teil der Verfahren von den Parteien selbst geführt. 1928 gab es vier Arbeiterkammern, die Kaufmannskammer, das Handwerksgericht, eine Reichsbahnfachkammer und die Angestelltenkammer. Sitzungen fanden vor- und nachmittags von Montag bis Samstag statt. Hierbei kam es zu Problemen, wenn die Vormittagssitzungen noch nicht beendet waren und die Nachmittagssitzungen anfangen sollten. Auch die Ferienbeurlaubung war schwierig, denn „Von den Eingangstüren für Prozessbeteiligte und Zuhörer, die dauernd überwacht werden müssen, um eine Überfüllung der Säle zu verhüten, liegen zwei in dem Hause Quartermarkt 1 auf dem ersten und zweiten Stockwerk, sowie einer in dem Hause Quartermarkt 3. Es ist zwei Wachtmeistern nicht möglich, zu gleicher Zeit an drei verschiedenen Stellen die nötige Kontrolle und Aufsicht auszuüben, zumal wenn einer von beiden durch den inneren Dienst vorübergehend in Anspruch genommen wird. Im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit halte ich es deshalb für dringend erforderlich, über die 22 Für die zusätzlichen Räume wurde im Mietvertrag vom 16.10.1928 eine Friedensmiete in Höhe von 1.320 Reichsmark nebst 20 Prozent Zuschlag jährlich vereinbart.

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ganze Dauer der Ferienbeurlaubung eine Aushilfskraft für den Wachtmeisterdienst zu überweisen.“23 In den Akten Erwähnung fand auch die Unterbringung der weiblichen Kanzleiangestellten mit Wachtmeistern in einem Raum. Auch die Nachbarschaft machte sich bemerkbar. Der Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlichte in seiner Ausgabe Nr. 271 vom 2. Juni 1931 folgenden Artikel: Unhaltbare Zustände Das Arbeitsgericht befindet sich bekanntlich in den Häusern Quartermarkt 1 bis 3. Auf dem Hof dieser Gebäude ist die städtische Installationswerkstätte untergebracht. Alle Büroräume des Arbeitsgerichts liegen hofwärts. Die Rauchrohranlagen dieser Werkstätte sind den baupolizeilichen Vorschriften widersprechend, denn das Rohr reicht nur bis zum ersten Stock der beiden Häuser. Der Rauch hat keinen Abzug, sondern schlägt in den von hohen Mauern umgebenen engen Hof nieder und dringt in die Büroräume des Arbeitsgerichts. Ein Öffnen der Fenster ist meist unmöglich. Ein weiterer großer Übelstand besteht in dem in der Installationswerkstätte verursachten Lärm. Das Hämmern, Schneiden und Schweißen ist oft so laut, daß sich die Beamten beim Verhandeln mit den Rechtsuchenden zeitweise kaum verständigen können. Schreiber dieser Zeilen hat sich persönlich von diesen Zuständen überzeugt. Wie er erfuhr, hat sich sowohl das Arbeitsgericht als auch der Beamtenausschuß um Abhilfe an die Stadt Köln gewandt. Es ist aber weder eine Antwort eingegangen, noch sind Maßnahmen zur Abstellung dieser Mißstände getroffen worden. R.B. Der aufsichtsführende Vorsitzende war über den Artikel des Gerichtsberichterstatters Bienemann verärgert. Zwar bestanden die geschilderten Mängel, er hielt sie jedoch für weniger dramatisch und hatte sich bei der Stadt Köln selbst um Abhilfe bemüht.24 Die Lage des Arbeitsgerichts inmitten des Großstadtbetriebes bringe es mit sich, dass alle Diensträume, auch die straßenwärts gelegenen, etwas unruhig seien. Damit müsse man sich abfinden, da dieser Nachteil durch die zentrale 23 Mitteilung des aufsichtsführenden Vorsitzenden an den Oberlandesgerichtspräsidenten und den Präsidenten des Landgerichts vom 13.3.1931 wegen Ferienbeurlaubung. 24 Schreiben des aufsichtsführenden Vorsitzenden vom 11.6.1931 an den Landgerichtspräsidenten.

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Lage ausgeglichen werde, „nervöse“ Bedienstete würden in ruhigeren Räumen untergebracht. Nach zunächst steigenden Fallzahlen nahm der Gerichtsbetrieb während der Wirtschaftskrise erheblich ab. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme bekam das Arbeitsgericht Konkurrenz, einfachere Angelegenheiten wurden „vielfach schon bei den Rechtsberatungsstellen der Deutschen Arbeitsfront durch das Zusammenwirken der Vertreter der Unternehmer und der Beschäftigten erledigt“.25 So gab es 1936 nur noch zwei Arbeiterkammern, von denen die erste gleichzeitig Handwerksgericht und Reichsbahnfachkammer war. Die Angestelltenkammer wurde mit der ersten Kaufmannskammer zusammengelegt, ferner gab es noch eine zweite Kaufmannskammer. Beim Arbeitsgericht waren neben dem aufsichtsführenden Vorsitzenden Dr. Paul Canetta im Jahr 1936 nur noch vier Amtsgerichtsräte, nämlich die Herren Dr. Josef Hollender, Johann Forsbach26 und Dr. Wilhelm Lehmacher und Dr. Nikolaus Loevenich. Alle fünf Richter wurden ab dem 1. September 1936 unter Belassung ihrer Stelle an das Amtsgericht versetzt.27 Gleichzeitig stiegen die Eingänge wieder, zudem erwartete man eine weitere Belebung der Wirtschaft, so dass um jede Richterstelle gerungen wurde.28 Auch nach Kriegsbeginn wurde der Geschäftsbetrieb fortgesetzt, und dürfte aufgrund der immer weiter zunehmenden Luftangriffe auf Köln und der Zerstörungen der Innenstadt und der Verkehrswege immer häufiger gestört worden sein.29 25 Schreiben des Amtsgerichtsdirektors vom 4.9.1936 an den Präsidenten des Landgerichts zur Zahl der notwendigen Richterstellen beim Arbeitsgericht. 26 Johann Forsbach (vgl. Steimel, Rheinische Geschlechter, Band 2: Mit Köln versippt, Köln 1956, S. 70) genannt Hans, ist ein Uronkel des Verfassers. 27 Die Stellen wurden ab dem Haushalt 1936 beim Amts- und Landgericht geführt, vgl. Schreiben des Präsidenten des Oberlandesgerichts an den Präsidenten des Landgerichts vom 5.8.1936. Das übrige Personal wurde rückwirkend zum 1.4.1936 beim Amtsgericht geführt, vgl. Mitteilung des Reichsministers für Justiz vom 22.10.1936. 28 Schreiben des Amtsgerichtsdirektors an den Landgerichtspräsidenten vom 4.9.1936. 29 Bis Juni 1943 hatte es 130 Luftangriffe und fast 600 Luftalarme in Köln gegeben, Kriegstagebuch des Notars Dr. Wilhelm Schmidt-Thomé, Köln.

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Ende Juni 1943 wurde der Gürzenich bei einem Luftangriff schwer getroffen. Auf einer Aufnahme des Gürzenichs nach der Zerstörung findet man auch die Außenfassade des Arbeitsgerichtsgebäudes: die Sommersonne scheint von Westen durch die Fenster. Zu diesem Zeitpunkt war das Gerichtsgebäude jedoch bereits über eine Jahr eine Ruine­: Der Amtsgerichtspräsident.

Köln, den 1. Juli 1942. Fernsprecher: 70561, 70761, 70861.

An den Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten hier. Betrifft: Justizgebäude in Köln. Bezug: Verfügung vom 24. Juni 1942. = LR 4372/17 – 19.77 =. Durch den Fliegerangriff in der Nacht vom 30. bis zum 31. Mai 1942 ist das Dienstgebäude des Arbeitsgerichts Köln, Quartermarkt 1 bis auf die Grundmauern und eine Trennungsmauer abgebrannt. Mit den Akten und Formularen, der reichhaltigen Bücherei und den Tarif- und Entscheidungssammlungen ist das gesamte in den 14 Diensträumen vorhanden gewesene Inventar des Arbeitsgerichts vernichtet. Es handelt sich um die Einrichtung von drei Sitzungssälen, drei Vorsitzenden-Zimmern, ein Zimmer des geschäftsleitenden Beamten, zwei Geschäftsstellenräumen, ein Zeugenzimmer, zwei Beratungszimmern, ein Wachtmeisterzimmer und ein Kanzleiraum. Außerdem sind eine künstlerisch wertvolle alte Sesselgarnitur, drei große Gemälde und sechs Schreibmaschinen verbrannt. Da auch die Geräteverzeichnisse mitverbrannt sind, ist eine genaue Feststellung des Gesamtschadens nicht möglich. Über die Einzelheiten des Angriffs ist hier nichts bekannt geworden, da die Luftschutz-Nachtwache in den der Hansestadt Köln gehörenden Gebäude auch von dieser gestellt wurde.30 30 Bericht des Amtsgerichtspräsidenten vom 1.7.1942 an den Präsidenten des Oberlandesgerichts über die Folgen des ersten 1.000-Bomber-Angriffs (Operation Millennium) auf Köln. In den Akten finden sich Korrekturen mit Bleistift auf diesem Bericht. Tatsächlich änderte der Oberlandesgerichtspräsident in seiner Meldung an den Reichsminister der Justiz vom 29.7.1942 den letzten Satz in „Das Gebäude selbst gehört der Stadt Köln“.

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Nur noch Ruinen: neben dem zerstörten Gürzenich nach dem 29.6.1943 am linken Bildrand die leeren Fassaden des ausgebrannten Arbeitsgerichts (© Rheinisches Bildarchiv Köln)

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Sieben Monate später hatte der Amtsgerichtspräsident dem Oberlandesgerichtspräsidenten mit Schreiben vom 1. Februar 1943 mitgeteilt, dass der Wiederaufbau des stark beschädigten Hauses, wie ihm die Stadtverwaltung Köln mitgeteilt habe, „mit Rücksicht auf den vordringlichen Wiederaufbau der weniger stark beschädigten Wohnhäuser, von denen bisher kaum ein Drittel instandgesetzt werden konnte“, vorläufig nicht in Angriff genommen werden könne. Aber auch wenn vom Arbeitsgericht nichts erhalten blieb, endete damit nicht der Geschäftsbetrieb. Nachdem den erkrankten Amtsgerichtsdirektor Dr. Canetta ab Mitte Mai 1942 der Amtsgerichtsrat Dr. Daniel für das restliche Geschäftsjahr 1942 ersetzte, wurde dieser im November 1942 einberufen und durch den Amtsgerichtsrat Nolden ersetzt, der jedoch keine zwei Wochen später ebenfalls einberufen und durch den Amtsgerichtsrat Müller ersetzt wurde.31 Doch auch für die Geschäftsjahre 1943, 1944 und 1945 finden sich Bestellungen zu Stellvertretenden Vorsitzenden beim Arbeitsgericht Köln in den Akten.32 Wo und wie das Gericht in den Ruinen Kölns arbeitete, ist jedoch nicht bekannt.33

31 Mitteilungen des Amtsgerichtspräsidenten an den Präsidenten des Oberlandesgerichts vom 16.5.1942, vom 13.11.1942 und vom 26.11.1942. Der Reichsminister der Justiz hatte „im Hinblick auf die Kriegsverhältnisse“ mit Schreiben vom 9.10.1940 – unterzeichnet durch Dr. Freisler – die Bestellung der Vorsitzenden und Stellvertretenden Vorsitzenden der Arbeits- und Landesarbeitsgerichte auf die Amts- und Landgerichtspräsidenten übertragen. 32 Vgl. die Schreiben des Amtsgerichtspräsidenten vom 29.12.1942, vom 6.4.1943 und vom 1.12.1943; Schreiben des Landgerichtspräsidenten Köln „zur Zeit Wiehl“ vom 20.12.1944 an den Präsidenten des Oberlandesgerichts „in Eitorf“, in dem mitgeteilt wurde, dass die Amtsgerichtsräte Dr. Corty und Kniffler zu Stellvertretenden Vorsitzenden beim Arbeitsgericht Köln für das Geschäftsjahr 1945 bestellt wurden. Beiden wurde dies mit Schreiben vom 20.12.1944 mitgeteilt – allerdings ist bei den Abschriften das Adressfeld leer. 33 Auch die Adressbücher konnten hier nicht weiterhelfen, der letzte erschienen Band stammt aus dem Kriegsjahr 1941/42.

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IV. Nachkrieg: Justizgebäude Appellhofplatz Wie kaum eine andere Stadt vergleichbarer Größe wurde Köln im Zweiten Weltkrieg zerstört.34 Von den einst 768.000 Einwohnern lebten bei Kriegsende nur noch 40.000 in der Stadt, auf der linken Rheinseite waren es noch gerade zehntausend.35 Zeitgenössische Karten zeigen die Trümmerwüste,36 die auch die Gegend um das alte Arbeitsgericht umfasste.37 Und doch stieg die Einwohnerzahl Kölns bis zum Januar 1946 wieder auf fast eine halbe Million.38 Zwei Monate später leitete das Kontrollratsgesetz Nr. 21 vom 30. März 1946 den Neuaufbau der Arbeitsgerichtsbarkeit ein.39 Danach bestimmte die Militärregierung, wo Arbeitsgerichte eingerichtet werden sollten.40 Was dies für das Arbeitsgericht Köln bedeutete, darüber geben die Tätigkeitsberichte und Geschäftsübersichten der Arbeits- und Landesarbeitsgerichte für die Militärregierung für den Zeitraum von 1946

34 Heinen, Moderne für die Römerstadt – Wandel des städtebaulichen Leitbildes in: Kölner Stadtbaumeister und die Entwicklung der Städtischen Baubehörden seit 1821, Publikationen des Kölnischen Stadtmuseums Band IX, S. 139. Das tatsächliche Ausmaß der Zerstörung ist heute nicht mehr vorstellbar, aber eindrucksvoll zu sehen in den Bildbänden Claasen/ Rick, Gesang im Feuerofen, 3. Aufl. 1979, Köln; Schmitt-Rost, Zeit der Ruinen, Köln am Ende der Diktatur, 2. Aufl. 1965, Köln. 35 Claasen/Rick, Gesang im Feuerofen, S. IX; Heinen, Moderne für die Römerstadt, S. 144. 36 Vgl. Neuvermessungsriss vom 3.11.1953, Landesvermessungsamt NRW, 6644 oder Bollmann, Stadtplan Köln 1956, in: Heynen/Schäfke, Im Flug durch die Zeit, S.106–108. 37 Vgl. Schmitt-Rost, Zeit der Ruinen, Bildtafel 76; Claasen/Rick, Gesang im Feuerofen, Bildtafel 13 und 17. 38 Heinen, Moderne für die Römerstadt, S.144. 39 Linsenmaier, Die Arbeitsgerichtsbarkeit; im Kontrollratsgesetz wurde auf das Arbeitsgerichtsgesetz 1926 in seiner ursprünglichen Fassung zurückgegriffen; Gemäß Artikel I wurden zur Beilegung von Streitigkeiten in Arbeitssachen örtliche und Berufungsarbeitsgerichte in ganz Deutschland errichtet. Zudem wurde gemäß Artikel III die Dienstaufsicht nicht der Justizverwaltung, sondern den obersten Arbeitsbehörden der Länder übertagen. Dies sollte im Weiteren immer wieder zu Besonderheiten führen. 40 Anordnung der Militärregierung vom 31.5.1946, NR/MP/IR/2006.

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bis 194941 und die wenigen vorhandenen Generalakten des Land- und Oberlandesgerichts Auskunft. Ihnen können auch Einzelheiten über die Unterbringung und Ausstattung des Arbeitsgerichts entnommen werden.42 So wurde dem Hauptquartier der Militärregierung – Abteilung Men Power – Industrial Relations Section in Düsseldorf mit Schreiben vom 12. September 1946 mitgeteilt, es gebe in NordrheinWestfalen ein Landesarbeitsgericht in Düsseldorf sowie sieben Arbeitsgerichte, darunter das Arbeitsgericht Köln.43 Deren Unterbringung war nicht einfach, denn „… die Justizverwaltung zeigte wenig Neigung, den auf Anregung der Militärregierung an sie herangetragenen Wunsch die Arbeitsgerichte wenigsten vorläufig in den Gebäuden der Amtsgerichte unterzubringen, nachzukommen.“44 Für die Unterbringung des Arbeitsgerichts in Köln war mit Schreiben vom 7. Juni 1946 an den Oberlandesgerichtspräsidenten angeregt worden: „Weiterhin scheint eine Lösung der Raumfrage in folgender Weise als zweckmäßig: Im Justizgebäude am Appellhofplatz ist der rechte Flügel – rechter Eingang, im Torbogen Aufgang rechts – für die Aufnahme der Tätigkeit des Arbeitsgerichts geeignet, und zwar zunächst für die Räume im Hofparterre für das zum 1. Juli 1946 zu errichtende Arbeitsgericht Köln und später für die entsprechenden Räume im ersten Stock für das Landesarbeitsgericht Köln. Es liegt meines Erachtens im Interesse der Sache, der optischen und psychologischen Wirkung wegen, die Tätigkeit der Arbeitsgerichte auch nach ihrer ver41 Landesarchiv NRW, NW 506 Nr. 385 (Sperrvermerk), im Verzeichnis mit 1946 bis Januar 1948 angegeben. 42 Vgl. Schreiben des Hauptquartiers der Militärregierung an das Land Nordrhein-Westfalen vom 6.9.1946, das Informationen über den Fortschritt zur Wiedereröffnung der Arbeitsgerichte bis zum 12.9.1946 anfordert. Darin wurde die Zahl und der Ort der Arbeitsgerichte, die am 7.9.1946 und vorher tätig waren, die Anzahl der bearbeiteten Fälle und Beobachtungen über die Typen der Fälle, die vor Gericht kamen und ob sie hauptsächlich in irgendeiner speziellen Industrie entstehen, abgefragt. 43 Das Gericht hatte im September 1946 insgesamt 252 Neueingänge, davon waren 61 erledigt und es standen 191 aus. Zudem wurde mitgeteilt, dass auffallend viele Klagen auf rückständigen Lohn und Kündigungswiderrufsklagen anhängig seien. 44 Anschreiben der Hauptabteilung II, Landesarbeitsamt vom 18.12.1946 an den Arbeitsminister Nordrhein-Westfalen. Darin heißt es weiter, dass bis auf eine Ausnahme die Unterbringung in der erstrebten Weise gelang.

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waltungsmäßigen Eingliederung in die Arbeitsverwaltung in einem Gebäude aufzunehmen, das seit jeher der Rechtsprechung zu dienen bestimmt ist. Wie aus den Besprechungen hervorging, sind die oben bezeichneten Räume für die Justizverwaltung entbehrlich. Ich darf Sie daher bitten, Ihre Zustimmung zur Übernahme dieser Räume zu erteilen. Die Errichtung und Unterhaltung der in Anspruch genommenen Räume erfolgt durch die Arbeitsverwaltung nach näherer Vereinbarung zwischen den zuständigen Verwaltungs- Dienststellen der Justizverwaltung und der Arbeitsverwaltung.“ Die Zustimmung wurde erteilt und so befand sich die zweite Station des Arbeitsgerichts, das am 15. Juli 1946 seine Arbeit aufnahm, am Appellhofplatz. Zur Wiedererrichtung der Arbeitsgerichte lud der Präsident des Landesarbeitsamtes Nord/Rheinprovinz für denselben Tag in den Plenarsitzungssaal des Oberlandesgerichts in Düsseldorf ein.45 Das Gerichtsgebäude am Appellhofplatz hat eine langjährige Geschichte. Sein Vorgängerbau mit halbkreisförmigem Grundriss wurde im November 1826 übergeben und beherbergte das Rheinische Appellations­gericht.46 Im Jahr 1883 wurde dem Gebäude ein langgestreckter mehrgeschossiger Bau an der Burgmauer vorgesetzt, der den Innenhof nach Norden abschloss.47 Sodann wurde auch der südliche Teil durch einen Neubau ersetzt, der 1893 eröffnet wurde. Der nördliche Gebäudeteil beherbergte das Oberlandesgericht bis zu dessen Umzug an den Reichenspergerplatz. Im südlichen Trakt kamen Landund Amtsgericht unter. Während sich das Landgericht im zum Dom gelegenen Gebäudeteil befand, lag das Amtsgericht im westlichen Teil gegenüber dem EL-DE-Haus. Die Außenfassade aus Backstein ist mit Maßwerk, Fenstern und Gliederungselementen aus Naturstein versehen. Die Fassade wirkt durch den Kontrast zwischen dem roten Backstein und dem beigefar45 Einladung vom 2.7.1946 an den Oberlandesgerichtspräsidenten Köln zur Feier am 15.7.1946: „Im Anschluss an die Feier ist für die Inhaber dieser Einladung im Hotel Monopol, Kaiser-Wilhelm-Straße 2, ein gemeinsames Mittagessen vorgesehen“. 46 Entworfen wurde dieser Bau von Johann Peter Weyer, Stadtbaurat und Mitarbeiter des Stadtbaumeisters in Köln, die Bauarbeiten begannen im Winter 1823/24. 47 Die Leitung hatte der Regierungsbaumeister Paul Tömer. Das Gebäude wurde 1887 fertiggestellt und am 19.9.1887 eingeweiht.

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benden Naturstein und den unterteilten Fenstern. Der Bau weist drei Geschosse auf, die um den Innenhof gruppiert sind. Er orientiert sich am alten kreisförmigen Grundriss mit zahlreichen unregelmäßigen Gebäudefluchten und verfügt über mehrere Haupt- und Neben­ treppenhäuser.48 Das Gebäude gilt als bauliches Dokument der Entwicklung im Justizwesen im 19. Jahrhundert und als Beispiel eines qualitätsvollen Neorenaissance-Baus, der in der Zeit nach 1880 der zeitgemäße deutsche Baustil für Wohnungsbau und öffentliche Gebäude war.49 Der stark vereinfachte Wiederaufbau in den fünfziger Jahren, bei dem die teilweise noch erhalten gebliebenen Fassadenfiguren und auch Architekturdetails wie Treppentürmchen entfernt wurden, gilt aufgrund seiner Schlichtheit und der gestalterischen Beschränkung als ein Zeugnis für die zurückhaltende Einstellung der Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg.50 Das Gebäude ist seit dem Jahr 1983 denkmalgeschützt. Die einstige Pracht lässt sich heute nur noch erahnen: Bei dem Großangriff in der Nacht zum 31. Mai 1942, bei dem das Arbeitsgericht zerstört wurde, trafen zahlreiche Bomben auch den Appellhof, der von mehreren Brandbomben getroffen wurde.51 Der Dachstuhl fing an zahlreichen Stellen auch durch starken Funkenregen von den benachbarten Häusern Feuer, das sich durch den Wind angefacht ausbreitete und erst am Nachmittag eingedämmt werden konnte. Bei den zahlreichen folgenden Luftangriffen wurden nicht nur in nahezu allen 48 Arntz, Der Appellhof zu Köln – Daten und Fakten, in: Strauch/Arntz/ Schmidt-Troje, Der Appellhof zu Köln, ein Monument deutscher Rechtsentwicklung, Köln 2002, S.52. 49 Begründung der Denkmaleigenschaft, Referenz 1936. 50 Arntz, Der Appellhof zu Köln – Daten und Fakten, S. 53. 51 Bericht des Landgerichtspräsidenten an den Präsidenten des Oberlandesgerichts vom 29.6.1942. Mit Schreiben vom 24.8.1942 teilt das preußische Staatshochbauamt dem Regierungspräsidenten in Köln mit, dass am Justizgebäude am Appellhofplatz die durch Flugasche und Brandbomben zerstörten Holzteile der Dachkonstruktion wieder erneuert und behelfsmäßig mit Dachpappe gedichtet worden seien: „Die Wiederherstellung der Schieferdeckelung ist vorbereitet und wird in den nächsten Wochen erfolgen.“ Die Schäden an der Sammelheizungsanlage seien beseitigt worden. Die gesamten Arbeiten wurden ohne Unterbrechung des Dienstbetriebs in den betreffenden Gebäuden ausgeführt. „Sie wurden teils mit ortsansässigen, teils mit auswärtigen Arbeitskräften reibungslos durchgeführt“.

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Zerstörte Fenster im Südgiebel am Appellhofplatz 1943: hier zog das Arbeitsgericht bald nach dem Krieg ein (© Rheinisches Bildarchiv Köln)

Räumen die Fensterscheiben zerstört und zahlreiche Türen durch den Luftdruck herausgerissen, mehrere Räume brannten mit Mobiliar, Schreibmaschinen und Akten vollständig aus.52 Der Dienstbetrieb ging jedoch weiter. Die Schäden, deren Reparatur auf 230.000 Reichsmark geschätzt wurde, waren noch nicht behoben als weitere Angriffe erfolgten. Nach dem Luftangriff vom 8. auf den 9. Juli 1943 gab es erneut erhebliche Beschädigungen. Die Strafrechtspflege des Amtsgerichts, die im Appellhofplatz untergebracht war, zog nun in das Justizgebäude Reichens­per­ger­platz um. 52 Vgl. Schreiben des Amtsgerichtspräsidenten vom 13.7.1943 an den Präsidenten des Oberlandesgerichts über die Zerstörungen in den Räumen 120, 126, 128, 154 und 154a und 224 und 225.

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Nach dem Krieg ergab sich folgendes Bild: Der Nordteil des Gebäudes war erheblich zerstört, die Dächer schwer beschädigt, die Räume teilweise ausgebrannt und fast alle Fenster zerstört. Und so schrieb der Arbeitsminister Nordrhein-Westfalens am 30. Dezember 1946 an die Militärregierung: „Die bei Errichtung der Arbeitsgerichte aufgetretenen Schwierigkeiten in Fragen der Unterbringung des Personals sind im gesamten Gebiet des Landes Nordrhein Westfalen gleicher Art gewesen. Die Gebäude der ordentlichen Gerichte, in denen die Arbeitsgerichte durchweg untergebracht wurden, waren zumeist teilweise zerstört“.53 Die Unterbringung und Ausstattung des Arbeitsgerichts war desolat, auch weil es erhebliche Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Baumaterial gab. „Köln und Wuppertal sind in teilweise sehr zerstörten Gebäuden untergebracht, die trotz aller Bemühungen bis heute noch nicht wiederhergestellt sind. Diese Arbeiten scheinen an dem Kompetenzstreit der einzelnen Behörden zu scheitern. Es ist aber unbedingt erforderlich, dass die Arbeitsgerichte würdig untergebracht werden entsprechend ihrer Stellung“54. „In Köln wird ein Flügel des Amtsgerichtsgebäudes am Appellhofplatz, das durch Kriegseinwirkung stark beschädigt ist, zurzeit ausgebaut. Es sollen hier neben dem Arbeitsgericht ein weiteres Landesarbeitsgericht und das für die britische Zone zu errichtende Oberste Arbeitsgericht untergebracht werden. Für die vorläufige Unterbringung eines Obersten Arbeitsgerichts sind ausreichende Räume im Gebäude des Oberlandesgerichts am Reichenspergerplatz zur Verfügung gestellt. Diese Räume sind nach Vornahme verschiedener Bauarbeiten jetzt bezugsfertig. Auch die Büroeinrichtung des Arbeitsgerichts lässt zu wünschen übrig. Ein Teil der Einrichtungsgegenstände ist von der Justizverwaltung, besonders den Arbeitsämtern widerruflich überlassen worden. Die Einrichtungsge53 Mitteilung des Arbeitsministers Nordrhein-Westfalen an die Militärregierung vom 30.12.1946. Nach der diesem Schreiben angehängten Statistik war für das Arbeitsgericht Köln der 15.8.1946 als Errichtungsdatum angegeben. In Westfalen-Lippe mussten die Arbeitsgerichte teilweise in Gewerkschaftshäusern oder Arbeitsämtern untergebracht werden, weil keine anderen Räume zur Verfügung standen. 54 Bericht über die Durchführung des Kontrollratsgesetzes Nr. 21, Stand 30.6.1947, übermittelt vom Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf an den Arbeitsminister Nordrhein Westfalen vom 4.7.1947.

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genstände werden teilweise von den Behörden wegen Eigenbedarfs zurückverlangt“.55 Das Kölner Arbeitsgericht war mit dem Vorsitzenden des Arbeitsgerichts, Dr. Friedrich Poelmann,56 als einzigem Richter, besetzt. „Das Personal der Arbeitsgerichte arbeitet zufriedenstellend“57. Jedenfalls ab Juli 1947 dürften zwei Kammersitzungen und eine Gütesitzung pro Woche abgehalten worden sein58. Die Fallzahlen des Arbeitsgerichtes Köln zeigten stetige Neueingänge und führten zu erheblicher Arbeitsbelastung, dass zwei Richter von benachbarten Arbeitsgerichten hilfsweise neben deren ordentlicher Richtertätigkeit auch noch Sitzungen übernahmen.59 Damit einhergehend dürfte sich das Gericht auch im Justizgebäude ausgedehnt haben, wo es bis Anfang der fünfziger Jahre verblieb.60

V. Konsolidierung: Behördenhaus Blumenthalstraße 33 Dem Wiederaufbau Kölns gingen Enttrümmerung und Instandsetzung voran. Für vorhandene Gerichtsgebäude bedeutete dies Sicherung, Erhaltung und Wiederherstellung der Substanz.61 An neue Bauten war zunächst nicht zu denken, auch wenn die Diskussion über den Wieder55 Bericht des Arbeitsministers vom 17.7.1947 an den Chief Manpower Officer, Land NRW, Att. Mr. Pulling, Düsseldorf. 56 Dr. Poelmann, Jahrgang 1913, war nach dem Kriegsdienst als Postassessor und in einem Rechtsanwaltsbüro tätig, bevor er ab dem 1.1.1946 zum Gerichtsassessor und ab dem 1.7.1946 zum Amtsgerichtsrat ernannt wurde. 57 Bericht des Arbeitsministers vom 17.7.1947 an den Cheef Men Power Officer. 58 Dies war seitens der Militärregierung mit Schreiben vom 9.7.1947 angemahnt worden, da zu wenige Urteile gesprochen würden. 59 Dies berichtet der Präsident des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf an den Arbeitsminister mit vertraulichem Bericht vom 7.10.1947: „Ich halte diese Lösung für sehr günstig und würde sie auch für zukünftige Fälle empfehlen“. 60 Der erste Nachkriegsband von Greven’s Adressbuch stammt aus dem Jahr 1950 und gibt für das Arbeitsgericht nur noch Adresse (Justizgebäude Appellhofplatz) und Telefonnummer (75466) an. 61 Klemmer/Wassermann/Wessel, Deutsche Gerichtsgebäude, München 1993, S. 134.

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aufbau der Stadt schon unmittelbar nach Kriegsende wieder eröffnet worden war.62 Erst mit dem Erstarken der Wirtschaft in den fünfziger Jahren rückten auch Neubauten in den Fokus. Neben die Notwendigkeit für die zerstörten Bauten neue Gebäude zu errichten, trat die Notwendigkeit dem erweiterten Aufgabenbereich, der zunehmenden Bedeutung und der steigenden Inanspruchnahme der Justiz gerecht zu werden.63 Auch das Arbeits- und die Kölner Kammern des Landesarbeitsgerichts benötigten neue Räume, nicht zuletzt nachdem das neue Arbeitsgerichtsgesetz zum 1. Oktober 1953 in Kraft trat. Hinter dem Justizgebäude am Reichensperger Platz gab es Anfang der fünfziger Jahre ein noch immer unbebautes Grundstück. Hier wurde ein Behördenhaus errichtet, dessen Pläne vom Staatlichen Hochbauamt stammen. Nun setzte man bei größeren Bauobjekten auf Stahlbetonskelett-Bauweise und Flachdächer, nahm den Treppenhäusern ihre imponierende Größe und gestaltete sie stattdessen hell und licht.64 Auch Bauhauseinflüsse und eine gewissen Zurückhaltung wurden im Innern öffentlicher Neubauten prägend. Dies gilt – mit Einschränkungen – auch für das Behördenhaus, das in zwei Bauabschnitten errichtet wurde. Die erste Baustufe sah ein von der Blumenthalstraße zurückgesetztes, zweiteiliges Gebäude vor, das von der Hülchrather Straße bis etwa zur Mitte des Häuserblocks läuft und dessen südlicher Teil, heute die Mitte des Gebäudes bildet. Hier befand und befindet sich der Haupteingang. Auf den vier Geschossen des Haupttraktes ist eine halbe Etage als Speicher aufgesetzt. Statt Fenstern ist sie mit kleinen Belüftungsöffnungen versehen, die sich jeweils auf der Mittelachse der darunter liegenden Fenster befinden. Der nördliche Bauteil ist etwas weiter zurückversetzt. Die Fassade ist durch die Fensterreihen durchbrochen, zwölf im Mittelbau, neun im linken Teil, die sich durch die dunkle Steinumfassung von den verputzten Wänden absetzen. Die Fensteroptik mit einer Aufteilung auf vier Scheiben je Fenstern hat man bis heute beibehalten. Der Haupteingang ist durch die dunkle Naturstein62 Heinen, Moderne für die Römerstadt, S. 139. 63 Vgl. Klemmer/Wassermann/Wessel, Deutsche Gerichtsgebäude, München 1993, S. 135 f. 64 Klemmer/Wassermann/Wessel, Deutsche Gerichtsgebäude, München 1993, S. 137 f.

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In der oberen Bildmitte über dem OLG das Behördenhaus 1955: Noch gibt es nur diese beiden Trakte, das Arbeitsgericht zog unter dem Dach ein (LAG Köln)

Das erweiterte Behördenhaus rechts hinter dem OLG versteckt: in den 60er-Jahren Sitz zahlreicher Behörden (LAG Köln)

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Umfassung und die bis zum Boden reichenden Fenster im Erdgeschoss und die mittleren vier, ebenfalls raumhohen Fenster im zweiten Stock hervorgehoben. Von der hinter dem Eingang liegenden, mit Steinboden ausgekleideten Halle geht die Haupttreppe ab, deren Stufen von einem Messinggeländer geführt werden. Hier zog das Arbeitsgericht im Frühjahr 1954 ein65 und bezog die Räume 301 bis 319 im dritten Stock,66 die alle im nördlichen Trakt zur Straße liegen und durch den zentralen Flur erschlossen werden. Die Büros haben noch heute ihren Parkettboden, gleiches gilt für den Sitzungssaal 301, der sich im 3. Stock über dem Haupteingang befindet und vom Foyer aus zugänglich ist. In einem zweiten Bauabschnitt wurden Ende der fünfziger Jahre der Haupttrakt nach Süden verlängert und zwei Flügel an der Hülchrather Straße und der Merlowstraße errichtet. Wo das Gebäude erweitert wurde, ist vornehmlich im Inneren erkennbar. Während die Front an der Blumenthalstraße etwas Festungsartiges hat, verfügen die Seitenflügel über deutlich mehr Fensterfläche. Beide Seitenflügel haben ei­ gene Eingänge, hinter denen eindrucksvolle Treppenhäuser liegen. Eindrucksvoll, weil man dem Gebäude diese frei durch den weiß verputzten Raum geschwungenen Treppen gar nicht glauben will.67 Dieser zweite Bauteil des Behördenhauses dürfte im Jahr 1959 fertig gestellt worden sein. Dies belegt das Datum der Inbetriebnahme des Aufzugs in den Seitenflügeln.68 Auf den Betrieb des Arbeitsgerichts wird sich 65 Greven’s Adressbuch für das Jahr 1954 gibt noch das Justizgebäude Appellhofplatz und die Telefonnummer 211249 an, vermerkt aber „(ab Frühjahr 1954: Blumenthalstraße 33)“. 66 Vgl. Schreiben des dienstaufsichtsführenden Vorsitzenden vom 3.7.1967. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass das Arbeitsgericht bei seinem Einzug noch andere Räumlichkeiten bezogen hatte, allerdings liegen die Räume alle in einem Trakt, so dass es wahrscheinlich ist, dass das Gericht in dem einmal bezogenen Bereich verblieben ist. 67 Den Anbau in der Hülchrather Straße erkennt man nicht zuletzt auch daran, dass hier zwei Treppenhäuser unmittelbar nebeneinander liegen und die Glasbausteinwand am Ende des Hauptflures von innen verkleidet wurde. 68 Darüber hinaus ist Planungsakten über die im Hof errichtete Garage vom 4.7.1961 zu entnehmen, dass das Gebäude damals in seiner heutigen Form bestand. Spätere Planungen aus dem Jahr 1969 betreffen die Erweiterung der beiden Seitenflügel bis zur Grundstückgrenze mit überdachten Einfahrten, eine Tiefgarage im Hinterhof sowie mehrstöckige Erweiterungs-

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diese Erweiterung nur bedingt ausgewirkt haben. Allerdings waren im Behördenhaus neben dem Arbeitsgericht und dem Landesarbeitsgericht nun das Gewerbeaufsichtsamt, das Verwaltungsgericht, das Amt für Flurbereinigung und Siedlung, die zentrale Rechenstelle, die Wasserschutzpolizei, das Staatliche Bezirksseminar und das Staatshochbauamt untergebracht. Die Platzverhältnisse waren beengt und auch die Sonneneinstrahlung machte den Bediensteten zu schaffen. Im Sommer herrschten trotz der Vorhänge „Temperaturen von 45 Grad“.69 Zum Arbeitsgericht gehörten im April 1967 acht Richter, zwei Beamte und 13 Angestellte. Den Richtern standen nur sechs Zimmer zur Verfügung, so dass zwei Richter in einem Raum und ein weiterer Richter sogar in einem Beratungszimmer untergebracht werden mussten. Die Poststelle war ebenfalls im Beratungszimmer eines Sitzungssaals einquartiert. Ferner gab es ein Zimmer für den Geschäftsleiter und ein Zimmer für den Verwalter der Rechtsantragsstelle und eine Schreibkraft. Drei weitere Zimmer dienten als Geschäftsstelle mit Registratur. In den Geschäftsstellen waren auch Schreibkräfte untergebracht, deren Arbeit insbesondere durch den Publikumsverkehr litt. Zudem gab es ein Bibliothekszimmer für zwei Schreibkräfte, die Referendare und Anwälte, was insgesamt als „unmöglich“ empfunden wurde. Und so wurde der Zustand von den Schreibkräften „auch mit Recht energisch moniert“.70 Ein weiteres Beratungszimmer, das zwischen zwei Sitzungssälen lag, aber nicht vom Flur aus zugänglich war, kam als Ausweichmöglichkeit nicht in Frage. Und so machte sich das Arbeitsgericht ab Mitte der sechziger Jahre wieder Gedanken über seine zukünftige Unterbringung. Da eine Erweiterung des Behördenhauses in absehbarer Zeit nach Mitteilung des Staatshochbauamtes nicht durchgeführt werden würde, für das Jahr 1968 nicht einmal die Mittel für die Vorplanung eingesetzt wurden, sah man sich nach neuen Geschäftsräumen um. bauten im Hinterhof, die mit einer Brücke zum Hauptfoyer verbunden wären, gebaut wurde dies nie. 69 Erst im Sommer 1969 wurde der Einbau von außen angebrachten Jalousien als Sonnenschutz durch das staatliche Gewerbeaufsichtsamt beantragt, Schreiben vom 1.7.1969, laut Kostenvoranschlag sollte der Einbau von Luxaflex-Allwetterjalousien 190.000 DM kosten. 70 Anschreiben des Arbeitsgerichts an den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 14.3.1967.

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VI. Moderne Architektur: Hülchrather Straße 17–23 Gleich in der Nähe der Blumenthalstraße wurde das Arbeitsgericht fündig. Eine Unterbringung könnte in einem neu zu errichtenden Gebäude in der Hülchrather Straße 17-23 erfolgen. Der Bauherr, die Metallhüttengesellschaft Schumacher aus Rommerskirchen, hatte die drei unteren Etagen des insgesamt fünfstöckig geplanten Gebäudes bereits für zehn Jahre an das Amtsgericht Köln vermietet und bot dem Arbeits­ gericht die vierte und die fünfte Etage mit einer Gesamtfläche von 900 Quadratmetern an, so dass der Bau „dem Raumbedarf auch im Hinblick auf eine notwendige Reserve voll Rechnung tragen“ würde.71 In der Hülchrather Straße – von 1969 bis 1982 wohnte Heinrich Böll im Haus Nr. 7 – waren die Grundstücke zwischen Nr. 15 und Nr. 25 in den dreißiger Jahren unbebaut. Während Anfang des 20. Jahrhunderts rechts und links im „Gerichtsviertel“ um den Justizpalast am Reichens­pergerplatz großstädtische Ein- und Mehrfamilienhäuser errichtet wurden, befanden sich hier Garagen.72 Nach dem Krieg wurde zudem eine Tankstelle errichtet. Die Firma Schuhmacher73 kaufte die Grundstücke einschließlich der Tankstelle, um hier zu bauen und zu vermieten. Zunächst ließ man durch den Kölner Archi­ tekten Hans H. Platz im Frühjahr 1960 einen Komplex aus Tankstelle, Garagen und Motel planen. Zwei mehrgeschossige Flachdachhäuser mit großen Schaufenstern sollten rechts und links der Tankstelle mit Zufahrten zu den dahinter liegenden Garagen gebaut 71 Anschreiben des Arbeitsgerichts an den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 14.3.1967; der Quadratmeter-Preis lag bei 6,85 DM, ein beliebig langer Mietvertrag wurde angeboten. 72 Greven’s Adressbuch nennt für 1928 für die Grundstücke „o.N.“ (ohne Nummer) als Eigentümerin Frau von der Gröben aus Wiese bei Reichenbach (Ostpreußen), später deren Erbengemeinschaft und als Eigentümer der Garage Herrn Wilhelm Quabach Jun., Brüsseler Straße 67, später Riehler Straße 51. Allerdings sind im Adressbuch von 1916 Bewohner der Häuser 17, 19 und 23 aufgeführt, so dass dort Wohnhäuser gewesen sein müssen. 73 Der Begründer Franz Schumacher begann in der Amsterdamer Straße und schmolz Zinkrinnen, die in den Ruinen Kölns zu finden waren. Anfang 1950 zog das Unternehmen nach Rommerskirchen, wo es von 1960 bis 2002 ein Hüttenwerk unterhielt. Heute ist die Firma einer der führenden Hersteller von Bleikielen für den Schiffsbau.

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werden. Aber erst ab 1966 begann der Bau eines Bürohauses, das die ganze Straßenfront einnimmt und Tankstelle und Garagenzufahrten in seinem Erdgeschoss integrierte; der Architekt: Peter Neufert74. Peter Neufert, dessen baulicher Schwerpunkt in den fünfziger und sechziger Jahren liegt, hat das Stadtbild Kölns in entscheidender Weise geprägt.75 Aus der Masse der Nachkriegsarchitekten tritt er durch Kreativität, Farbe und unkonventionelle Form heraus. Sein Vater, Bürochef und Bauleiter bei Gropius, veröffentlichte das Standardwerk „Bauentwurfslehre“. Der Sohn beginnt sein Architekturstudium nach dem Krieg und macht sich zunächst einen Namen mit avantgardistischen Bauten, aber auch mit kosteneffizienter und termingerechter Bauweise.76 Ab den sechziger Jahren entwickelt Neufert die von ihm sogenannte „systemische Architektur“, unter der er seine Entwürfe zu einem Ordnungsprinzip zusammenfasst. Kennzeichnend sind Stahlskelettbauten mit Fenster- und Brüstungsbändern, die keine starre Achsenordnung der Fenster erfordern, eine freizügige Raumgestaltung ermöglichen und vor allem funktionale Ansprüche erfüllen.77 Diesem Prinzip entspricht auch das Gebäude Hülchrather Straße 17–23. Drei mit Fensterbändern versehene Quader kragen über dem Erdgeschoss hervor, der linke reicht mit seinem fünften Stockwerk über die anderen hinaus. Die Quader sind mit weißem und hellblauem Mosaik78 verkleidet, die großen Fenster sind die zu dieser Zeit typischen Drehfenster. Die übrige Fassade – von jeweils drei Fenstern nebenein74 Peter Neufert, Jahrgang 1925, gestorben 1999 in Köln, gründete 1955 sein eigenes Büro, das Atelier Neufert in Köln. Bekannt sind vor allem das Wohnhaus X1 in Hahnwald, das Kaufhaus Wormland auf der Hohe Straße, das Herkules-Hochhaus an der Inneren Kanalstraße oder das Keramion in Frechen, vgl. Soénius/Wilhelm, Kölner Personen Lexikon, Köln 2008, S. 391. Neufert baute zahlreiche Büro- und Marktgebäude für die Cornelius Stüssgen AG und auch das Firmengebäude der Firma Schumacher in Rommerskirchen. Die Neufert Stiftung in Weimar verfügt nach Auflösung des Büros nicht mehr über Unterlagen zur Hülchrather Straße. 75 Ghise-Beer, Das Werk des Architekten Peter Neufert, Dissertation, Wuppertal, S. 1. 76 Ghise-Beer, Das Werk des Architekten Peter Neufert, S. 27. 77 Ghise-Beer, Das Werk des Architekten Peter Neufert, S. 40. 78 Heute sind die drei Quader mit einem Wärmedämmputz und die beiden äußeren und das Erdgeschoss mit roten Farbanstrich versehen, der von unten nach oben dunkler wird.

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Moderne Architektur: Peter Neuferts Gerichtshaus im Jahr 1967 (Meurer)

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ander durchbrochen – ist mit grauem Klinker verkleidet, das Erdgeschoss mit grünem. Die beiden Zapfsäulen der Tankstelle fallen darin gar nicht auf. Das Haus wird durch zwei Treppenhäuser betreten, das Arbeitsgericht durch das linke. Lange Flure mit Pegulan-Böden führen durch die Etagen, von denen die Zimmer zur Straße und zur Gebäuderückseite abgehen. Das Arbeitsgericht würde einen eigenen Treppenaufgang und einen Aktenaufzug erhalten. Zudem war der Bauherr bereit, allen Raumeinteilungs­wünschen zu folgen, was auch Handwaschbecken für jedes der Richterzimmer beinhaltete. Durch die Garagen hinter dem Haus würde zudem ausreichend Parkraum zur Verfügung stehen. Da man beim Arbeits- und Sozialministerium davon ausging, dass das Behördenhaus in der Blumenthalstraße 33 alsbald ausgebaut werden­würde, sollte die Mietdauer längstens sieben Jahre betragen. Um Kosten zu sparen gab es sogar Überlegungen, ob nicht die Sitzungssäle im Behördenhaus verbleiben könnten.79 Dann hätten Richter, Sitzungs­personal und Akten jedoch ständig von dem Büroräumen in der Hülchrather Straße zu den Sitzungssälen in der Blumenthalstraße wechseln müssen. Daher wurden in der Hülchrather Straße auch Sitzungssäle für das Arbeitsgericht eingeplant. Gleichzeitig wurde dem Arbeitsgericht aufgegeben, sich unverzüglich mit dem Regierungs­ präsidenten in Aachen in Verbindung setzen, wenn für das Mietobjekt „eine Fernsprechanlage benötigt wird“, weil dort eine solche Anlage frei wurde.80 Der Arbeitsgerichtsdirektor Dr. Thiele wurde mit der Anmietung beauftragt, der Mietvertrag am 5. Mai 1967 auf sieben Jahre abgeschlossen81 und der 1. September 1967 als Einzugstermin geplant. Das 79 Schreiben des Arbeits- und Sozialministerium an den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts vom 30.3.1967, die im Behördenhaus frei werdenden Räume sollten ohnehin die Kölner Kammern des Landesarbeitsgerichts übernehmen. 80 Es handelte sich um die vom staatlichen Gewerbeaufsichtsamt Aachen benutze landeseigene Citomat-Schalteranlage 3/30/4, ein Fabrikat der Firma Standard-Elektronik-Lorenz. 81 Es wurde eine Kaltmiete in Höhe von 7,50 DM pro m2 vereinbart, zudem wurde der Mietpreis an den Preisindex für die Lebenshaltung von VierPersonen-Arbeitnehmerhaushalten mit mittlerem Einkommen geknüpft. Auf den Mietzins wurde „wegen der Sonderleistung der Vermieterin ent-

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Arbeitsgericht hatte in der vierten Etage 23 Räume und im fünften Obergeschoss acht Räume angemietet.82 Auf einen eigenen Aktenraum in der Hülchrather Straße musste das Arbeitsgericht verzichten und bewahrte seine Akten weiterhin in Raum 319 des Behördenhauses auf.83 Das Arbeitsgericht zog in die Hülchrather Straße ein, als die Bauarbeiter das Gebäude noch nicht ganz verlassen hatten. Tags zuvor waren noch Fehler am Aufzug behoben und am Treppenhaus gestrichen worden, die Baureinigung war noch im Gange.84 In den folgenden Wochen machte sich das Arbeitsgericht an die Anschaffung betriebsnotwendiger Einrichtungsgegenstände.85 Weder die Deckenbeleuchtung noch die Fenstervorhänge konnten für die neuen Räume verwendet werden, was zusätzliche Kosten bedeutete. Von dem Kauf einer neuen Wegweisertafel wurde zunächst abgesehen. Stattdessen sollte vom Landesarbeitsgericht eine verwendete Tafel zur Verfügung gestellt werden. Auch die Beschil­derung der Zimmertüren des Arbeitsgerichts war mit einigen Überlegungen und Planungen verbunden. So wurden Kostenvoranschläge verschiedener Firmen erörtert und weiterhin über eine Anschaffung einer „Belco“-Wegweisertafel mit poliertem Alurahmen oder einer der Marke Movitex nachgedacht.86 Der vom Arbeitsgericht weiterhin im Behördenhaus genutzte Aktenraum sprechend dem Gutachten des Regierungspräsidenten“ ein Zuschlag von 0,50 DM pro m² vereinbart. Die Miete, die ab dem 1.8.1967 gezahlt wurde, betrug laut Kassenanweisung vom 11.9.1967 zunächst 6.003,92 DM für die mit 750,59 m² kalkulierte Mietfläche. Schon ein Jahr später betrug der Mietzins 6.303,92 DM. 82 Nutzflächenberechnung vom Atelier Neufert Köln vom 24.8.1967, vom Staatshochbauamt Köln am 30.8.1967 geprüft. 83 Schreiben des Präsidenten des Landesarbeitsgericht an den aufsichtsführenden Vorsitzenden des Arbeitsgerichts vom 9.6.1967 über den Begehungstermin vom 31.8.1967. 84 Schreiben des Staatshochbauamts Köln an das Arbeitsgericht vom 19.9.1967. 85 Beispielsweise Fußabstreifer für den Hauseingang oder ein neues Fernsprechbuch, die Beschriftung der Außenglastür mit dem Aufstrich „Arbeitsgericht Köln, Briefeinwurf nach Dienstschluss: Blumenthalstraße 33, Behördenhaus“, oder insgesamt 42 Schlüssel, die am 26.7.1967 vom bauausführenden Atelier Neufert ausgegeben wurden. 86 Anschreiben des Arbeitsgerichts vom 27.10.1967 an den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts.

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sollte ab dem Frühjahr 1969 geräumt und anschließend vom Landesarbeitsgericht genutzt werden,87 so dass nun doch Platz für abgelegte Akten gesucht wurde. Gerichtsbesucher bemerkten immer wieder die vielen Wohnsitzlosen in der Nachbarschaft, und die „Schnapsleichen“, die auch neben dem Gericht nächtigten: Grund hierfür war ein von den Eigentümerinnen des Hauses Nr. 15 im Hinterhaus unterhaltenes Asyl. Auch der Geschäftsbetrieb hinterließ seine Spuren. Der neue Direktor Heinrich Theilenberg ließ nach seinem Dienstantritt die Podeste, auf denen die Richtertische standen, entfernen. Mitte des Jahres 1971 mussten die Sitzungssäle 406 und 408 an den Stirnwänden instand gesetzt werden lassen, weil sich der Verputz gelöst hatte. Wände und Fenster waren nicht isoliert, so dass im Winter energisch geheizt werden musste. Im Oktober 1971 ging es wieder einmal um die Gebäudeausstattung. Da keine besonderen Beratungszimmer im Arbeitsgerichtsgebäude zur Verfügung standen, fanden die Beratungen in den Dienstzimmern der jeweiligen Vorsitzenden statt, denen eine „schallschluckende Einrichtung“ fehlte, hierfür sollten neue Türen angeschafft werden.88 Raucher mussten sich in dieser Zeit kaum Gedanken machen, nur in den Sitzungssälen war Rauchen verboten.89 Ende 1972 kam das Arbeitsgericht nicht mehr mit den ihm in der vierten und fünften Etage zur Verfügung stehenden Räumen aus. Das Amtsgericht stellte jedoch ab Januar 1973 den Sitzungssaal Nr. 4 im 87 Die Kosten für den Umzug der Akten aus diesem Raum in den Keller wurden von einem Umzugsunternehmen in Höhe von 300,00 DM angesetzt. Dies war zu teuer, so dass schließlich zwei Bedienstete des Amtsgerichts beauftragt wurden, die den Umzug für je 100,00 DM erledigten, vgl. Aktenvermerk vom 28.5.1969. Der Umzug war erfolgreich und die vereinbarte Vergütung wurde am 13.6.1969 ausgezahlt. 88 Im Schreiben des Arbeitsgerichtsdirektors an den Präsidenten des Arbeitsgerichts vom 19.10.1971 heißt es, das in den Zimmern in normaler Lautstärke geführte Gespräche auf dem als Warteraum dienenden Flur ohne weiteres zu verstehen seien, so dass eine Wahrung des Beratungsgeheimnisses nicht sichergestellt sei. Die Zimmer der Vorsitzenden müssten zumindest mit schallschluckenden Türen versehen werden. 89 Allerdings hielt sich – wie berichtet wird – nicht jeder daran. Der kriegsversehrte Vorsitzende der 3. Kammer ließ für die geheime Beratung die Besucher den Sitzungssaal verlassen – und rauchte dann im Saal, den Aschenbecher immer unter dem Richtertisch.

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ersten Stockwerk des Gebäudes immer dienstags zur Verfügung.90 Zu diesem Zeitpunkt war jedoch schon der Umzug des Arbeitsgerichts in ein neues Dienstgebäude für August 1973 geplant, zusätzlicher Raumbedarf für Akten, zusätzliche Arbeit nach Einführung des BetrAVG und des BetrVG verlangten dringend nach mehr Platz.91 Tatsächlich umgesetzt wurde der Umzug in die nächste Station des Arbeitsgerichts aber erst im Dezember 1973 – nach fast sieben Jahren in der Hülchrather Straße.

VII. Gründerzeitbau: Aduchtstraße 7 Das Gericht blieb im Agnesviertel und bezog nur zwei Straßen weiter in der Aduchtstraße das Haus Nr. 7. Die Aduchtstraße hat noch ihr ursprüngliches Erscheinungsbild erhalten: rhythmisch angeordnete Fassaden, Fassadendekorationen, Risalite und Erker mit Dachaufbauten in Formen des Neoklassizismus und Jugendstils. Das Gerichtsviertel um das Oberlandesgericht entstand ab 1881, die Aduchtstraße wurde im Wesentlichen in den Jahren 1900 bis 1912 mit repräsentativen Großmietshäusern bebaut. Das Haus Nr. 7 wird 1915 fertiggestellt worden sein92 und ist Teil der geschlossenen Bebauung. In der verputzten, symmetrisch gegliederten Ziegelfassade finden sich Erker in der zweiten und fünften Achse auf einem trapezförmigen Grundriss mit abschließenden Balkonen, und gerahmte Rechteckfelder mit Stuckreliefs, Stockwerk- und Traufgesimse. Das Haus ist zur 90 Zunächst war man beim Arbeitsgericht davon ausgegangen, ab 1972 die dritte Etage vom Amtsgericht übernehmen zu können, da beabsichtigt war, „in einem Neubau des Gerling Konzerns 5.000,00 m² anzumieten, um eine Entlastung am Reichenspergerplatz herbei­ zuführen“, Anschreiben des Arbeitsgerichts an den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 28.6.1971. 91 Schreiben des Präsidenten des Amtsgerichts an den aufsichtsführenden Richter des Arbeitsgerichts Köln vom 19.12.1972. 92 Der Stadtkonservator gibt „um 1910“ an, in Greven’s Adressbuch findet sich ab 1915 ein Eintrag. Eigentümer des Hauses war zunächst der Architekt Heinrich Bohne, der die erste Etage bewohnte, im Jahr 1928 wird die Rheinische Grundstückshandelsgesellschaft, Berlich 32, im Jahr 1941 werden die Eheleute Krantz als Eigentümer benannt. 1916 wohnte dort nicht nur ein Strafanstaltslehrer, sondern auch ein Strafanstaltsgeistlicher.

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Gründerzeitbau in der Aduchtstraße: hinter eine dunkelgrüne Fassade rechts im Bild zieht 1973 das Arbeitsgericht ein (© Rheinisches Bildarchiv Köln)

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Straße mit einem breiten Ziergiebel gekrönt. Es entspricht mit dieser repräsentativen, gestalterisch aufwändigen Fassade dem vornehmen Charakter der Aduchtstraße. Noch original erhalten findet der Besucher das Vestibül mit eisernem Handlauf und im Treppenhaus die Terrazzotreppe und die Podeste vor.93 Das Gebäude ist seit dem Jahr 1995 denkmalgeschützt. Allerdings zog das Arbeitsgericht nicht in ein Haus ein, wie es mit seinem jetzigen Zustand unseren Vorstellungen von „Gründerzeithaus“ und „Altbau“ entspricht. Das Gebäude wurde zunächst vom Eigentümer umgebaut und mit einem Aufzug versehen, der allerdings nur auf den Treppenabsätzen zwischen den Etagen hält und somit nicht behindertengerecht ist. Die Fassade bekam einen dunkelgrünen Anstrich und die hohen Decken wurden abgehängt, um Beleuchtung und Elektroinstallationen unterbringen zu können. Auf dem Boden lag PVC. Im Obergeschoss befand sich ein Aufenthaltsraum, der auch für Karnevalsfeiern genutzt wurde. Sicherheitseinrichtungen gab es dagegen nicht. Sie hätten auch nicht verhindert, dass ein Prozessbeteiligter eines Tages die Türen eines Beratungszimmers und eines Richterzimmers eintrat und mit der Richterrobe in der Hand deren Besitzerin suchte, weil er sie heiraten wolle. Im April 1977 verfügte das Arbeitsgericht über 14 Richter und über 45 weitere Bedienstete,94 die auf 49 Büro- und 26 Nebenräume verteilt waren.95 Zunächst bestand auch die Möglichkeit, dem Landesarbeitsgericht an einem Tag in der Woche mit einem Sitzungssaal nebst Beratungszimmer auszuhelfen. Der umfangreichen Korrespondenz über einen im Jahr 1977 geplanten Umzug in das Gebäude An den Dominikanern 2 lassen sich weitere Details entnehmen: Das Arbeitsgericht hielt seinerzeit mit jeder Kammer eine Güte- und eine Kammersitzung pro Woche ab und ging davon aus, dass jedenfalls bei 18 Kammern96 acht Sitzungssäle gebraucht würden. Ausreichender Archivraum war 93 Denkmalbeschreibung des Wohnhauses Aduchtstraße 7, Nr. 7493. 94 Anschreiben an den Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales vom 4.4.1977. 95 Insgesamt waren es 1.391,86 qm und weitere 110,68 qm Nebenfläche. 96 Nach den Plänen des Staatshochbauamtes sollte das Arbeitsgericht im Jahre 1981 insgesamt 18 Richterplanstellen haben und zudem 48,6 Planstellen für Beamte des gehobenen Dienstes und Angestellte umfassen.

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für „50.000 lebende Akten“ notwendig,97 die mangels eines eigenen Wachtmeisters von den Geschäftsstellenangestellten selbst aus dem Archiv geholt wurden. Die Zahlstelle, der Kostenbeamte und die Rechtsantragstelle hatten den stärksten Publikumsverkehr und waren daher im Erdgeschoss untergebracht. Noch heute findet sich im Sekretariat einer im Erdgeschoss eingezogenen Kanzlei hinter einem Bild der verschlossene Wandtresor des Arbeitsgerichts. Über seinen Inhalt kann man rätseln, denn einen passenden Schlüssel hat man bis heute nicht mehr finden können. Jede Geschäftsstelle war mit zwei Angestellten besetzt, die insgesamt vier Kammern bearbeiteten. Es gab ferner eine Bücherei und ein Referendarszimmer. Für die Besucher und Beschäftigten des Gerichts fanden sich in den Straßen rund um das Gericht ausreichend Parkplätze – ein wichtiger Gesichtspunkt, der gegen den geplanten Umzug sprach.98 Auch der Personalrat machte mit Schreiben vom 17. Mai 1977 Bedenken gegen einen Umzug geltend. Das Haus Aduchtstraße 7 sei ein Gebäude, das „nach unseren eigenen Wünschen und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten von dem damaligen Hauseigentümer umgebaut wurde. […] Die Angehörigen des Arbeitsgerichts Köln wohnen zu etwa 60 % in den Gebieten Porz, Bensberg, Bergisch Gladbach, Erftstadt, Brühl und Wesseling. Die restlichen haben diesen Arbeitsplatz gewählt, weil sie in unmittelbarer Nähe der Aduchtstraße ihre Wohnung haben und daher ohne Aufwendung von Fahrtkosten das Gericht erreichen können. Durch die großzügige Parkraumgestaltung ist es für die auswärtigen Angehörigen jederzeit möglich, daß Gericht mit dem eigenen PKW zu erreichen. Das ist in der Innenstadt nicht 97 Ergebnisprotokoll der Sitzung vom 25.11.1977 an das Landesarbeitsgericht; allerdings waren die Keller der Aduchtstraße hochwassergefährdet und wurden auch überflutet. 98 Parkplatzprobleme hatte das Ministerium mit Hinweis auf den Präsidenten des Sozialgerichts verneint, hierauf merkte der Arbeitsgerichtsdirektor Theilenberg mit Schreiben vom 18.5.1977 süffisant an: „Natürlich treten Parkplatzprobleme dann nicht auf, wenn der Dienstwagen des Präsidenten einen Parkplatz hat und alle Angehörigen des Gerichts mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommen. Die Verhältnisse für das Arbeitsgericht Köln sind aber erheblich anders. Bei ca. 30 Sitzungen in der Woche würden bereits die Prozessbevollmächtigten, von den Parteien ganz zu schweigen, in eine erhebliche Parkplatznot geraten.“

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Und keiner weiß heute, was darin ist: alter Wandtresor der Zahlstelle des Arbeitsgerichts (Lützeler)

möglich, da sich dort als einzige Parkmöglichkeiten zwei Parkhäuser anbieten, die pro Stunde eine Parkgebühr von 0,80 DM bis 1,– DM fordern“. Bei einem Umzug befürchtete der Personalrat, dass „das ausgezeichnete Betriebsklima innerhalb des Gerichts […] erheblich Schaden leidet“. Es werde eine Verschlechterung für die Angehörigen des Gerichts, das Publikum und die Prozessbevollmächtigten eintreten. Angestellte des Gerichts könnten wegen der auf sie möglicherweise zukommenden Belastungen kündigen.99 Das Gericht blieb bis 1995 in der Aduchtstraße. Da aber waren die Raumprobleme schon wieder so gravierend, dass Akten auf den Fluren gelagert werden mussten. Als eines morgens in einem der Sitzungssäle herabgestürzte Deckenteile gefunden wurden, war das Maß voll. Ohnehin war die elektrische Ausstattung für das Computerzeitalter gänzlich ungeeignet, ein weiterer Umzug wurde unumgänglich. Und

99 Anschreiben des Personalrats an den Direktor des Arbeitsgerichts vom 17.5.1977.

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so erinnert in der Aduchtstraße 7 heute nur noch der große Gerichtsbriefkasten an die Zeit, als sich hier das Arbeitsgericht befand.100

VIII. Heute: Pohligstraße 9 Wo sich heute das Arbeitsgericht befindet, war bis Ende der achtziger Jahre Industriegelände.101 Der Ingenieur Julius Pohlig errichtete 1890 hier Fertigungsanlagen und Verwaltung für seine Fabrik,102 die Seilbahnen und -kräne sowie Förder- und Verladeanlagen baute.103 Nicht nur die Rheinseilbahn in Köln, die zur Bundesgartenschau 1957 errichtet wurde, stammt von Pohlig, die Firma baute 1912 auch die Seilbahn auf den Zuckerhut in Rio de Janeiro. An die Fabrik, die 1988 geschlossen wurde, erinnert heute nur noch der gegenüberliegende Wohnblock aus den zwanziger Jahren, für den die Firma Pohlig ein Vorschlagsrecht bei der Wohnungsbelegung hatte.104 Nach einem 1992 durchgeführten Wettbewerb bauten die BerlinKölnische Versicherungen nach dem Abriss der Fabrik auf dem Gelände ihre Direktion, ein Parkhaus als Abschirmung zu den Gleisanlagen und ein Bürohaus, das ursprünglich eine Filiale der Versicherung beherbergen sollte.105 Der verantwortliche Projektpartner im Büro KSP Engel Kraemer Schiedecke Zimmermann Architekten BDA war der Kölner Architekt Kaspar Kraemer, der sich dem klassischen Schönheitsideal und den Prinzipien Karl Friedrich Schinkels verpflichtet hat: „Ein klarer Ku100 Das Schild des Arbeitsgerichts hängt auf einem der Flure in der Pohligstraße. Dort findet sich auch ein Foto zweier Stühle, wie sie in der Aduchtstraße genutzt wurden. 101 Die Pohligstraße hieß früher Kanalstraße, vgl. Heinen/Pfeffer, Kölns Siedlungen 1888–1938, Köln 1988, S. 194. 102 Die Pohlig GmbH, später J. Pohlig AG und Pohlig-Heckel-Bleichert Vereinigte Maschinenfabriken AG (PHB) fusionierte 1980 zur PHB Weserhütte AG (PWH) und ging 1987 in Konkurs. 103 Soénius/Wilhelm, Kölner Personen Lexikon, Köln 2008, S. 427. 104 Es handelt sich um ein typisches Beispiel für die Mischung des Kölner Expressionismus und den Heimatstil städtischer Prägung, Heinen/Pfeffer, Kölns Siedlungen 1888–1938, Köln 1988, S. 197. 105 Der Bau wurde beim Architekten als „BKV Filiale Pohligstraße“ mit der Projektnummer 171 geführt.

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bus, gut proportionierte Fassaden, Disziplin, die Suche nach dem Angemessenen, auch eine bestimmte Form der Bescheidenheit“.106 Viel davon findet sich bei genauerem Hinsehen auch an der Pohligstraße. Auch heute, fünfzehn Jahre später, kann Kaspar Kraemer zahlreiche Details des Gebäudes, das er auch auf seiner Homepage abbildet,107 auf Anhieb benennen: Das Gebäude an der Pohligstraße sollte den vor der Hauptverwaltung liegenden Platz an seiner nördlichen Seite abschließen. Das bis an den Bahndamm heranreichende Parkhaus war zu diesem Zeitpunkt schon errichtet. Die Grundlinien des daran angesetzten Bürohauses sind auf den Vorplatz ausgerichtet, der vom Plantanen-Hain auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, Studienort Kaspar Kraemers, inspiriert ist. Um den Platz auch im Westen optisch abzuschließen, war eine Brücke von der Hauptverwaltung zum Pohligstraßen-Komplex geplant. Und auch für das dem Arbeitsgericht gegenüberliegende Grundstück, auf dem sich heute ein Autohaus befindet, war ein fünf­ geschossiger Bau als Rahmung des Durchgangs zur Stadt vorgesehen. Der Stahlbetonskelettbau des Arbeitsgerichts ist durch drei Materialen geprägt – Granit, Glas und Metall – und setzt damit die Fassade der Hauptverwaltung fort. Durch die abfallende Berlin-Kölnische-Allee hinunter zur Pohligstraße ergab sich der Sockelbau des Gebäudes, der ebenfalls mit geflammten Waldsteingranit verkleidet ist. Die bis zum Boden reichenden Fenster des ersten Stockwerks entsprechen denen im Erdgeschoss des Nachbargebäudes. Die Fassade, gegliedert durch den Wechsel aus transparenten und geschlossenen Flächen, folgt einem Einheitsmodell, das im Inneren Normzimmer ermöglicht. Wer die Fensterflächen genau betrachtet, der erkennt auch hier die Planung des Architekten: sie bestehen aus jeweils neun Teilen, das Fenster in der Mitte ist quadratisch, die großen Scheiben rechts und links lassen sich öffnen. Durch die darunterliegenden Fensterscheiben fällt Licht, ohne dass die Fensterbänke zum Öffnen frei geräumt werden müssen. Beim Arbeitsgericht sind die unteren Glasflächen emailliert, und doch bleibt der Eindruck einer durchgehenden Glasfläche. In dem 106 Interview mit Kaspar Kraemer „Städte sollen schön sein“, Die Welt, Nr. 168 vom 22.7.2002, S.27. 107 http://www.kaspar-kraemer.info/page/de/projekte/26.htm.

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vom Pensionssicherungsverein gemieteten Gebäudeteil sind die Fenster im Erdgeschoss ebenso weit zurückversetzt wie in der obersten Etage. Durch die am Staffelgeschoss über die gesamte Gebäudebreite gezogene und zurückgesetzte Glasfront wird die Länge dieses 216 Meter langen Baukörpers betont. Der am Staffel­geschoss angebrachte hervorragende Zenitblendschutz verhindert schließlich, dass der Blick über das Haus in den Himmel gleitet. So weist die Pohligstraße zahlreiche Details auf, die der flüchtige Betrachter nicht wahrnimmt. Über den Eingangsbereich ist der Architekt auch heute noch ein wenig unglücklich. Nachdem feststand, dass das Arbeitsgericht einziehen würde, ließ die weitere Planung keine zusätzlichen Kosten mehr zu. Die Fertigstellung vom Büro- zum Behördengebäude begleitete der damalige Direktor des Arbeitsgerichts Franz-Joachim Thür. Und wie in der Vergangenheit war das Budget zu schmal für repräsentative Ansprüche­, preiswert und nüchtern sollte es werden.108 So kam es auch nicht zu einer zweigeschossigen Eingangshalle, die sich Kasper Kraemer hierfür vorgestellt hätte. Auch die Verkleidung des Parkhauses mit den Aluminiumplatten war den Kosten geschuldet. Kaspar Kraemer hätte sich hier durchaus andere Lösungen gewünscht. Wie dieser Fassadenteil nach Kraemers Vorstellungen hätte aussehen können, kann seinem Hochwasserpumpwerk an der Schönhauser Straße am Kölner Rheinufer angesehen werden und – so räumte der Architekt ein – auch eine wechselnde Beleuchtung wäre nicht undenkbar. Für den Ausbau des Arbeitsgerichts mussten die Architekten das vorgegebene Raumprogramm erfüllen. Die Sitzungssäle und Beratungszimmer machten eine Verlängerung der 1. Etage in den Hof erforderlich, was wiederum zum Einbau der Oberlichter führte. Allerdings waren die Leitungen der Heizung schon verlegt, so dass heute in den Beratungszimmern Heizkörper fehlen. Und so blieb ein Eindruck bei Kaspar Kraemer hängen: ein „spartanisches“ Inneres. Mit dem Umzug in die Pohligstraße – der Auszug fand über den Jahreswechsel statt, ohne dass eine Sitzung aufgehoben werden musste – hielt auch die EDV Einzug ins Arbeitsgericht. Die weiß gestrichenen Zimmer mit grauem Teppichboden verfügen über entsprechende An108 „Dies ist kein Justizpalast des 19. Jahrhunderts, wo sich die Leute bereits schuldig fühlten, wenn sie die Treppe hinaufgingen.“, so der Direktor Thür bei der Eröffnung, Kölner Stadt-Anzeiger vom 3./4.2.1996.

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schlüsse und Ausstattung und wurden mit neuem Mobiliar aus hellem Holz versehen. Nun gab es in jeder Etage eine Teeküche und es stand endlich wieder ausreichend Platz zur Verfügung. Die Bereiche mit Besucherverkehr sind im unteren Teil des Gebäudes, Rechtsantrags- und Poststelle im Erdgeschoss, die neun Sitzungssäle darüber. In den weiteren Etagen befinden sich die Geschäftsstellen und die Richterbüros. Die Verwaltung einschließlich des Direktors des Arbeitsgerichts ist im 4. Stock untergebracht. Heute ist das Gericht schon wieder über 15 Jahre in der Pohligstraße. In dieser Zeit hat es auch zahlreiche Veränderungen gegeben: Im Dezember 1997 wurde der Nachtbriefkasten so beschädigt, dass man hineingreifen konnte. Die Bundespräsidenten haben gewechselt. Die Raucherzone und den Münzfernsprecher gibt es nicht mehr, dafür wurde im Eingangsbereich ab dem Jahr 2003 eine Personenkontrolle eingeführt und später eine Sicherheitsschleuse eingebaut.109 Vor einiger Zeit musste der Fassadensockel von Algen gereinigt werden, aber nur wenige Graffiti sind zu sehen. Von außen betrachtet wirkt das Haus modern, zeitlos – sehr zu seinem Vorteil. Von innen ist es ein typisches Arbeitsgericht, einfach, funktional.

IX. Ausblick Der Mietvertrag in der Pohligstraße läuft noch bis zum Jahr 2015. Es ist keineswegs ausgemacht, dass das Arbeitsgericht nicht wieder umzieht. Das Behördenhaus in der Blumenthalstraße steht zu großen Teilen leer. Hier ist neben dem Landesarbeitsgericht noch reichlich Platz für weitere Gerichte. Planungen beschäftigen sich mit einem Arbeits- und Sozialgerichtszentrum, das Landesarbeitsgericht, Arbeitsgericht und Sozialgericht beherbergen könnte. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass das Arbeitsgericht im Jahr 2016 wieder an die Stelle zurückkehrt, wo es schon einmal vor über sechzig Jahren seinen Sitz hatte. Auch das ist die Geschichte der Kölner Arbeits­gerichte. 109 Bei 350 bis 450 Besuchern pro Tag kam es in der Anfangszeit immer wieder zu einem Stau, der bis auf die Straße reichte, vgl. Schreiben des Direktors des Arbeitsgerichts vom 1.4.2003.

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Vom Geist des Gerichts Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Hanau em. ordentl. Professor an der Universität zu Köln

VI. Gleichbehandlung – Dis­ kriminierung . . . . . . . . . . 139 VII. Koalitions- und Arbeits­ kampfrecht . . . . . . . . . . . 140 VIII. Betriebsverfassung . . . . . 141 IX. Kölner Schule. . . . . . . . . . 142

I. L’esprit des cours . . . . . . . . 135 II. Der Zeitfaktor . . . . . . . . . . 136 III. Das Selbstverständnis des Instanz­gerichts. . . . . . . . . . 136 IV. Menschlich-Allzumenschliches . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 V. Arbeitsvertragsrecht. . . . . . 137

I. L’esprit des cours Im Gegensatz zu Menschen altern Institutionen nicht, da sie sich durch neue Mitglieder immer wieder verjüngen. Sie bleiben nicht stehen, sondern entwickeln sich weiter. Deshalb ist zu fragen, was aus dem traditionsreichen Arbeitsgericht Köln nach 200 Jahren geworden ist, wes’ Geist es heute ist. Montesquieu, der Apostel der Gewaltenteilung, erklärte den esprit des lois, den Geist der Gesetze, aber nicht den esprit des cours, den Geist der Gerichte, die er nur für das Mundstück des Gesetzgebers hielt. Heute wissen wir es besser, aber damit wissen wir noch nicht, was der Geist eines Gerichts ist oder sein kann. So viele Richter, so viele Geister, und es ist schwer, sie auf einen Nenner zu bringen. Andererseits ist der Richter nicht allein und denselben vielfältigen Einflüssen ausgesetzt wie seine Kollegen, mit denen er in ständigem Austausch steht. Deshalb hat der Verfasser Herrn Dr. Gäntgen, den Direktor des Arbeitsgerichts Köln, um einige exemplarische Entscheidungen des Gerichts gebeten, die vielleicht etwas von seinem Geist spüren lassen. Daraufhin wurden 20 Entscheidungen aus neuerer Zeit benannt und zur Verfügung gestellt, die im Folgenden betrachtet werden.

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II. Der Zeitfaktor Gerechtigkeit lässt sich nicht auf eine Formel bringen wie Energie (E = mc²). Wenn es überhaupt eine Formel für gerechte Urteile gibt, dann vielleicht diese: Gerechtigkeit ist gleich Richtigkeit mal Zeit (recht – zeitig). Das richtige Urteil dient der Gerechtigkeit nicht oder nicht genug, wenn es zu spät kommt, und das schnelle Urteil ist nur gerecht, wenn es richtig ist. Dabei sind die Faktoren nicht konstant; mal kommt der Richtigkeit besondere Bedeutung zu, mal der Geschwindigkeit. In den exemplarischen Fällen des Arbeitsgerichts Köln lagen durchschnittlich acht Monate zwischen Klage und Urteil, etwas mehr als der generelle Durchschnitt von ca. fünf Monaten. Entgegen dem ersten Anschein ist dies eine kurze Zeitspanne, wenn man die große Belastung des Gerichts bedenkt, die große Nachfrage nach seinen Leistungen. So erging am 12.8.2008 in der Rechtssache 17 Ca 51/08 das Urteil auf eine am 3.1.2008 eingereichte Klage. Wie das Aktenzeichen erkennen lässt, waren bei dem Gericht am 2. und 3.1 bereits 51 Sachen eingegangen, und das war sogar wenig, da den Kammern ausweislich der Aktenzeichen bis zu 10 000 Sachen und mehr im Jahr zugeteilt werden, also 40 pro Arbeitstag, zur Zeit ca. 700 Sachen pro Kammer jährlich. Dabei die Übersicht zu behalten und sich Zeit für besonders bedeutsame Sachen zu nehmen, ist eine hervorragende Leistung.

III. Das Selbstverständnis des Instanzgerichts Aus der Zeit und Mühe, die auf besonders bedeutsame Sachen verwendet wird, lässt sich auf das Selbstverständnis des Instanzgerichts schließen. Auch und gerade wenn ersichtlich ist, dass die Sache im Instanzenzug nach oben gehen wird, bringt sich das Gericht voll ein, vertieft den Sach- und Streitstand und nimmt dezidiert Stellung, wie im Folgenden gezeigt wird. Bemerkenswert ist auch, dass die speziellen und schwierigen Angelegenheiten des Pensionssicherungsvereins a.G., für die das Arbeitsgericht Köln örtlich zuständig ist, nicht besonderen Kammern zugewiesen sind. Der Instanzrichter lässt sich nicht einengen, weil er sich ständig vielfältigen Herausforderungen stellen muss. 136

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IV. Menschlich-Allzumenschliches Das Arbeitsgericht Köln engagiert sich nicht nur bei großen Sachen, sondern widmet seine Aufmerksamkeit auch dem Banalen und Skurrilen, Menschlich-Allzumenschlichen. Das Gericht ist nicht abgehoben, sondern lässt sein Licht auch in diese Sphäre leuchten. Vielleicht macht sich hier etwas Kölsches bemerkbar. Man ist nicht vornehm distanziert, sondern dem Menschlichen nahe. Allerdings macht man kurzen Prozess, wenn das Banale überhand zu nehmen droht. So wurde eine Kündigung in der Probezeit wegen „ungepflegten Erscheinungsbildes und Schweißgeruchs“ aufgrund der subjektiven Einschätzung der Vorgesetzten bestätigt. Eigenen Augen- oder genauer Geruchsschein hielt das Gericht nicht für nötig (Urteil vom 25.3.2010, 4 Ca 10458/09). Ebenso wenig war das Gericht geneigt, sich näher mit dem Toilettenaufenthalt eines Arbeitnehmers zu befassen; die vom Arbeitgeber ermittelten­384 Minuten in 14 Tagen könnten nicht auf die Gesamtdauer des Arbeitsverhältnisses hochgerechnet werden (Urteil vom 21.1.2010, 6 Ca 3846/09). Kein Pardon gibt es nach wiederholten Abmahnungen: eine beharrliche Arbeitsverweigerung kann darin liegen, dass der Arbeitnehmer trotz wiederholter Abmahnung während der Arbeitszeit Skat gespielt oder sonstige Dinge getan hat, die außerhalb seines Aufgabenbereichs liegen (Urteil vom 22.8.1968, 5 Ca 2035/68), ein Vorläufer der Rechtsprechung zur privaten Internetnutzung während der Arbeitszeit. Freude am skurrilen Detail lässt schließlich ein Urteil vom 23.9.1986 (1 Ca 6483/86) erkennen, in dem es um das Eigentum an dem Wachhund „Fiena vom Olfener Kirchspiel“ ging und der Verdacht bestand, dass der Wachmann dem Hund die „Schappi-Dosen“ weggegessen hatte.

V. Arbeitsvertragsrecht All dies sind freilich nur Randerscheinungen. Im Mittelpunkt der Tätigkeit des Gerichts stehen die typischen Probleme und Konflikte des Arbeitslebens, die auch die erste Instanz immer wieder zu den ak­ tuellen Streitfragen des Arbeitsrechts führen. In einem am 22.5.2002 (9 Ca 12433/01) entschiedenen Fall hatte ein Fahrer ein Dieselfahrzeug zunächst versehentlich mit Super-Benzin betankt und den Fehler 137

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verschlimmbessert, indem er Diesel nachtankte. Der Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers wurde in gründlicher Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zum innerbetrieblichen Schadensausgleich bejaht, die Aufrechnung gegen den unpfändbaren Teil des Lohnanspruchs aber verneint, da die Aufrechnungsbeschränkung des § 394 BGB auch in solchen Fällen zu respektieren sei; die Grundsätze von Treu und Glauben könnten den Wortlaut des Gesetzes nicht erschüttern. Die in diesem Urteil zum Ausdruck kommende Treue gegenüber dem einzelnen Gesetz prägt auch die anderen exemplarischen Urteile zum Arbeitsvertragsrecht. So ist nach einem Urteil vom 16.8.1963 (9 Ca 205/63) ein Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers auch bei einer Freistellung des Arbeitnehmers während der Kündigungsfrist nur abgegolten, wenn der Arbeitgeber dies ausdrücklich erklärt oder der Arbeitnehmer den Urlaub für die Kündigungsfrist verlangt hat. Die formelle Seite des Rechts wird also ernst genommen. Besonders deutlich kommt diese Einstellung in einem Urteil vom 25.5.1993 (16 Ca 9583/92) zum Ausdruck, mit dem ein allgemeines Widerrufsrecht eines Arbeitnehmers gegen einen unter Zeitdruck geschlossenen Aufhebungsvertrag abgelehnt wurde. Eine Rechtsanalogie zu anderen Widerrufsrechten sei ebenso wenig möglich wie eine richterliche Rechtsfortbildung oder eine Erweiterung des Gedankens aus § 242 BGB. Das BAG hat dies kurz darauf bestätigt (Urteil vom 30.9.1993, AP § 123 BGB Nr. 37). Recht speziell, aber in die gleiche Richtung gehend ist ein Urteil vom 21.6.1996 (2 Ca 9187/95), das eine Vereinbarung im Umkreis des früheren § 128 AFG aufrecht erhielt und eine objektiv funktionswidrige Umgehung des § 32 I SGB I ablehnte. Besonders engagiert zeigt sich ein Urteil vom 8.1.2009 (22 Ca 9333/07) zu der Frage, ob Hausbrandbezugsrechte zur betrieblichen Altersversorgung gehören und ob die Bergmannsversorgung als Invaliditätsrente einzuordnen ist. Obwohl dies sehr spezielle Fragen sind, werden sie von dem Urteil so ernst genommen, dass es sich gegen ein früheres Urteil des LAG Köln stellt und die einschlägige Rechtsprechung des BAG weiterentwickelt, vom BAG im Rechtszug teilweise gebilligt (BAG vom 16.3.2010, 3 AZR 594/09). Dieses Urteil ist ein Beleg dafür, dass voraussichtlich im Instanzenzug weitergehende Sachen von dem Arbeitsgericht nicht einfach durchgewinkt, sondern 138

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besonders gründlich aufbereitet werden. Außerdem mag eine Rolle gespielt haben, dass es um eine Klage gegen den Pensionssicherungsverein a.G. ging, für den das Gericht die örtliche Zuständigkeit hat.

VI. Gleichbehandlung – Diskriminierung Dass das Gericht sich schwierigen aktuellen Fragen gerne stellt und sie klar beantwortet, zeigt ebenso die Rechtsprechung zu Gleichbehandlung und Diskriminierung. Inhaltlich ist hier eine bestimmte Linie des Gerichts erkennbar, nämlich ein Respekt vor religiösen Überzeugungen der Arbeitnehmer im Verhältnis zum Arbeitgeber. Vielleicht steckt auch darin etwas Kölsches, da die Stadt durch ihre große christliche Tradition nicht am konfliktfreien Zusammenleben mit anderen Religionen gehindert wird, was auch in dem Bau einer Art muslimischen Domes zum Ausdruck kommt. Deutlich in diesem Sinne ein Urteil vom 12.8.2008 (17 Ca 51/08): „Grundsätzlich rechtfertigt zwar eine Selbstbeurlaubung die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Etwas anderes gilt – im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung – ausnahmsweise dann, wenn der Arbeitgeber den Urlaub hätte genehmigen müssen, insbesondere mit Rücksicht auf die religiöse Ausrichtung der Urlaubsnahme (hier: Teilnahme an einer Pilgerreise nach Mekka).“ Die Problematik spitzt sich zu, wenn auch auf Seiten des Arbeitgebers eine religiöse Ausrichtung vorliegt. Die deutschen Gerichte neigten bisher dazu, dem durch religiöse Überzeugung verstärkten Direktionsrecht des Arbeitgebers den Vorrang zu geben, sind aber durch eine erneute Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte teilweise korrigiert worden (Urteile vom 23.9.2010, 425 und 1620/03, EzA-Schnelldienst 20/2010 S. 3). Das Arbeitsgericht Köln liegt schon immer auf der Linie des EGMR. So heißt es in einer Entscheidung vom 14.7.1976 (7 Ca 1783/76): Tritt bei einem Arbeitnehmer, der in einem katholischen Krankenhaus beschäftigt ist, in der Privatsphäre ein Widerstreit zwischen Tendenz und Persönlichkeitsrecht auf, sei dem Persönlichkeitsrecht der Vorrang einzuräumen, es sei denn, es handle sich um einen sog. Tendenzträger oder der Arbeitnehmer mache aktiv Front gegen die Tendenz des Betriebes (sog. tendenzaggressives Verhalten). Ebenso ein Urteil vom 6.3.2008 (19 Ca 139

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7222/07) zur Kündigung einer Krankenschwester in einer kirchlichen Einrichtung, die in ihrer Elternzeit zur strenggläubigen Muslimin geworden war, wegen Tragens eines Kopftuches. Hier wird zwar auch auf das Fehlen einer Abmahnung und eines Verbots im Arbeitsvertrag abgestellt, doch lässt die Entscheidung deutlich erkennen, dass sie das Kopftuchverbot als mittelbare Benachteiligung wegen der Religion ansieht. Diese Entscheidung sieht auch schon, dass sie in der Rechtsprechung des EGMR eine Stütze findet (Hinweis auf EGMR 15.2.2001, NJW 2001, 2871). In die gleiche Richtung geht ein Urteil vom 18.4.1989 (16 Ca 650/89), nach dem der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer keine Arbeit zuweisen darf, die ihn in einen vermeidbaren Gewissenskonflikt versetzt, hier betreffend die Verweigerung der Bearbeitung von Aufträgen, die sich auf Lieferungen nach Irak beziehen. Exakt gearbeitet wird auch in diesem Bereich. So ist ein Entschädi­ gungsanspruch wegen altersbezogener Diskriminierung aufgrund einer am 16.8.2006 erschienenen Stellenanzeige abgelehnt worden, da das AGG erst zwei Tage später in Kraft getreten ist (Urteil vom 18.7.2007, 3 Ca 9335/06).

VII. Koalitions- und Arbeitskampfrecht Auch in diesem Bereich zeigen sich Neigung und Fähigkeit des Gerichts, besonders bedeutsame Sachen besonders gründlich und trotzdem rechtzeitig zu entscheiden. Inhaltlich ist die Rechtsprechung des Gerichts durch das Bemühen geprägt, auch in dieser gesetzlich weitgehend ungeregelten Materie nach streng rechtlichen Maßstäben zu entscheiden. Besonders eindrucksvoll und bedeutsam ist ein Beschluss vom 30.10.2008 (14 BV 324/08) zur Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des BAG wird der komplizierte Sachverhalt gründlich durchleuchtet und einer klaren und eindeutigen Entscheidung zugeführt. Auch die prozessualen Vorfragen werden eingehend behandelt und gelöst. Die Schwierigkeit des Falles und seine weithin beachtete sozialpolitische Bedeutung veranlassen das Gericht einmal mehr nicht dazu, ihn auf dem Weg zu höheren Instanzen durchzuwinken, sondern werden zum Anlass genommen, den Instanzenzug besonders kräftig zu fundieren. 140

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Ebenso ein Beschluss vom 18.7.1992 (15/5 Ga 114/92). Einerseits wurde hier klar- und festgestellt, dass das Streikrecht nicht die Befugnis umfasst, den Streik mit Hilfe von Arbeitsmitteln des Arbeitgebers zu propagieren. Die Unterbrechung des Hörfunkprogrammes eines Privatsenders zur Ausstrahlung eines Hinweises auf einen laufenden Warnstreik wurde daher als rechtswidriger Eingriff in Rundfunk- und Eigentumsfreiheit des Arbeitgebers gewertet. Andererseits wurde der Gewerkschaft das Recht zugebilligt, die Arbeitnehmer aufzufordern, die Sendetätigkeit für eine halbe Stunde zu unterbrechen. Mit der Rechtsprechung und Schrifttum viel Kopfzerbrechen bereitenden Frage, wann die Gewährung freiwilliger Leistungen durch den Arbeitgeber an nicht streikende Arbeitnehmer eine unzulässige Maßregelung ist, befasst sich ein Urteil vom 8.5.1985 (10 Ca 10010/84). Auch hier beeindruckt die sorgfältige Abwägung. Gewähre ein Arbeitgeber vor oder während eines Arbeitskampfes Sonderzahlungen entweder in der Absicht, streikwillige Arbeitnehmer von einer Teilnahme am Streik abzuhalten oder bereits streikende Arbeitnehmer wieder zur Arbeitsaufnahme zu bewegen, verletze das die in Art. 9 III GG geschützte Koalitionsfreiheit. Die Beweislast trügen aber die Arbeitnehmer. Auf der gleichen Linie einer rechtlich strukturierten Arbeitskampffreiheit liegt ein Urteil vom 6.6.1984 (1 Ca 49/84, DB 1984, 1681) mit dem Gebot, arbeitswillige Arbeitnehmer während eines Arbeitskampfes beim Betreten und Verlassen des Werksgeländes nicht durch körperliche oder psychische Gewalt zu hindern, an den Werkstoren einen mindestens drei Meter breiten Zugang zu gewährleisten und die Behinderung von Fahrzeugen zu unterlassen.

VIII. Betriebsverfassung In einem betriebsverfassungsrechtlichen Fall hat die Bindung des Gerichts an rechtliche Maßstäbe dazu geführt, das es die Neustrukturierung der Betriebsverfassung durch die Reform von 1972 gering bewertete (Beschluss vom 11.9.1972, 10 BV 90/72). Kosten, die einem Betriebsratsmitglied für Fahrt, Verpflegung und Übernachtung anlässlich der Teilnahme an einer gewerkschaftlichen Schulung von Betriebsräten über das neue Betriebsverfassungsgesetz entstehen, seien keine 141

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durch die Tätigkeit des Betriebsrats entstehenden Kosten im Sinne von § 40 I BetrVG 1972; der Arbeitgeber brauche sie daher nicht zu tragen. Das Gericht hat durchaus gesehen, dass die Entwicklung in die andere Richtung ging, beharrte aber auf seiner am Wortlaut des Gesetzes orientierten Rechtsauffassung. Weitsichtig war die zusätzliche Erwägung, dass es hier um die Unabhängigkeit der Koalitionen voneinander geht, wenngleich dies nach heutiger Auffassung der im Anlassfall streitigen Übernahme der Kosten für Fahrt, Verpflegung und Übernachtung nicht entgegensteht, sondern nur einer unmittelbaren Finanzierung der gewerkschaftlichen Schulungstätigkeit.

IX. Kölner Schule Versucht man, all dies auf einen Nenner zu bringen und den Geist des Gerichtes einzufangen, kann man an den Begriff der Kölner Schule denken, der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für die von Nipperdey und seinen Schülern praktizierte Behandlung des Arbeitsrechts nach den allgemein anerkannten juristischen Regeln und Methoden geprägt wurde. Zu dieser Kölner Schule scheint mir das Arbeitsgericht Köln zu gehören. Es dringt in die Realien des Arbeitslebens ein, hat volles Verständnis für die es prägenden sozialen Konflikte und entscheidet dann nach rechtlichen Maßstäben. Es hat Freude am Neuen, hält aber im Zweifel am Alten fest. Es prescht nicht vor, verweigert sich aber auch nicht dem Neuen, sondern ordnet es in die bisherige Entwicklung ein, alles so, wie es einem 200jährigem Gericht gut ansteht.

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Gedanken zur Fortbildungspflicht der  Anwaltschaft­: Darf die Advokatur frei bleiben? Rechtsanwältin Hiltrud Kohnen Fachanwältin für Arbeitsrecht Sprecherin des Arbeitsrechtsausschusses im Kölner Anwaltverein Vorstandsmitglied der Rechtsanwaltskammer Köln

III. Überlegungen zur Fort­ bildungspflicht für Rechts­ anwälte . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Die Verantwortung gegenüber dem Mandanten . . 146 2. Fortbildungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Ausblick. . . . . . . . . . . . . 149 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

I. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . 143 II. Mehr Freiheit und mehr Rechtsanwälte­. . . . . . . . . . 144 1. Die Entwicklung des Berufsrechts­. . . . . . . . . . 145 2. Die Entwicklung des Anwalts­marktes. . . . . . . 145

I. Einleitung Rechtsanwälte sind durch die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) gesetzlich zur Fortbildung verpflichtet (§ 43a Abs. 6 BRAO). Eine Überprüfung und Sanktionierung ist allerdings gemäß § 15 Fachanwaltsordnung (FAO) nur für Fachanwälte vorgesehen und findet im Übrigen allenfalls in durch eine Verletzung der Fortbildungspflichten ausgelösten Regressfällen ein Anwendungsgebiet.1 Das Thema löst heftige Diskussionen aus, in denen sich zwei Grundauffassungen gegenüberstehen: Die Gegner der sanktionierten Fortbildung verweisen auf die Freiberuflichkeit der Anwaltschaft, zu der auch die freie Ent-

1 Feuerich/Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung, Kommentar, 7. Auflage 2009, § 43a Rn. 98.

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scheidung über die eigene Weiterbildung gehöre.2 Die Strukturierung einer sanktionierten Fortbildung sei angesichts der vielfältigen Formen anwaltlicher Tätigkeit schwierig3, zu Schnäppchenpreisen nicht zu haben4, als Notwendigkeit empirisch nicht belegt5 und bedeute nicht automatisch mehr Qualität.6 Die Befürworter verweisen auf die wesenseigenen Verpflichtungen der Anwaltschaft in ihrer Monopolstellung,7 den Vergleich mit dem europäischen Ausland8 und schließlich auf den Marketing-Aspekt.9 Das Bundesjustizministerium hat einem Vorstoß der Bundesrechtsanwaltskammer zur Einführung der sanktionierten Fortbildungspflicht im Rahmen der 5. Europäischen Konferenz der BRAK im Jahr 2005 eine Absage erteilt.10 Diese Einschätzung wird von einigen Kammern und – mutmaßlich – einem nicht unerheblichen Teil der Anwaltschaft geteilt. Aber kann sich die Anwaltschaft diese Haltung leisten?

II. Mehr Freiheit und mehr Rechtsanwälte Aktuell erfreut sich die Anwaltschaft größerer Freiheiten, aber auch größeren Konkurrenzdrucks als je zuvor.   2 Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) im Rahmen der 5. Europäischen Konferenz der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) am 8.4.2005 in Berlin (zitiert nach Handelsblatt).  3 Hartung/Römermann, Berufs- und Fachanwaltsordnung, Kommentar, 4. Aufl. 2009, § 43a BRAO, Rn. 156.   4 Stobbe, Nun sag, wie hast du’s mit der Fortbildung? – 30 Jahre Fortbildung durch die Anwaltakademie, AnwBl. 2008, 654 (657).  5 Franz, Qualitätssicherung aus Sicht des Bundesministeriums der Justiz, BRAK-Mitt. 2005, 106 (108).   6 Paul, Sanktionierte Pflichtfortbildung für Rechtsanwälte? – Ein kritischer Zwischenruf, AnwBl. 2006, 252.   7 Dahns, Die Fortbildungspflicht, NJW-Spezial 2006, 333; Dahns/Eichele, Die Allgemeine Fortbildungspflicht deutscher und europäischer Rechtsanwälte unter Berücksichtigung des Rechts anderer freier Berufe, BRAKMitt. 2002, 252.   8 Eichele/Odenkirchen, Qualitätssicherung durch überprüfbare Pflichtfortbildung, BRAK-Mitt. 2005, 103; Bundesrechtsanwaltskammer, Pressemitteilung Nr. 10 vom 8.4.2005.   9 van Bühren, KammerForum der Rechtsanwaltskammer Köln 2008, 1. 10 Franz, a.a.O.

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Gedanken zur Fortbildungspflicht der Anwaltschaft­

1. Die Entwicklung des Berufsrechts

Die „Befreiung der Advokatur“ von staatlicher Aufsicht wurde mit der Rechtsanwaltsordnung von 1878 „institutionalisiert“.11 Den auf der Grundlage der 1959 in Kraft getretenen BRAO im Jahr 1963 von der BRAK erlassenen Standesrichtlinien entzog das Bundesverfassungsgericht 1987 mangels demokratischer Legitimation die Existenzgrundlage.12 Die erforderliche Neuordnung des Berufsrechts erfolgte 1994 durch die Novellierung der BRAO, in deren Rahmen u.a. der Erlass einer Berufsordnung (BORA) einer demokratisch gewählten repräsentativen Satzungsversammlung der BRAK übertragen wurde (§§ 59b, 191a ff. BRAO).13 Die Anwaltschaft verwaltet und kontrolliert sich also selbst, frei von staatlicher Aufsicht und mit durchaus unterschiedlichem Erfolg. Denn auch nach der Novellierung des Berufsrechts kassierten Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof tradierte Verbote der anwaltlichen Berufsausübung: die Zulässigkeit der überörtlichen Sozietät, die Zulässigkeit der Anwalts-GmbH und -AG, den Schutz des Anwaltsmonopols vor dem Rechtsberatungsgesetz und das generelle gesetzliche Verbot des Erfolgshonorars.14 2. Die Entwicklung des Anwaltsmarktes

Parallel zum „Absenken“ der anwaltlichen Berufsausübungsregeln veränderte sich der Anwaltsmarkt gravierend. Die Zahl der zugelassenen Rechtsanwälte stieg seit dem 1.1.1980 von 36.077 Anwälten auf 153.251 Anwälte am 1.1.2010.15 Dies entspricht einer Steigerungsrate von unglaublichen 424,79 %. 11 Redeker, Freiheit der Advokatur – heute, NJW 1987, 2610 (2610). 12 BVerfG, Beschlüsse v. 14.7.1987, NJW 1988, 191 und 193 = BVerfGE 76, 171 und 196. 13 Vgl. zur Entwicklung des Berufsrechts die Darstellung der Rechtsanwaltskammer Stuttgart „Von der RAO zur BRAO“ unter rak-stuttgart.de. 14 Vgl. die Aufzählung bei Hellwig, Das Konzept des anwaltlichen Berufsbilds – Worauf die Anwaltschaft eine Antwort finden muss – und warum Standesrichtlinien nicht helfen, AnwBl. 2008, 644 (644). 15 Am 1.1.2011 waren 155.679 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zugelassen. Quellen: Statistiken der BRAK, Statistik freie Berufe 2010; Presseerklärung der BRAK Nr. 5 vom 6.4.2011.

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Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1980 betrug 61.658.000 Einwohner. Am 31.12.2009 war diese Zahl – bedingt durch den „Sondereffekt“ der Wende – auf 81.802.000 Einwohner angestiegen.16 Im Vergleich zur Entwicklung der Anwaltschaft betrug die Zuwachsrate der Bevölkerung in Deutschland demzufolge 32,67 %. Parallel zu den wachsenden Zulassungszahlen und ermöglicht durch die einschlägige Rechtsprechung haben sich die Organisationsformen anwaltlicher Tätigkeit ebenso rasant entwickelt: Überörtliche und internationale Sozietäten und Kooperationen, die Organisation in den haftungsbegrenzenden Rechtsformen der GmbH, AG und eingetragenen Partnerschaft und der Zusammenschluss mit Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern spiegeln einen veränderten Markt, der – und zwar keineswegs beschränkt auf international tätige Großkanzleien – durch Globalisierung, Informationstechnologien und Verdrängungswettbewerb beeinflusst wird.

III. Überlegungen zur Fortbildungspflicht für Rechtsanwälte Kann es angesichts dieser Entwicklungen bei der Entscheidung des Gesetzgebers für eine sanktionslose Fortbildungspflicht bleiben? Oder sprechen – bei allen denkbaren Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung – nicht gewichtige Argumente dafür, diesen Standpunkt zu überdenken? 1. Die Verantwortung gegenüber dem Mandanten

Rechtsanwälte üben als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) einen freien Beruf aus (§ 2 Abs. 1 BRAO), der eine staatliche Kontrolle und Bevormundung prinzipiell ausschließt.17

16 Quelle: Angaben des Statistischen Bundesamtes Deutschland, Bevölkerung nach Gebietsstand (Die aktualisierte Zahl für das Jahr 2010 lag bei der Abfassung dieses Beitrags noch nicht vor.). 17 BVerfG, Beschl. vom 14.2.1973, NJW 1973, 698 (697); BVerfG, Beschl. vom 8.3.1983, NJW 1983, 1535 (1536).

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Gedanken zur Fortbildungspflicht der Anwaltschaft­

Dabei darf nicht übersehen werden, dass veränderte rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine ständige Überprüfung der Ausfüllung dieser Privilegien verlangen. Die anwaltliche Dienstleistung wird längst nicht mehr – nur – durch die Wahrnehmung der Funktion eines „Organs der Rechtspflege“ als Parteivertreter in einer gerichtlichen Auseinandersetzung geprägt.18 Im „Geschäft“ mit der außergerichtlichen Beratung und Gestaltung fehlt uns aber die Überprüfung unserer Kenntnisse und Argumente durch die Judikative. Über der „Freiheit der Berufsausübung“ darf deshalb nicht vergessen werden, dass es sich bei der anwaltlichen Leistung nicht um ein „Produkt“ handelt, das Probe gefahren, repariert, umgetauscht oder wenigstens betrachtet, gezählt oder gemessen werden könnte. Kurz gesagt: Die Gewährleistung ist ausgeschlossen. Der Mandant kann die Rechtfertigung des Vertrauens, das er in seinen Anwalt setzen muss, nicht wirksam kontrollieren. Dies ist der Preis der „Freiheit der Advokatur“. Denn diese berücksichtigt, dass der Rechtsanwalt aufgrund einer qualifizierten akademischen Ausbildung geistige Leistungen erbringt, die ein besonderes Vertrauen des Auftraggebers in die persönliche und fachliche Qualität des Rechtsanwalts, seine berufliche, wirtschaftliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit und seine Seriösität rechtfertigen.19 Entscheidend für den freien Beruf des Rechtsanwalts ist die Verantwortung für den Mandanten, der sich mit Aufgabenstellungen, die von „existenzieller Bedeutung“ sein können, an seinen Berater wendet und von der Beratung oder Vertretung abhängig ist, ohne zur eigenen Beurteilung der fachlichen Qualität in der Lage zu sein.20 „Glanz und Elend des Wandels der Freien Berufe zum Dienstleister zeigen sich bei den Rechtsanwälten besonders anschaulich“ stellt deshalb Henssler zutreffend fest.21 Ein Blick über den Tellerrand belegt, dass andere Professionen den Sprung in die gesetzlich sanktionierte Fortbildungspflicht gewagt haben. Unter dem Begriff „continuous medical education“ mündete eine 18 19 20 21

Redeker, a.a.O. (2612). BGH, Beschl. v. 17.3.2003, NJW 2003, 1527 (1527). Redeker, a.a.O. (2611). Henssler, Die Anwaltschaft zwischen Berufsethos und Kommerz, AnwBl. 2008, 721.

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rund fünfzehnjährige Diskussion in der Medizin schließlich in die gesetzliche Verpflichtung in § 95d SGB V zur kontinuierlichen Fortbildung und deren Nachweis sowie in Vorschriften zur Sicherung der Qualität der Leistungserbringung (§§ 135 ff. SGB V), die z. B. Qualitätszirkel als problembezogenes Feedbacksystem in Praxisnetzwerken hervorgebracht haben.22 Und schließlich: Sollte nicht ein Berufsstand, dessen Honorierung in Form des RVG einer gesetzlichen Regelung unterliegt, deren Höhe jedenfalls in gerichtlichen Verfahren gemäß § 49b BRAO aus Wettbewerbsgründen nicht ohne weiteres unterschritten werden darf, Sorge dafür tragen, dass dieser Ausdruck der Chancengleichheit23 sich auch in fachlicher Hinsicht spiegelt? 2. Fortbildungsmöglichkeiten

Die Argumente, anwaltliche Fortbildung sei schwierig zu strukturieren und „zu Schnäppchenpreisen nicht zu haben“,24 können nicht überzeugen. Die Bundesrechtsanwaltskammer, die örtlichen Rechtanwaltskammern und die Anwaltvereine bieten ein vielfältiges und preisgünstiges Fortbildungsangebot auf hohem Niveau. Dies sei am Beispiel des Arbeitsrechts im Bezirk der Rechtsanwaltskammer Köln erläutert. Per 1.1.2011 gehörten der Rechtsanwaltskammer Köln 12.256 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte an.25 Für diese or­ga­ nisiert – neben den Anwaltvereinen Bonn und Aachen – der Kölner Anwaltverein e.V. (KAV), dem mit 4.300 Rechts­ anwältinnen und Rechtsanwälten größten örtlichen Anwaltverein Deutschlands, in 25 Fachausschüssen und Arbeitskreisen, in denen über 250 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ehrenamtlich tätig sind, Seminare und Veranstaltungen rund um das Thema Fortbildung.26 Der Arbeitsrechtsausschuss im KAV bietet pro Jahr sechs bis sieben mindestens zweistündige sowie eine zehnstündige Fortbildungsveranstaltungen zu 22 Die Autorin dankt Herrn Prof. Dr. Matthias Schrappe für wertvolle Informationen. 23 Vgl. zum Normzweck Feuerich/Weyland, § 49b, Rn. 3. 24 Stobbe, a.a.O. 25 Quelle: Statistiken der BRAK, große Mitgliederstatistik zum 1.1.2011. 26 Quelle: koelner.anwaltverein.de.

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Gedanken zur Fortbildungspflicht der Anwaltschaft­

aktuellen arbeitsrechtlichen Themen mit hochkarätigen Referenten aus Wissenschaft und Lehre, der Richterschaft der Arbeitsgerichtsbarkeit und der Anwaltschaft. Damit besteht für die Kolleginnen und Kollegen nicht nur die Möglichkeit, die für den Erhalt der Fachanwaltsbezeichnung notwendigen Fortbildungsnachweise zu erwerben, sondern auch – und zwar auch für Nichtfachanwälte – ihr arbeitsrechtliches Wissen regelmäßig punktuell oder auch kompakt in dem Seminar „Arbeitsrecht Aktuell“, das jeweils zu Beginn des Jahres stattfindet, zu vertiefen. Für die Teilnahme an einer zweistün­digen Fortbildungsveranstaltung – und zwar ausschuss- und arbeitskreisübergreifend – müssen die fortbildungswilligen Kolleginnen und Kollegen 30,00 3 zzgl. Umsatzsteuer aufwenden. Den real für eine solche Veranstaltung nach Vorsteuer- und Betriebskostenabzug abfließenden Betrag mag jeder selbst ausrechnen. Da dürfte selbst der Besuch einer Update-Veranstaltung für jedes Tätigkeitsgebiet einer jungen Allgemeinkanzlei finanziell im Bereich des Möglichen liegen. Denn wie heißt es so schön in § 1 Abs. 4 Berufsbildungsgesetz (BBiG): „Die berufliche Fortbildung soll es ermöglichen, die berufliche Handlungsfähigkeit zu erhalten und anzupassen oder zu erweitern und beruflich aufzusteigen.“ 3. Ausblick

Natürlich bedarf die Einführung einer sanktionierten Fortbildungspflicht für Rechtsanwälte gründlicher Überlegung. Wenn die Anwaltschaft eine solche aber aus berufsethischen Gründen erkennt, kann die Umsetzung nicht an organisatorischen Bedenken scheitern. Natürlich erfordern die unterschiedlichen am Markt vertretenen Fortbildungsformen vor der Beanspruchung einer „Allgemeinverbindlichkeit“ eine Synchronisation mit den ebenso unterschiedlichen anwaltlichen Organisations-, Betätigungs- und Spezialisierungsformen. An Anregungen fehlt es indes nicht. Das Fortbildungszertifikat der BRAK z. B. sieht neben dem klassischen Besuch von Seminaren und Fachveranstaltungen weitere Formen anzuerkennender Fortbildung durch Eigenstudium, Prüfertätigkeit, Qualitätszirkel und Gesprächskreise und juristische Fachveröffentlichungen vor. Vielleicht kann der traditionelle Frühjahrsempfang des KAV im Kölner Arbeitsgericht, der dem Austausch zwischen Richter- und Anwaltschaft unter Einbeziehung von 149

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Vertretern von Wissenschaft und Lehre dient, als eine Art Urform anwaltliche Qualitätszirkel inspirieren. Und schließlich wird es sich die Anwaltschaft in Zeiten von Internet und Social Network nicht nehmen lassen können, anerkannte Fortbildungszertifikate zur Kundengewinnung und Kundenbindung zu nutzen.

IV. Fazit Bei der allgemeinen – nicht sanktionierten – Fortbildungspflicht handelt es sich nach Auffassung der BRAK um einen „zahnlosen Tiger“.27 Das Idealbild des „Freien Berufs“ des Rechtsanwalts muss sich in einem Markt behaupten, der längst in einem Maße kommerzialisiert ist, dass die Anwaltschaft gut daran täte, ihr Berufsethos neu zu bestimmen.28 Aktualisiertes Fachwissen der Anwaltschaft gehört zu den Grundfesten einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Rechtsanwalt und Mandant und damit letztlich zu den Alleinstellungsmerkmalen der Anwaltschaft. Vor der Sicherung dieser Qualität sollten wir uns deshalb nicht fürchten. Denn wie hat – angeblich – John F. Kennedy, 35. Präsident der USA, richtig bemerkt: Es gibt nur eines, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung.

27 Pressemitteilung der BRAK Nr. 10 v. 8.4.2005. 28 Henssler, a.a.O. (728); Presseerklärung der BRAK Nr. 6 vom 13.5.2011 zur Europäischen Konferenz der Bundesrechtsanwaltskammer zur Anwalts­ ethik.

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Die Arbeitsgerichtsbarkeit nach 1945 – Motor des sozialen Friedens Thomas Kutschaty MdL Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen

und Dr. Dirk Gilberg Richter am Arbeitsgericht, Referatsleiter im Justizministerium des Landes­ Nordrhein-Westfalen

I. Entwicklung und Bedeutung der Arbeitsgerichtsbarkeit nach 1945. . . . . . . . . . . . . . . 152

II. Richterbild der Arbeits­ gerichtsbarkeit. . . . . . . . . . 160 III. Eigenständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit­. . . . . 163

Zur Justizverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen gehört die Arbeits­gerichtsbarkeit erst seit 1998, bis dahin war die Arbeitsverwaltung des Landes zuständig. Die Dauer der seit dem Wechsel vergangenen Jahre verblasst bei Betrachtung der Entwicklung der Arbeitsrechtsprechung. Ihre Wurzeln reichen zu den Zünften des Mittelalters zurück, und deswegen kann es kein Zufall sein, dass für Köln mit der Zunft der Bettdeckenweber nicht nur eine der ersten Zünfte belegt ist, sondern im Jahr 1811 auch einer der ersten Vorläufer der Arbeitsgerichte – der conseils de prud‘hommes – in Deutschland. Die Arbeitsgerichtsbarkeit hat ihre Gestalt immer wieder neu gebildet, und vor gut 65 Jahren wurde begonnen, ihre aktuelle Form zu gestalten. Der Beitrag will aus der Sicht einer Landesjustizverwaltung die Entwicklung nachzeichnen, die sie seitdem genommen hat, und er will ihre Be­ deutung für die Gesellschaft und die Wirtschaft in den Blick nehmen. Dabei sollen zwei bestimmende Aspekte besonders herausgestellt werden, das Richterbild der Arbeitsgerichtsbarkeit und ihre Eigenständigkeit.

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I. Entwicklung und Bedeutung der Arbeitsgerichtsbarkeit nach 1945 Die Nachgeborenen können den Aufbau einer staatlichen Ordnung aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges nur mit Staunen betrachten. Sie sind daran gewöhnt, dass ein Gesetzgebungs- oder ein Bauplanungsverfahren Jahre – manchmal Jahrzehnte – dauern können. 1945 war keine Zeit für die Berücksichtigung aller Details. Nach der Kapitulation der deutschen Streitkräfte hatten die vier Siegermächte die oberste Regierungsgewalt über Deutschland übernommen. Sie übertrugen sie durch Proklamation vom 30. August 19451 auf den Kon­ trollrat. Dieser übte auch die „gesetzgebende Gewalt“ aus. Der Justiz kam besondere Bedeutung zu: Bereits mit Proklamation vom 20. Oktober 19452 wurden Grundsätze für die Umgestaltung der Rechts­ pflege erlassen, dazu zählte schon der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Schon im Herbst 1945 fanden Betriebsratswahlen statt, ohne dass das zum Vorbild genommene Betriebsrätegesetz 1920 bereits in Kraft gesetzt3 worden wäre. Der Kontrollrat erließ insgesamt 62 Gesetze und setzte als erste Fachgerichtsbarkeit mit Gesetz Nr. 21 vom 30. März 19464 die Arbeitsgerichtsbarkeit ein. Sie bestand aus Arbeitsgerichten und Berufungsarbeitsgerichten. Die Verwaltung übernahmen die Landesarbeitsbehörden und damit zunächst das Landesarbeitsamt. Für die „Nord-Rheinprovinz“ wurde am 1. Juli 1946 das Landesarbeitsgericht Düsseldorf zeitgleich mit den Arbeitsgerichten Aachen, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Krefeld, Wuppertal und auch Köln errichtet. Als Verfahrensordnung wurde auch nach dem Krieg das Arbeitsgerichtsgesetz von 1926 angewendet, das in großem Umfang bewährte Regelungen übernahm, die die Gewerbegerichtsgesetzgebung von 1890 geschaffen hatte. Die spätere Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht Marie Luise Hilger hat persönliche Erinnerungen über den Aufbau der Arbeitsgerichtsbarkeit nach der Kapitulation aufgezeich1 Proklamation Nr. 1 des Alliierten Kontrollrates, abrufbar unter www.verfassungen.de/de/de45-49/verf45-i.htm. 2 Kontrollratsproklamation Nr. 3, abrufbar wie in Fn. 1. 3 Das geschah erst mit Gesetz Nr. 22 des Kontrollrats vom 10.4.1946, abrufbar wie in Fn. 1. 4 Abrufbar wie in Fn. 1.

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net.5 Sie sah die Gefahr, im Alter eine „goldene Brille“ aufzuziehen, und berichtete dennoch dankbar von einer „schönen Zeit“ vergangener Gemeinwohlorientierung, in der es „selbstverständlich war, den Mangel zu teilen.“ Es kann zu denken geben, dass der6 jüngere Arbeitsrechtler den heutigen Zustand nicht immer als „schöne Zeit“ empfindet, obwohl von einem vergleichbaren Mangel längst keine Rede mehr sein kann. Ohne Bundesarbeitsgericht wurde die Konferenz der Präsidenten der Landesarbeitsgerichte zur Grundlage einer Rechtseinheit in der Nachkriegszeit. In der Konferenz waren auch die Justizverwaltung, die Wissenschaft und die Fachpresse – letztere zunächst bestehend aus Hilger für den Betriebs-Berater – vertreten. Es mangelte nicht nur an einem obersten Gericht, sondern auch an Arbeitsrecht, denn die alte Gesetzgebung war aufgehoben und die neue noch im Werden. Also besann man sich auf Rechtstraditionen. Den Kündigungsschutz etwa leiteten die Landesarbeitsgerichte übereinstimmend aus § 242 BGB ab, weil schon wegen der seit 1920 gefestigten deutschen Rechtstradition ausgeschlossen war, keine Rücksicht auf die soziale Lage der Beteiligten zu nehmen.7 In kurzen Abständen wurden die materiellen Rechtsgrundlagen für die Arbeitsgerichtsbarkeit geschaffen. 1949 entschied sich der Verfassungsgesetzgeber für eine eigenständige Arbeitsgerichtsbarkeit. Art. 9 Abs. 3 GG und das sogar einige Wochen vor dem Grundgesetz in Kraft getretene Tarifvertragsgesetz gestalteten die Koalitionsfreiheit aus. 1951 trat das Kündigungsschutzgesetz in Kraft, 1952 das Betriebsverfassungsgesetz. 1953 normierte das Arbeitsgerichtsgesetz das im Wesentlichen noch heute geltende Arbeitsgerichtsverfahren. Acht Jahre nach dem Krieg war für die Bundesrepublik Deutschland8 eine funktionierende staatliche Arbeitsverfassung (wieder) hergestellt. Eine Herkulesleistung, die sich maßgeblich auf Weimarer Errungenschaften wie das Stinnes-Legien-Abkommen und die Tarifvertrags-Verordnung 1918, das Betriebsrätegesetz 1920 oder das Arbeitsgerichtsgesetz 5 RdA 1981, 93 ff. 6 Allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird nachfolgend die männliche Sprachform benutzt. 7 Hilger, RdA 1981, 93, 94. 8 Die ab diesem Jahr getrennte Entwicklung der Streitverfahren in Arbeitssachen in der DDR ist überholt und soll daher hier nicht betrachtet werden.

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1926 stützen konnte. Dass viele dort schon verfasste Gedanken erst nach dem zweiten Weltkrieg dauerhaft positive Wirkung erzielen konnten, legt die Annahme nahe, dass eine fortschrittliche Arbeitsverfassung wohl alleine keine wirtschaftliche Stärke herbeiführen, ihr aber zur Festigung dienen kann. Letzte Meilensteine der arbeitsgerichtlichen Nachkriegsentwicklung waren die Herstellung der Rechtseinheit mit der Wiedervereinigung und der daraus folgende Umzug des Bundesarbeitsgerichts von Kassel nach Erfurt im Jahr 1999.9 Aus der historischen Entwicklung der Arbeitsgerichtsbarkeit können schon Anhaltspunkte für ihre Bedeutung abgeleitet werden. Ihr Rückgriff auf Weimarer Gedanken und deren Rückgriff auf die Entwicklung um 1890 erinnert daran, dass die Arbeitsverfassung nicht aus kühlen Rechtsdiskussionen, sondern aus „heißen Kämpfen“10 entstanden war. Aus sozialer Not entstandene Bergarbeiterstreiks 1889 und 1905, die aus Kriegsnot entstandene Anerkennung der Gewerkschaften 1916, die aus der Novemberrevolution entstandene Tarifpartnerschaft zur Verhinderung einer Räterepublik 191811 – Arbeitsrecht und Arbeitsrichter entscheiden über eine Materie, die mehr als viele andere im Zentrum gesellschaftlicher Spannungen stand und steht. Bei der Wiedererrichtung der Arbeitsgerichte in der „Nord- Rheinprovinz“ sagte 1946 der Vertreter der Gewerkschaften, Oberbürgermeister Brisch, das Schlichtungswesen hätte „die sozialen Kämpfe in rechtliche Bahnen gelenkt…und wurde abgeschlossen durch die Schaffung der Arbeitsgerichte“.12 Hanau hat einmal als Ururgroßvater der Arbeitsgerichtsbarkeit Napoleon I. gesehen, als „vielleicht illegitimen“ Urgroßvater Karl Marx, als Großväter Philip Lohmar­ und Otto von Gierke und als ersten ihrer Väter Hugo Sinzheimer.13 So wichtig das Wirken Einzelner für die Arbeitsgerichtsbarkeit war, wer zur Bestimmung ihrer heutigen Bedeutung ihre DNA auslesen möchte, findet zwei Grundmotive, denen Einzelne Ausdruck gegeben haben: Autonomie und Sozialschutz.

  9 Linsenmaier, NZA 2004, 401, 407 f. 10 Vgl. Dietz, BetrVerfG, 3. Aufl. 1960, Einführung I.1. 11 Vgl. zu allem Linsenmaier, NZA 2004, 401, 404 ff. 12 Verwaltungsakten des Justizministeriums NRW. 13 Hanau, NZA 1986, 809 f.

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Autonom war das genossenschaftliche Selbstverständnis der Zünfte, Autonomie von der „allgemeinen“ Gerichtsbarkeit war das Ziel der Forderungen der französischen und deutschen Unternehmer im 19. Jhdt., autonom sollte die Beilegung der Streitigkeiten „im Wege der Güte“ durch – nach heutigem Sprachgebrauch – Insider sein.14 Sinzheimer forderte sogar rechtliche Autonomie, wenn er sagte, das Arbeitsrecht sei „ein eigenes Gebiet mit eigenen Normen, eigenen Grundsätzen, eigenen Auslegungsregeln“.15 Die Anerkennung der Gewerkschaften und Betriebsräte zu Beginn des 20. Jhdt., der die His­ torie aufnehmende Art. 9 Abs. 3 GG ohnehin, stärken den Auto­ nomiegedanken. Er beschreibt, dass der privatautonom geschlossene Individualvertrag wegen der strukturell ungleichen Verhandlungsstärke zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht zu befriedigenden Ergebnissen kommt, dass aber gleichzeitig die staatliche Regelung zu unflexibel und zu wenig kenntnisreich ist.16 Er bedeutet – kurz gesagt –, dass die am Arbeitsleben Beteiligten ihre Angelegenheiten schneller und besser regeln können als Dritte – außerhalb des Gerichts und vor Gericht. Im Grundgesetz hat sich der Staat entschieden, den Autonomiegedanken zu respektieren und erwartet sogar die Erfüllung sozialstaatlicher Funktionen, nämlich die Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge.17 Will der Staat aber in den Arbeitsbeziehungen nicht allein das Recht des Stärkeren gelten lassen, braucht Autonomie ein Korrektiv, wenn die „soziale Mächtigkeit“18 einer Vereinigung nicht ausreicht, um sich bei ihrem Gegenspieler durchzusetzen. Durch die Arbeitnehmerschutzgesetzgebung hat die Bundesrepublik dieses Korrektiv gewährleistet. Sie errichtet einen Mindestschutz, der grund14 Vgl. Linsenmaier, NZA 2004, 401, 403. 15 In: Über den Grundgedanken und die Möglichkeit eines einheitlichen Arbeitsrechts für Deutschland, 1914, zitiert nach Preis, Das erneuerte BGB und das Bundesarbeitsgericht, FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, 2004, S. 123; nach Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385 ff. lag der Anstoß der sozialen Errungenschaften der Arbeitsrechtsprechung darin, dass sie sich „von dem in die Vergangenheit versponnenen BGB zu lösen begann.“ 16 ErfK/Dieterich, 11. Aufl. 2011, GG Art. 9 Rdnr. 18. 17 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 79/62, juris; ErfK/Dieterich, 11. Aufl. 2011, GG Art. 9 Rdnr. 53. 18 Vgl. BAG v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, juris, zur Tariffähigkeit der CGZP.

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sätzlich nur durch für den Arbeitnehmer günstigere Regeln autonom geändert werden kann. Gleichzeitig hat der Staat von Beginn an die Arbeitsgerichtsbarkeit als Ersatzgesetzgebung zur Entwicklung materiellen Arbeitsrechts und damit sozialen Schutzes in Anspruch genommen. Schon bei der parlamentarischen Beratung des Arbeitsgerichtsgesetzes 1953 sagte der Bundesarbeitsminister, der Arbeitsgerichtsbarkeit sei die Aufgabe gestellt, im Rahmen der Gesetze schnell, billig und lebensnah für sozialen Frieden und sozialen Fortschritt zu wirken.19 Aus dieser DNA entwickelt, kann die Bedeutung der Arbeitsgerichtsbarkeit für die Gesellschaft und die Wirtschaft in den Blick genommen werden. Der Rolle als Ersatzgesetzgeber zur Befriedigung sozialer Schutzbedürfnisse ist die Arbeitsgerichtsbarkeit gerecht geworden: von sozialpolitisch zentraler Bedeutung ist das Arbeitskampfrecht, das die Arbeitsgerichtsbarkeit weitgehend selbständig ent­ wickelt hat. Aber auch das Recht der betrieblichen Mitbestimmung war politisch hochstreitig und deswegen rechtlich mit vielen Aus­ legungszweifeln20 behaftet. Das Kündigungsschutzrecht beruht auf den wenig bestimmten Rechtsbegriffen „sozial ungerechtfertigt“ (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG) und „wichtiger Grund“ (§ 626 Abs. 1 BGB). Durch das rechtlich weite Feld, das der Gesetzgeber – den politischen Realitäten geschuldet – der Arbeitsgerichtsbarkeit überlassen hat, war die Arbeitsgerichtsbarkeit in sozialpolitische, sogar in allgemeinpolitische Auseinandersetzungen einbezogen wie kaum eine andere Gerichtsbarkeit. Kissel sprach von einer „Verwischung von Recht und Politik“.21 Sie wurde noch dadurch verstärkt, dass der Arbeitsgerichtsbarkeit nicht nur ein sozialpolitischer Auftrag gegeben, sondern sie zu­nehmend als Steuerungsinstitution des Arbeitsmarkts22 verantwortlich gemacht wurde. Spätestens seit Inkrafttreten des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985 wurde der Arbeitsgerichtsbarkeit eine Mitverantwortung an den steigenden Arbeitslosenzahlen, sogar an der Volkswirtschaft23 insgesamt – teils mit polarisierenden Äußerungen – zugewiesen: „Es wird weiter normiert und judiziert, als seien nur die 19 Nachweis bei Hanau, NZA 1986, 809, 810. 20 Hilger, RdA 1981, 93, 94. 21 Kissel, RdA 1994, 323, 325. 22 Nachweise bei Hellmig, Mittelweg 36, 2009, 8, 15. 23 Z.B. Hümmerich, NZA 1996, 1289 ff.

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glücklichen Arbeitsplatzbesitzer schutzwürdig, nicht aber das Millionenheer der Arbeitslosen.“24 Es kann nicht hoch genug geschätzt werden, dass es die Arbeitsgerichtsbarkeit vor diesem Hintergrund vermocht hat, ihrem Auftrag gerecht zu werden. Es ist eine Binsenweisheit, dass der soziale Friede nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Wirtschaft Voraussetzung ihres Erfolges ist. Die Arbeitsgerichtsbarkeit hat schnell, preiswert und lebensnah sozialen Frieden gesichert. Als aktuelles Beispiel können Kündigungsschutzstreitigkeiten dienen. Arbeitnehmer können in Nordrhein-Westfalen davon ausgehen, Bestandsstreitigkeiten vor dem Arbeitsgericht in durchschnittlich etwa drei Monaten zu beenden.25 Zudem ist der Rechtsstreit grds. kostenlos, wenn die Parteien ohne Anwalt auftreten und den Rechtsstreit durch Vergleich beenden.26 Lebensnähe gewährleistet die Richterbank.27 Sie sorgt dafür, dass von etwa 105.000 Klagen in der I. Instanz durchschnittlich weniger als 10 % durch streitiges Urteil entschieden werden.28 Sozialer Friede kann jedoch nur entstehen, wenn beide Parteien sich gerecht behandelt sehen. Dafür sorgt eine fein tarierte Prüfung, die zugunsten der Arbeitnehmer dem Ultima-ratio-Grundsatz verpflichtet ist und zugunsten der Arbeitgeber deren wirtschaftliche Interessen berücksichtigt. Letzteres geschieht bei der betriebsbedingten Kündigung durch den Grundsatz der „freien Unternehmerentscheidung“, wonach der Arbeitgeber grds. allein über seine Betriebsorganisation entscheidet.29 Aber auch bei der personenbedingten Kündigung kann die dauernde Leistungsunfähigkeit zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses führen, weil die wirtschaftliche Unternehmererwartung endgültig gescheitert ist.30 Bei der verhaltensbedingten Kündigung ist sogar anerkannt, dass jede rechtswidrige und vorsätzliche gegen das Vermögen 24 Rüthers, Beschäftigungskrise und Arbeitsrecht, Zur Arbeitsmarktpolitik der Arbeitsgerichtsbarkeit, Bad Homburg 1996, S. 158, 121, zitiert nach: Hellmig, Mittelweg 36, 2009, 8, 16. 25 Statistische Erhebungen des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen für erstinstanzliche Verfahren 2010. 26 Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG, Teil 8, Vorbemerkung 8. 27 Dazu unter II. 28 Wie Fn. 25. 29 BAG v. 16.12.2010 – 2 AZR 770/09, juris-Rdnr. 13. 30 BAG v. 19.4.2007 – 2 AZR 239/06, juris-Rdnr. 22.

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des Arbeitgebers gerichtete Handlung einen wichtigen Grund i.S. von § 626 Abs. 1 BGB darstellen kann, selbst wenn sie zu einem nur geringfügigen oder keinem Schaden geführt hat.31 Diese zuletzt gesellschaftlich am „Emmely­“/„Pfandbon“-Fall diskutierten Entscheidungen führen gelegentlich zu Unverständnis, weil sich der Anspruch der Arbeitsgerichtsbarkeit scheinbar nicht mit der Anerkennung von Kündigungen wegen geringwertigster Verfehlungen verträgt. Tatsächlich beruht die gesellschaftliche Bewährung der Arbeitsgerichtsbarkeit aber nicht auf pauschal verstandenem sozialen Handeln, sondern auf der Bewahrung des sozialen Friedens. Das ist ein bedeutender Unterschied. Gerade im Recht der verhaltensbedingten Kündigung weiß der Praktiker, dass nicht nur der Arbeitgeber kein Verständnis für solche Verfehlungen hat, sondern ebenso wenig die allermeisten Kollegen. Anschaulich wird die Befriedungsfunktion der Arbeitsgerichtsbarkeit in ihrer Vergleichspraxis, durch die im Jahr 2010 etwa die Hälfte der nordrhein-westfälischen Verfahrenseingänge in der I. Instanz erledigt wurden.32 Wenngleich gelegentlich Stimmen zu hören sind, die in Einzelfällen eine zurückhaltendere Vergleichspraxis anmahnen,33 schreibt § 57 Abs. 2 ArbGG weiterhin vor: „Die gütliche Erledigung des Rechtsstreits soll während des ganzen Verfahrens angestrebt werden.“ Dass die Arbeitsgerichte dabei die Interessen beider Seiten betonen, ist zwingend. Besonders im Kündigungsrechtsstreit ist die Interessenabwägung der Ort, an dem alle für und gegen die Auflösung eines Arbeitsverhältnisses sprechenden Umstände abgewogen werden. Hier kann im Einzelfall das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers ein hohes Gewicht bekommen. Dies wird der Arbeitsgerichtsbarkeit gelegentlich als „sozial“ vorgehalten, so als stehe eine entsprechende Gewichtung­außerhalb des Rechts. Bei kühler Betrachtung ist jedoch eines festzustellen: der Bestand eines Arbeitsverhältnisses kann maßgeblich für die Persönlichkeitsentfaltung und die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse – zusammen genommen die Existenzgrundlage – des einzelnen Klägers sein, für die des einzelnen Beklagten in der Regel 31 BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 541/09, juris-Rdnr. 26. 32 Wie Fn. 25; die Differenz zu der Zahl streitiger Urteile ergibt sich z. B. aus Klagerücknahmen oder Versäumnisurteilen. 33 Z.B. Preis/Bender, NZA 2005, 1321, 1323; Rieble, 6.10.2009, abrufbar unter www.faz.net, Kolumne „Mein Urteil“.

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nicht. Dies im Einzelfall zu gewichten, ist keine Sozialromantik, sondern juristisch unabdingbar. Dass dadurch Vergleiche befördert werden können, ist nicht nachteilig. In der Schlichtungshistorie der Arbeitsgerichtsbarkeit ist die heute noch gültige Erkenntnis entstanden, dass ein streitbehaftetes Dauerschuldverhältnis, das von Persönlichkeiten geprägt ist und sie prägt, – ähnlich der Ehe34 – am besten durch beiderseitiges Nachgeben und notfalls durch Auflösung befriedet werden kann. Sozialer Friede ist die Säule, auf die die Gesellschaft und auch die Wirtschaft bauen – und die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft zum Erfolgsmodell in Europa und weltweit geworden ist. Die Säule trägt erkennbar die Handschrift der Arbeitsgerichtsbarkeit. Es dürfte kaum ein Land auf der Welt geben, das seine Arbeitsbeziehungen in so großem Umfang und in so effektiver Weise dem Recht unterstellt hat.35 Dass Deutschland dennoch im internationalen Vergleich hoch erfolgreich wirtschaftet, macht anschaulich, dass umfangreicher Arbeitnehmerschutz mit Unternehmensbedürfnissen nach Flexibilität verbunden werden kann. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass das deutsche Arbeitsrecht mit wenigen Änderungen in der Lage ist, schwerste Wirtschaftsbedrohungen gut abzufedern. Und was ist heute mit dem Arbeitsauftrag sozialen Fortschritts? Bei nüchterner Betrachtung wird klar, dass dieser Aspekt im Laufe der letzten Jahrzehnte zunehmend zurückgetreten ist. Das liegt insbesondere daran, dass seit Formulierung dieses Auftrages wesentliche Ziele gesetzlich festgeschrieben wurden, etwa zur Entgeltfortzahlung, zum Urlaub, zum Jugendarbeitsschutz, zur Berufsbildung oder zur Arbeitszeit. Andere Forderungen wie der gesetzliche Mindestlohn sind Teil der öffentlichen und politischen Diskussion. Europäisches Recht nimmt viele sozialpolitische Erwägungen auf und prägt heute schon einen bedeutenden Teil arbeitsrechtlicher Überlegungen. Dadurch ist eine Verrechtlichung eingetreten, die das heutige arbeitsgerichtliche Verfahren bestimmt und die den Charakter des Zivilprozesses und der ihn prägenden Darlegungs- und Beweislast weit stärker in den Vorder34 Diesen nicht untypischen Vergleich beschreibt anhand von Interviews mehrerer Arbeitsrichter Hellmig, Mittelweg 36, 2009, 8, 20. 35 Hanau, NZA 1986, 809, 812.

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grund treten lässt. Motor des sozialen Fortschritts ist zu Recht wieder die erste Gewalt geworden. Die Arbeitsgerichte sind Motor des sozialen Friedens.

II. Richterbild der Arbeitsgerichtsbarkeit Die Bedeutung der Arbeitsgerichtsbarkeit ergibt sich auch aus ihrem Ansehen. Es ist entscheidend geprägt von ihren Richterinnen und Richtern. Herausragendes Merkmal der Arbeitsgerichtsbarkeit ist seit ihren Anfängen die Beteiligung ehrenamtlicher Richter in allen Instanzen. Der Leitgedanke der Autonomie fand und findet auch auf der Richterbank Ausdruck. An den Arbeitsgerichten und an den Landesarbeitsgerichten sind die ehrenamtlichen Richter in der Mehrzahl und können den Vorsitzenden überstimmen, §§ 16 Abs. 2, 35 Abs. 2 ArbGG, § 196 Abs. 1 GVG. Schon die nicht unübliche Begrifflichkeit des „Laienrichters“ wird der Realität in der Arbeitsgerichtsbarkeit nur wenig gerecht. Deren ehrenamtliche Richter sind aufgrund der in §§ 22, 23 ArbGG verfassten Auswahlregeln häufig beruflich eingehend mit Arbeitsrecht befasst, z. B. als Betriebsratsvorsitzende oder Personalleiter. Dort sitzen auch immer wieder Mitglieder der Ge­ werkschaften und Arbeitgeberverbände zusammen, die in ihrer ar­ beits­gerichtlichen Spruchpraxis gleichsam als Rückkopplung Rechts­ erfahrungen über die von ihnen selbst angewendeten oder sogar verhandelten Tarif- oder Betriebsregeln gewinnen. Ein weiterer Gesichtspunkt tritt hinzu: Die Verwirklichung des Leitgedankens des sozialen Friedens ist untrennbar mit der Richterbank der Arbeitsgerichtsbarkeit verbunden. Sozialer Friede kann nur dann hergestellt werden, wenn beide Parteien Vertrauen in die Rechtsfindung haben. Dieses Vertrauen hängt insbesondere aus Sicht der Parteien unmittelbar mit den handelnden Personen zusammen, oft sogar von diesen ab. Wer mit erfahrenen Praktikern des Arbeitsgerichtsverfahrens spricht, der weiß, dass dem Spruchkörper im Einzelfall ein Autoritätszuwachs zukommen kann, wenn ein erfahrener Beisitzer „seiner Seite“ die Überlegungen der Kammer nahebringt. Dieterich hat als Präsident des Bundesarbeitsgerichts darauf hingewiesen,36 dass für Außenstehende 36 In: RdA 1994, 322, 323.

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kaum vorstellbar ist, mit welcher Unabhängigkeit und Differenziertheit die meisten ehrenamtlichen Richter votieren. Erfahrene Tatsachenrichter bestätigen – selbstverständlich unter Wahrung des Beratungsgeheimnisses –, dass die wenigsten Entscheidungen streitig fallen. Daran zeigt sich, dass die für ehrenamtliche Richter gemäß § 45 Abs. 1 DRiG in gleichem Maße wie für Berufsrichter geltende sachliche Unabhängigkeit in der Regel sogar über die von ihr erfasste Weisungsfreiheit hinausgeht und als inhaltliche Unabhängigkeit von der sie entsendenden Gruppe wahrgenommen wird. Eben diese Unabhängigkeit vermittelt ein Richterbild der ehrenamtlichen Richter, das maßgeblich zur Sicherung des sozialen Friedens durch die Arbeitsgerichtsbarkeit beiträgt. Dass auf der Ebene des Bundesarbeitsgerichts – anders als in den Tatsacheninstanzen – die Berufsrichter die Stimmenmehrheit haben, ist angesichts der dort gem. §§ 73, 93 ArbGG im Vordergrund stehenden alleinigen Rechtsprüfung folgerichtig. Kissel37 sprach von einer engen sachlichen und personellen Verzahnung der Arbeitsgerichtsbarkeit mit dem Arbeitsleben. Ein besseres Attest kann einer Gerichtsbarkeit nicht ausgestellt werden, als dass sie tief in der gesellschaftlichen Realität verhaftet ist. Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist es nicht nur, aber besonders durch ihre ehrenamtlichen Richter. Die Justizverwaltung tut gut daran, sie als kostbare Ressource zu behandeln. Weit grundlegender als das Bild des ehrenamtlichen Richters hat sich das Bild des Vorsitzenden Richters in der Arbeitsgerichtsbarkeit gewandelt. In der Nachkriegszeit bestanden gelegentlich Zweifel an seiner Qualifikation. Das war Folge der Kontrollratsgesetzgebung, nach der er kein Berufsrichter sein musste, sondern zur richterlichen Aufgabenwahrnehmung fähig und in Arbeitsangelegenheiten besonders befähigt.38 Diese Regel war der Tatsache geschuldet, dass 1946 nicht genügend „… einwandfrei demokratische Richter …“ gefunden wurden. Bei der Eröffnungsveranstaltung39 der Arbeitsgerichte der „Nord-Rheinprovinz“ sagte 1946 der Vertreter der Gewerkschaften, Oberbürgermeister Brisch: „Die verhältnismäßig geringe Zahl von Arbeitsgerichten, die heute eröffnet werden, ist zurückzuführen auf den Mangel geeigneter Persönlichkeiten …“. Der Präsident des Lan37 In: RdA 1994, 323, 333. 38 KRG Nr. 21 Art. VI Nr. 1, abrufbar wie Fn. 1. 39 Verwaltungsakten des Justizministeriums NRW.

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desarbeitsamtes Scheuble fügte hinzu, man müsse „froh sein, für Köln einen geeigneten Herrn als Vorsitzenden des Arbeitsgerichts gefunden“ zu haben. Erst 1961 waren diese Schwierigkeiten überwunden und die Möglichkeit, als Nichtjurist Vorsitzender zu werden, durch eine Änderung des Deutschen Richtergesetzes abgeschafft.40 Es blieben jedoch Zweifel an der Unparteilichkeit des Vorsitzenden. Dazu trug der weite Gestaltungsspielraum im Arbeitsrecht bei. Gamillscheg stellte­fest: „Der Richter ist der eigentliche Herr des Arbeitsrechts. Er wertet selbst, und er prüft die Wertungen des Normgebers.“41 Diese Freiheit führte dazu, dass Arbeitsrichtern von interessierter Seite vorgehalten wurde, sie hätten „einen sozialpolitischen Touch“42, es handele sich gar um Sozialromantiker.43 Solche Äußerungen sind insbesondere vor dem Hintergrund der sozialpolitischen Spannungen des behandelten Rechtsgebietes erklärlich. Arbeitsrecht ist zum großen Teil Arbeitnehmerschutzrecht, so dass es nicht verwundern darf, wenn die Rechtsdurchsetzung als arbeitnehmerschützend verstanden wird. Einen objektiven und aktuellen Blick auf die Berufsrichter der Arbeitsgerichte hat im Jahr 2009 das von Jan Philipp Reemtsma geleitet Hamburger Institut für Sozialforschung geworfen. Danach ist das moderne Richterbild der Arbeitsrichterschaft davon gekennzeichnet, dass Arbeitsrichter sich zwar als mitdenkende und einmischende politische Subjekte sehen, eine über den Einzelfall hinausgreifende gesellschaftsgestalterische Funktion und Verantwortung aber ablehnen; „das Po­ litische“ dient sogar als „eine Art identitätsstiftende Antithese für arbeits­richterliche Selbstverständnisse.“44 Diese Auffassung steht im Einklang mit Kissel, der 1994 nach 13 Jahren als Präsident des Bundesarbeitsgerichts zur Auffassung kam: „Es darf kein eigener rechtspolitischer Wille des erkennenden Richters zur Geltung gebracht werden.“45 Ein solches Bild der Arbeitsgerichtsbarkeit stimmt aus Sicht der nordrhein-westfälischen Justizverwaltung mit den von ihr definierten 40 BGBl 1961 I, 1665. 41 In: AcP 164 (1964), 385, 388. 42 Nach Kissel, RdA 1994, 323, 332. 43 Hümmerich, NZA 1996, 1289, 1296; weitere Nachweise bei Hellmig, Mittelweg 36, 2009, 8, 18, Fn. 34. 44 Hellmig, Mittelweg 36, 2009, 8, 26 f. 45 In: RdA 1994, 323, 330.

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Anforderungsprofilen an das Amt eines Richters am Arbeitsgericht überein. Neben den vielfältigen anspruchsvollen juristischen Anforderungen gehört zur Sach- und Fachkompetenz neben der Prüfung der Möglichkeit eigener Voreingenommenheit und der Abwehr von Einflussnahmen und Einflussmöglichkeiten ausdrücklich auch das Verständnis für soziale und politische Zusammenhänge, die tagespolitische Informiertheit, Erfahrung im Arbeitsleben, Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, sogar Zivilcourage.46 In der tatsächlichen Einstellungspraxis der Landesjustizverwaltung Nordrhein-Westfalens für den richterlichen Dienst der Arbeitsgerichtsbarkeit finden diese Umstände seit geraumer Zeit Berücksichtigung. So konnte NordrheinWestfalen ausgezeichnete Juristen gewinnen, die wertvolle Vorerfahrungen aus dem Arbeitsleben mitbringen und deswegen von den Parteien als „Richterpersönlichkeiten“ anerkannt werden. Die Anforderungsprofile sehen den modernen Arbeitsrichter als jemanden, der jedes Verständnis für sozialpolitische Zusammenhänge hat, sich aber nicht als Sozialpolitiker versteht. Er braucht dieses Verständnis nicht nur, damit seine Vergleichsvorschläge Akzeptanz finden, sondern weil er täglich erlebt, dass die Parteien und Beteiligten durch ihre Vereinigungen gestützt werden – deren Interessenlagen er kennen und verstehen muss. Er kann damit umgehen, dass vor Gericht gelegentlich versucht wird, die von diesen gesetzlich, tariflich oder betrieblich nicht durchgesetzten Forderungen individualrechtlich zu begründen. Das gesellschaftlich notwendige und gesetzlich normierte Ziel der Herstellung eines Konsenses erreicht er nur, wenn er die rechtstechnischen Mittel des Zivilrichters mit sozialpolitischer Kompetenz und emotionaler Intelligenz anwendet.

III. Eigenständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit In der Geschichte der Arbeitsgerichtsbarkeit wurde immer die Frage nach ihrer Eigenständigkeit gestellt. Sie ist gewissermaßen Produkt der Unzufriedenheit der Beteiligten mit der Befassung ihrer Angelegenheiten durch die allgemeine Gerichtsbarkeit. Historisch gesehen fehlten 46 S. 37 der Anlage zur AV d. JM vom 2.5.2005 (2000 - I B. 155) – JMBl. NRW S. 121.

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den Zivilrichtern die gewerberechtlichen Zusammenhänge, den Polizeibehörden die zivilrechtlichen Kenntnisse, beiden die Kenntnisse, die „nur Fabrikanten oder Werkmeister und Handwerker haben“.47 Die Befürworter der Eigenständigkeit waren im Lauf der Jahrhunderte mal Arbeitgeber, mal Arbeitnehmer und oft beide Seiten. In der sozialpolitischen Kampfphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderten die freien Gewerkschaften und die Sozialdemokratie gegen die Unternehmerverbände sowie die Juristen- und Richtertage die Eigenständigkeit.48 Als Kompromisslösung sah das ArbGG 1926 eine selbständige erste Instanz und die Angliederung der weiteren Instanzen an die ordentliche Gerichtsbarkeit vor. Freilich dauerte deren demokratisches Wirken nur wenige Jahre. Bei der (Wieder)Errichtung der Arbeitsgerichtsbarkeit der Nord-Rheinprovinz 1946 erinnerte als Vertreter der Arbeitgeber Fabrikant Wilhelm Vorwerk zwar an die „Neigung“ der Arbeitgeber zur Eingliederung der Arbeitsgerichte in die ordentliche Gerichtsbarkeit, gleichwohl bescheinigte er, sie hätten sich „im Sinne einer gütlichen Einigung praktisch gut bewährt… Ganz allgemein betrachtet, ist die Wiedererrichtung der Arbeitsgerichtsbarkeit dankbar zu begrüßen.“49 Hanau hat ihre Daseinsberechtigung aus ihrer Verpflichtung gegenüber den materiellen und ideellen Bedürfnissen des Menschen abgeleitet.50 In jüngerer Vergangenheit flammte die Diskussion über eine Zusammenlegung eher von Seiten der Justizverwaltungen auf, auch um Geld zu sparen.51 Es ist an vielen Stellen auch der politischen Diskussion darauf hingewiesen worden, dass die Nachteile die Vorteile deutlich überwiegen würden. Dem kann nur beigetreten werden. Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat sich deutlich positioniert, indem sie jedem Ansatz, der einen möglichen Abbau von Rechtsschutzgewährung und sozialstaatlichen Verfahrensansprüchen bewirken könnte, eine eindeutige Absage erteilt.52 Diskussionen über eine Zusammenlegung würden zudem vormodern anmuten. An 47 Vgl. Leinemann, NZA 1991, 961 ff.; Linsenmaier, NZA 2004, 401 ff. 48 Linsenmaier, NZA 2004, 401, 405. 49 Verwaltungsakten des Justizministeriums NRW. 50 In: NZA 1986, 809, 813. 51 Vgl. Linsenmaier, NZA 2004, 401. 52 Vgl. schon Koalitionsvertrag 2010–2015, S. 74, am Beispiel der Zusammenlegungsüberlegungen für die Verwaltungs- und die Sozialgerichtsbarkeit.

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der Entwicklung der Arbeitsgerichtsbarkeit und ihrem Richterbild ist abzulesen, dass bei zeitgemäßer Betrachtung alte Vorurteile von Bord geworfen werden können. Die Arbeitsgerichtsbarkeit leistet einen hocheffizienten Beitrag für den sozialen Frieden. Wer in Landesjustizverwaltungen meinen würde, eine Zusammenlegung führe zu mehr Einsatzflexibilität bei weniger Kosten, der mag die Justizverwaltung mit der Gesundheitsverwaltung vergleichen: Auch im Gesundheitswesen muss gespart werden – wer aber im Krankenhaus die Augenklinik mit der Inneren Medizin zusammenlegen möchte, um Chefarztstellen zu sparen und die Ärzte flexibler einzusetzen, der wird am Ende seinen Unternehmenszielen nachhaltig schaden. Wer sonst Interesse an einer arbeitgeberfreundlicheren Rechtsprechung hat und meint, eine Zusammenlegung trage dazu bei, ist im Irrtum. Es mag sein, dass das Ergebnis eines Kündigungsschutzprozesses im Einzelfall weniger prognostizierbar ist als gewünscht - wer dem abhelfen will, muss aber die Gesetze ändern und nicht die Gerichtsbarkeiten. Weniger Spezialisten führen nicht zu mehr Sicherheit. Es würde auch der Wert einer sehr schnellen Gerichtsbarkeit unterschätzt, die ihre vielleicht manchmal ungeliebten, aber schnell befriedenden Vergleiche nur auf der Grundlage spezieller – eben eigenständiger – Anforderungen an Sachkunde und Richterpersönlichkeit ermöglicht. Die Arbeitsrechtsprechung in Köln ist 200 Jahre alt. Die Arbeitsgerichtsbarkeit hat sich nach 1945 zu einem Motor des sozialen Friedens entwickelt. Die Justizverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen gratuliert herzlich und ist froh, sie als eigenständige Gerichtsbarkeit in bester Verfassung zu sehen.

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b) Streitschlichtung durch Schiedsgerichte, § 101 ArbGG. . . . . . 176 c) Schlichtungs- und Schiedsstellen­. . . . . . 177 3. Streitschlichtung im Arbeitsgerichts­prozess. . 178 a) Einigungsförderndes Prozessrecht . . . . . . . 178 b) Grenzen der Streit­ schlichtung. . . . . . . . 179 aa) Parteiinteresse. . . 180 bb) Richterliche Be­ rufsethik bei der Streitschlichtung. 180 IV. Zukünftige Entwicklung: Streitschlichtung­ durch Mediation­?. . . . . . . . . . . . . 182 1. Mediationsgesetz. . . . . . 183 2. Ergänzung des Arbeits­ gerichtsgesetzes durch § 54a. . . . . . . . . . . . . . . 184 3. Bewertung. . . . . . . . . . . 185 V. Schlussbemerkung . . . . . . . 187

I. Vormerkung. . . . . . . . . . . . 167 II. Rückblick: Die Wurzeln der Streitschlichtung in der betriebliche­n Praxis . . . . . . 169 1. Streitschlichtung durch den Kölner Rat der Gewerbeverständigen­. . . 169 2. Streitschlichtung durch das Königliche Gewerbe­ gericht Köln. . . . . . . . . . 170 3. Streitschlichtung durch Arbeits­gerichte nach den Arbeits­gerichtsgesetzen von 1926, 1953 und 1979 . . . . . . . . . . . . . . . 173 III. Die Gegenwart: Streit­ schlichtung in arbeitsrecht­ lichen Streitigkeiten­. . . . . . 175 1. Vorbemerkung. . . . . . . . 175 2. Streitschlichtung außerhalb des Prozesses . . . . . 175 a) Streitschlichtung durch Einigungsstellen­, § 76 BetrVG . 175

I. Vormerkung Als durch Dekret des Kaisers Napoleon vom 26.4.1811 in Köln ein „Rat von Gewerbeverständigen“ gegründet und damit erstmals in Köln ein besonderes Gericht für Streitigkeiten zwischen Fabrikanten und ihren Arbeitern errichtet wurde, hätte wohl niemand auch nur 167

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erahnen können, dass dies der Grundstein einer Gerichtstradition in Köln für Konflikte im Arbeitsleben werden würde, die 200 Jahre überdauert. In abgewandelter Form, im Kern aber unverändert, hat das Gericht Zeiten großer politischer und gesellschaftlicher Veränderungen überstanden. Weder die Beendigung der französischen Besatzungszeit, die Reichsgründung 1871, der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, der Nationalsozialismus noch der Zweite Weltkrieg, die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die Wiedervereinigung und die Bildung der Europäischen Gemeinschaft haben den Bestand der Rechtsprechung in Arbeitssachen durch besondere Gerichte angetastet. Wenn eine Institution diese gravierenden Veränderungsprozesse, die in Deutschland seit dem Jahr 1811 stattgefunden haben, überdauert, heißt dies, dass es einen Bedarf für die Fachgerichtsbarkeit gegeben hat und es stellt sich die Frage, wodurch sie sich auszeichnet. Bei einem Vergleich der Struktur des Rates der Gewerbeverständigen (Conseil de prud‘hommes) von 1811, der Tätigkeit der nachfolgenden Gewerbegerichte und schließlich der Arbeitsgerichte fällt ein verbindendes Element besonders ins Auge: Es ist die hohe Streitschlichtungskompetenz. In der Sprache der heutigen Zeit könnte man sie als „Markenzeichen“ oder „Corporate Identity“ der Arbeitsgerichtsbarkeit bezeichnen. Prütting1 klassifiziert die Idee der gütlichen Streitbeilegung sogar als „Zentrum der Gerichtsbarkeit“. Dieses Markenzeichen der Arbeitsgerichtsbarkeit verdient nicht zuletzt deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil eine hohe Streitschlichtungskomponente in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Die italienische Arbeitsgerichtsbarkeit beispielsweise kennt keine Güteverhandlung. Vergleichsbemühungen finden­praktisch nicht statt, so dass fast alle Sachen durch Urteil entschieden­werden müssen.2 Auch im Arbeitsgerichtsprozess in Frankreich ist die Streitschlichtungskomponente deutlich schwächer ausgeprägt.3 Nachfolgend soll die Entwicklung dieses die Arbeitsgerichtsbarkeit damals wie heute gleichermaßen prägenden Elements näher betrachtet werden. 1 In: Joussen/Unberath, Mediation im Arbeitsrecht, 2009, S. 99 ff. (103). 2 Instruktiv Wildschütz, DRiZ 2011, 82. 3 Näher dazu Binkert/Eylert, NZA 1989, 872 (873 f.).

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II. Rückblick: Die Wurzeln der Streitschlichtung in der betriebliche­n Praxis 1. Streitschlichtung durch den Kölner Rat der Gewerbeverständigen

Die Gründung eines besonderen Gerichts in Köln für betriebliche Streitigkeiten fiel in die Zeit der fortschreitenden industriellen Revolution in Deutschland. Im 18. Jahrhundert sorgten bedeutende technische Erfindungen, insbesondere die Dampfmaschine, die Spinnmaschinen und mechanischen Webstühle für eine starke Veränderung der Arbeitswelt. Hinzu kam Anfang des 19. Jahrhunderts die Gewerbefreiheit, die Bauernbefreiung durch die „vom Stein/Hardenberg‘schen Reformen“ (1807, 1811), die Aufhebung des Zunftzwanges und der damit verbundenen Zunftgerichtsbarkeit. Diese Umstände und die rasch steigende Zahl von Lohnarbeitern in den Fabriken ließ bei den Fabrikanten und den Handelskammern den Wunsch nach besonderen Streitschlichtungsgremien entstehen.4 Soziale Unruhe brachten Aufstände in England und Deutschland, bei denen sich Arbeiter gegen die zunehmende Industrialisierung zur Wehr setzten. In dieser Zeit breitete sich das neue Fabrikensystem auch in Köln aus. Ausweislich einer Statistik der Jahre 1806/1807 gab es in Köln bereits Stoffverarbeitung, Färberei, Porzellan-, Leim- und Tabakfabriken. Insgesamt waren in 166 Fabriken 6.902 Arbeiter beschäftigt.5 Inspiriert von dem im Jahr 1806 von Napoleon in der Seidenstadt Lyon gegründeten Gewerbegericht (Conseil de prud‘hommes) reichte der Kölner Bürgermeister am 21.11.1810 mit Unterstützung des Präfekten und der Handelskammern einen Antrag bei der französischen Administration ein, auch in Köln ein entsprechendes Gericht zu errichten.6 Diesem Antrag wurde durch das napoleonische Dekret vom 26.4.1811 entsprochen. Danach bestand das Gericht aus 13 Vertretern der Kaufleute, Fabrikanten, Werkmeister und patentierten Arbeitsleuten. Die Mitglieder des Ge4 Vgl. Stahlhacke in: FS 100-jähriges Bestehen Deutscher Arbeitsgerichtsverband, 1994, S. 59  ff. (60); Linsenmaier, NZA 2004, 401 ff. (402). 5 Gehle in: Klein/Rennen, Justitia Coloniensis,1981, S. 39. 6 Müller, Köln von der französischen zur preußischen Herrschaft, Bd. 8, 2005, S. 193; Globig, Gerichtsbarkeit als Mittel sozialer Befriedung, dargestellt am Beispiel der Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland, 1985, S. 86 f.

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richts nahmen am 12.8.1811 im spanischen Bau am Rathausplatz in Köln ihre Tätigkeit auf.7 Zum Präsidenten wurde der Samtfabrikant Gerhard Wermerskirchen, zum Vizepräsidenten der Kattunfabrikant Joseph Lauterborn und zum Sekretär Franz Peter Gottlieb gewählt.8 Das Verfahren des Gerichts regelten das französische Gewerbegerichtsgesetz vom 11.6.1809 sowie die Novelle vom 3.8.1810.9 Ziel des Verfahrens war schon damals die Streitschlichtung. Das Verfahren begann nämlich bei der „Vergleichskammer“, die aus einem Fabrikkaufmann und einem sonstigen Mitglied des Rates bestand.10 Die Vergleichskammer hatte – quasi als Vorläufer der heutigen Güteverhandlung (§ 54 ArbGG) – die Aufgabe, die Streitigkeit gütlich beizulegen. Erst wenn ein Vergleich scheiterte, wurde die Sache an das „Hauptbüro“ verwiesen, das erneut eine gütliche Beilegung anstreben konnte und im Falle der Nichteinigung den Streit zu entscheiden hatte.11 Der Kölner Rat der Gewerbeverständigen begann seine Tätigkeit sehr erfolgreich. In den ersten Monaten von August 1811 bis 31.12.1811 konnten bereits 213 Klagesachen erledigt werden, 194 durch Vergleich und 19 durch Urteil.12 Dies entspricht einer Vergleichsquote von 91 % (!). Die auf Streitschlichtung angelegte Struktur der Gewerbegerichte erwies sich in Köln als ausgesprochen erfolgreich.13 Die Mitglieder des Gerichts bemühten sich sehr um eine Verständigung der Parteien, was ihnen im Kreis der Kaufleute und Fabrikanten große Wertschätzung eintrug.14 2. Streitschlichtung durch das Königliche Gewerbegericht Köln

Nach Beendigung der französischen Besatzungszeit erkannte auch die preußische Regierung die erfolgreiche Arbeit der neuen Gerichte an   7 Müller a.a.O. S. 193; Globig a.a.O. S. 87.   8 Dahmen, FS zum 100-jährigen Bestehen des Königlichen Gewerbegerichts Cöln, 1911, S. 11.   9 Näher dazu Stahlhacke, FS Arbeitsgerichtsverband, S. 63, 64. 10 Stahlhacke a.a.O. S. 64. 11 Näher dazu Stahlhacke a.a.O. S. 64. 12 Dahmen, FS Königliches Gewerbegericht Cöln, 1911, S. 11; Globig a.a.O. S. 88. 13 So bilanziert auch Müller a.a.O., S. 193. 14 Globig a.a.O. S. 88.

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und führte sie zunächst als „preußischen Rat der Gewerbeverständigen“ fort.15 Durch königliche Verordnung vom 29.3.1844 erhielt das Gericht schließlich die Bezeichnung „Königliches Gewerbegericht zu Cöln“.16 Als nach der Reichsgründung 1871 die Justizstruktur im Deutschen Reich neu geordnet wurde, bestand die Sorge, die Gewerbegerichte würden aufgehoben.17 Bemerkenswert ist, dass die hohe Streitschlichtungskompetenz – das Markenzeichen der Gewerbegerichte – mit ausschlaggebend dafür war, dass nach der Reichsgründung 1871 der Fortbestand der Gewerbegerichte beschlossen wurde. Bei den Beratungen der Reichsjustizgesetze 1876 befürworteten sowohl die Handelskammern als auch die Staatsregierung die Beibehaltung der er­ folgreichen Gewerbegerichte. Zur Begründung wurde damals u.a. angeführt, diese Gerichte brächten ein günstiges Ergebnis: nach statistischen Ermittlungen würden von je 100 Sachen ungefähr 70 durch Vergleich erledigt.18 Dieser Aspekt überzeugte die Abgeordneten des Reichstages, so dass durch Gesetz vom 27.1.1877 die Gewerbegerichte als Fachgerichte weiterhin beibehalten wurden. Die nachfolgenden Gesetze betreffend die Gewerbegerichte (v. 29.7.1890 – GewGG –, v. 11.7.1891 sowie v. 30.6.1901) etablierten die königlichen Gewerbegerichte im gesamten Deutschen Reich. Entscheidendes Strukturelement blieb nach wie vor der vorgeschaltete Schlichtungsversuch vor der Vergleichskammer. § 10 Abs. 1 Satz 2 des GewGG vom 11.7.1891 bestimmte hierzu: „Einer jeden Klage muss der Versuch einer gütlichen Einigung vor der Vergleichskammer vorangehen“. Die erfolgreiche Tätigkeit der Vergleichskammern, die bei den verschiedenen Beratungen immer wieder als Argument für die Beibehaltung der Gewerbegerichte gedient hat, lässt sich auch an der Statistik des Gewerbegerichts Köln ablesen: Von den in den Jahren 1842 bis 1891 in Köln insgesamt anhängigen 37.098 Verfahren wurden 30.529 (über 82 %) und von den in der Zeit von 1892 bis 1910 erhobenen 15 16 17 18

Einzelheiten bei Dahmen, FS Königliches Gewerbegericht Cöln, S. 12 ff. Vgl. Dahmen a.a.O. S. 15. Vgl. Dahmen a.a.O. S. 22. Vgl. Dahmen a.a.O. S. 22 f.

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57.941 Klagen 44.862 (über 77 %) durch Zurücknahme, Vergleich oder außergerichtlichen Vergleich erledigt.19 Das „Erfolgsmodell“ Gewerbegericht setzte sich durch. Im Jahre 1909 bestanden in Deutschland bereits rund 500 Gewerbegerichte, bei denen 109.130 Klagen anhängig gemacht wurden und von denen der größte Teil in kürzester Frist im Vergleichswege erledigt werden konnte.20 Die Streitschlichtungstätigkeit der Gewerbegerichte wurde durch ein weiteres, die sozialen Verhältnisse der damaligen Zeit befriedendes Institut ergänzt: Das „Einigungsamt“ des Gewerbegerichts. Das Gewerbegerichtsgesetz (§§ 62 ff. GewGG) sah vor, dass für Streitigkeiten der Tarifpartner betreffend Lohn, Streiks sowie Aussperrungen von beiden Seiten das Einigungsamt bei dem Gewerbegericht angerufen werden konnte.21 Seit der am 1.1.1902 in Kraft getretenen Gewerbegerichtsnovelle vom 30.6.1901 bestand das Einigungsamt aus dem Vorsitzenden und aus jeweilig zu ernennenden Vertrauensmännern aus dem Bereich der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in gleicher Zahl als Beisitzer.22 Das Einigungsamt hatte auf eine Einigung hinzuwirken und konnte einen Schiedsspruch erlassen, dem sich die Beteiligten unterwerfen konnten.23 Das Gewerbegericht Köln wurde in der Zeit von 1896 bis 1911 insgesamt 26 mal als Einigungsamt tätig, konnte in 16 Fällen eine Einigung erzielen und gab vier Schiedssprüche ab.24 Neben der Tätigkeit als Einigungsamt übernahmen die Vorsitzenden der Gewerbegerichte in vielen Fällen auch den Vorsitz von tariflichen Schlichtungskommissionen und tariflichen Schiedsgerichten, die außerhalb der Gewerbegerichte um Streitschlichtung in der betrieblichen Praxis bemüht waren. Die Vorsitzenden trugen durch dieses Engagement in vielfältiger Weise zur Befriedung der teilweise sehr zerstrittenen Tarifvertragsparteien bei.25 Aufgrund des hervorragenden Rufs, den sich die Gewerbegerichte erarbeitet hatten, erstrebten auch die Handlungsgehilfen eine eigene 19 20 21 22 23 24 25

Dahmen a.a.O. S. 38. Dahmen a.a.O. S. 43. Einzelheiten bei Wenzel, JZ 1965, 697 (700). Vgl. Dahmen a.a.O. S. 30. Wenzel, JZ 1965, 700, 701. Dahmen a.a.O. S. 38, 39. Wenzel a.a.O. S. 701.

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Sondergerichtsbarkeit.26 Dieser Forderung wurde nach langjährigen Beratungen schließlich durch das Reichsgesetz über die Kaufmannsgerichte (KGG) vom 6.7.1904, das am 1.1.1905 in Kraft trat,27 Rechnung getragen. In jeder Gemeinde mit mehr als 20.000 Einwohnern war danach ein Kaufmannsgericht für das kaufmännische Hilfspersonal zu errichten, das den Gewerbegerichten angegliedert werden konnte.28 Dies führte dazu, dass die Gewerbegerichte häufig zugleich als Kaufmannsgerichte fungierten und auch in diesem Bereich erfolgreich waren. Die Verfahren wurden zügig und ebenfalls mit einer hohen Vergleichsquote (1913: 40,6 %) erledigt.29 3. Streitschlichtung durch Arbeitsgerichte nach den Arbeits­ gerichtsgesetzen von 1926, 1953 und 1979

Bereits zu Beginn der Weimarer Republik im Mai 1919 berief das Reichsarbeitsministerium eine Kommission zur Abfassung eines einheitlichen Arbeitsgesetzbuches, die sodann einen Unterausschuss betreffend Arbeitsgerichte bildete.30 Nach langwierigen, kontroversen Beratungen wurde schlussendlich am 13.12.1926 das ArbGG verabschiedet, das am 1.7.1927 in Kraft trat.31 Durch das ArbGG von 1926 wurden in der ersten Instanz selbständige staatliche Arbeitsgerichte errichtet. Auch diese Reform ließ die besondere, auf Streitschlichtung angelegte Struktur des Verfahrens unberührt. Alle in der Weimarer Zeit diskutierten Entwürfe eines ArbGG waren in der Konzeption auf eine gütliche Einigung des Streitverhältnisses angelegt, denn – wie schon zu früherer Zeit – wurde dieses Prinzip als besondere, gegenüber dem damaligen Zivilprozess hervorzuhebende Prozessmaxime des Arbeitsgerichtsprozesses gelobt.32 Entsprechend war gemäß § 54 ArbGG 1926 weiterhin eine Güteverhandlung vor dem Vorsitzenden vorgeschaltet. In der kurzen Zeit bis zur Änderung der Strukturen in der Zeit des Nationalsozialismus konnte die Streitschlichtung von den 26 Näher dazu Weiss, Festschrift Arbeitsgerichtsverband, 1994, S. 75 ff. (80). 27 RGBl. 1904 Nr. 30 v. 14.7.1904. 28 Näher dazu Wenzel, JZ 1965, 702. 29 Wenzel a.a.O. S. 702. 30 Vgl. Weiss, FS Arbeitsgerichtsverband, S. 83, 84. 31 RGBl. 1926, S. 507 ff. 32 Kramer, Die Güteverhandlung, 1999, S. 58 m.w.N.

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Arbeitsgerichten erfolgreich fortgeführt werden. Die Vergleichsquote lag damals bei rund 40 % bei einer Urteilsquote von weniger als 20 %.33 Die Zeit des Nationalsozialismus bis zum 2. Weltkrieg bildete eine Zäsur in der erfolgreichen Geschichte der Arbeitsgerichtsbarkeit.34 Nach der NS-Zeit und dem Zusammenbruch Deutschlands im Anschluss an den zweiten Weltkrieg wurde durch Kontrollratsgesetz Nr. 21 vom 30.3.1946 die Arbeitsgerichtsbarkeit auf der Basis des ArbGG 1926 reaktiviert.35 Die Wiedereröffnung des Arbeitsgerichts Köln erfolgte am 16.7.1946. Aus einer frühen Statistik aus den Generalakten ergibt sich, dass das Arbeitsgericht Köln in der Zeit vom 1.9.1946 bis zum 30.9.1947 bereits 1.214 Verfahrenseingänge hatte und 1.046 Verfahren erledigen konnte, darunter 411 Verfahren durch Vergleich und 70 Verfahren durch streitiges Endurteil. Daraus errechnet sich eine Vergleichsquote von 39,29 % und eine Urteilsquote von lediglich 6,7 %. Diese auf vergleichsweise Erledigung der Streitigkeiten angelegte Struktur wurde weiter gefestigt, als nach Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23.5.1949 durch Art. 95 Abs. 1 GG (Art. 96 Abs. 1 a.F.) für das Gebiet der Arbeitsgerichtsbarkeit ein eigenständiges Bundesgericht (Bundesarbeitsgericht) errichtet und die Arbeitsgerichtsbarkeit mit Arbeitsgerichtsgesetz vom 3.9.1953 neu geordnet wurde.36 Das Arbeitsgerichtsgesetz 1953 knüpft in Aufbau und Struktur an das Gesetz aus dem Jahr 1926 an. § 54 ArbGG 1953 behielt die vorgeschaltete Güteverhandlung bei; diese ist auch bei der Arbeitsgerichtsnovelle von 1979 unverändert geblieben. In der Nachkriegszeit mit fortschreitendem Wirtschaftsaufschwung gestaltete sich die Streitbeilegung offenbar schwieriger. Die Vergleichsquote sank in dieser Zeit von 40,5 % im Jahr 1955 auf 33,7 % im Jahr 1960.37

33 Vgl. die Statistik bei GMP/Prütting, ArbGG, 7. Aufl. 2009, Einl. Rn. 18 (bezogen auf das Jahr 1931). 34 Einzelheiten bei Fritzsche, S. 27 ff. und Wenzel, JZ 1965, 751 ff. 35 Wenzel, JZ 1965, 749 ff. (753). 36 BGBl. 1953 I S. 1267. 37 Vgl. dazu Rüstig, ArbuR 1956, 207 ff. (209); ArbuR 1961, 175 ff. (178).

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III. Die Gegenwart: Streitschlichtung in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten 1. Vorbemerkung

Der Blick auf die betriebliche Praxis in Deutschland im Jubiläumsjahr des Arbeitsgerichts Köln zeigt, dass der Streitschlichtungsgedanke im Arbeitsrecht kontinuierlich weiter gefördert und ausgebaut worden ist. Die Streitschlichtungsinstrumentarien sind heute so vielgestaltig, dass sie in diesem Zusammenhang nur überblicksartig und ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgezeigt werden können. 2. Streitschlichtung außerhalb des Prozesses

In wohl keinem anderen Rechtsgebiet ist der Schlichtungsgedanke nach dem zweiten Weltkrieg im Arbeitsrecht weiterentwickelt und in verschiedenen Bereichen – auch außerhalb des Arbeitsgerichtsprozesses – implementiert worden. Schwerpunkt dieses arbeitsrechtlichen Schlichtungsgedankens ist die betriebliche Streitbeilegung durch Einigungsstellen. Hinzu kommen tarifliche Schlichtungsstellen im Arbeitskampf, Schiedsgerichte sowie Schlichtungsausschüsse. a) Streitschlichtung durch Einigungsstellen, § 76 BetrVG

Für das auf betrieblicher Ebene zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat entstehende Streitpotential hat das BetrVG mit der Einigungsstelle eine privatrechtliche, innerbetriebliche Schlichtungsstelle38 geschaffen. Sinn der Einigungsstelle ist, die Streitschlichtung außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens in der betrieblichen Sphäre zu suchen. Die Schlichtungsaufgabe der Einigungsstelle bezieht sich dabei – im Wesentlichen – auf Regelungsstreitigkeiten. Der Spruch der Einigungsstelle unterliegt lediglich einer nachträglichen Rechtskontrolle durch die Gerichte für Arbeitssachen. Im Hinblick auf die gesetzliche Vorgabe in § 76 Abs. 2 Satz 1 Betr­ VG, wonach die Einigungsstelle einen unparteiischen Vorsitzenden haben muss, hat sich eine Praxis entwickelt, in der ganz überwiegend Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter zu Vorsitzenden berufen wer38 BAG v. 22.1.1980, AP BetrVG 1972, § 87 Lohngestaltung Nr. 3.

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den.39 Wie bereits zur Zeit der Gewerbegerichte40 sind auch derzeit die Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter außerhalb des Prozesses in Schiedsstellen, Schlichtungsstellen und insbesondere aber in Einigungsstellen zur Befriedung im Arbeitsleben engagiert. Ein Richter darf allerdings nur dann zum Vorsitzenden der Einigungsstelle bestellt werden, wenn aufgrund der Geschäftsverteilung ausgeschlossen ist, dass er mit der Überprüfung der Auslegung oder der Anwendung des Spruchs der Einigungsstelle befasst wird (§ 98 Abs. 1 Satz 5 ArbGG). Auch wenn es zuweilen Vorschläge gegeben hat, das Streitschlichtungsmodell der Einigungsstelle zu verbessern41 oder durch eine ausschließlich betriebliche, paritätisch besetzte Einigungsstelle zu ersetzen,42 lässt sich sagen, dass die Einigungsstellen zu einer starken Befriedung der Konflikte im Arbeitsleben geführt haben. b) Streitschlichtung durch Schiedsgerichte, § 101 ArbGG

Zusätzlich zur betrieblichen Streitschlichtung ist durch das ArbGG die Möglichkeit geschaffen worden, für Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien aus Tarifverträgen oder über das Bestehen oder Nichtbestehen von Tarifverträgen die Entscheidung durch ein Schiedsgericht vorzusehen (§ 101 Abs. 1 ArbGG). Damit hat der Gesetzgeber ein weiteres Instrument außergerichtlicher Streitbeilegung geschaffen. Für Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis ist die Vereinbarung von Schiedsgerichten demgegenüber gemäß §§ 4, 101 Abs. 2 ArbGG weitgehend ausgeschlossen.43 Lediglich für die Berufsgruppen der Bühnenkünstler, Filmschaffenden, Artisten, Kapitäne und Besatzungsmitglieder können die Parteien des Tarifvertrages eine Entscheidung durch ein Schiedsgericht vorsehen (§§ 4, 101 Abs. 2 ArbGG). Hiervon ist etwa für den Bereich der Deutschen Bühnen und ihrer Beschäftigten Gebrauch gemacht worden. Auf der Grundlage des § 4 Abs. 2 TVG 39 Francken, NJW 2007, 1792 ff. (1795); ErfK/Kania, 11. Aufl. 2011, § 76 BetrVG Rn. 7. 40 Vgl. dazu Wenzel, JZ 1965, 697 ff. (700, 701). 41 Bauer, ZIP 1996, 117 ff.; Ehler, BB 2010, 702. 42 So der Vorschlag von Grotmann-Höfling, Strukturanalyse des arbeitsgerichtlichen Rechtsschutzes 1995, S. 163 ff. 43 Für eine Ausweitung de lege ferenda plädiert Grunsky, NJW 1978, 1832 (1833 ff.).

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haben die Bühnengenossenschaft und der Deutsche Bühnenverein als gemeinsame Einrichtung eine besondere Bühnenschiedsgerichtsbarkeit geschaffen.44 Dadurch ist die Arbeitsgerichtsbarkeit i.S.v. § 101 Abs. 2 ArbGG für Bühnenkünstler und Bühnenmitglieder ausgeschlossen. Streitigkeiten werden durch Bezirksschiedsgerichte verhandelt; für das Land Nordrhein-Westfalen durch das Bezirksschiedsgericht Köln (§ 4 Abs. 1 Nr. 1c BSchGO). Berufung kann in der Regel zum Bühnenoberschiedsgericht in Frankfurt eingelegt werden (§§ 30 ff. BSchGO). Nach Rechtskraft des Schiedsspruchs ist eine Aufhebungsklage gemäß § 38 BSchGO i.V.m. § 110 ArbGG vor den staatlichen Gerichten zulässig. Solche Klagen sind ausschließlich vor dem Arbeitsgericht Köln zu erheben (§ 38 BSchGO). Aufgrund dieser Sonderzuständigkeit kommt dem Arbeitsgericht Köln heute im Bereich der Bühnenschiedsgerichtsbarkeit besondere Bedeutung zu. Der weitere Instanzenzug zum Landesarbeitsgericht Köln sowie zum BAG ist eröffnet.45 Allerdings ist das Aufhebungsverfahren nach § 110 ArbGG in allen drei Instanzen ein revisionsähnliches Verfahren, in dem der Spruch des Bühnenoberschiedsgerichts nur auf Rechtsfehler überprüft werden kann.46 Diese beschränkte Prüfkompetenz unterstreicht die Bedeutung der außergerichtlichen Streitschlichtung. c) Schlichtungs- und Schiedsstellen

Neben den eigentlichen Schiedsgerichten wird Streitschlichtung darüber hinaus durch gesetzlich oder tarifvertraglich vorgesehene Schiedsund Schlichtungsstellen erfolgreich durchgeführt. Zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Ausbildenden und Auszubildenden erlaubt etwa § 111 Abs. 2 ArbGG im Bereich der Kammern Schlichtungsausschüsse zu bilden, die vor Klageerhebung anzurufen sind. Hiervon ist in großem Umfang Gebrauch gemacht worden. Streitigkeiten aus dem Bereich der Arbeitnehmererfindung sollen gemäß §§ 28 ff. ArbNErfG durch eine Schiedsstelle bei dem deutschen Patentamt ausgeräumt werden.

44 Näher dazu Schmid/Schäfer, ZTR 2003, 608 ff. (610). 45 GMP/Germelmann, ArbGG, § 110 Rn. 30. 46 BAG v. 16.12.2010 – 6 AZR 487/09, juris.

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Zur Vermeidung oder Beendigung von Arbeitskämpfen sehen Tarifverträge häufig Schlichtungsverfahren vor.47 Ergänzt wird diese vereinbarte Schlichtung durch die Möglichkeit staatlicher Schlichtung vor Schiedsausschüssen bei den Landesarbeitsbehörden sowie durch die Schlichtung der Landesschlichter aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 35.48 3. Streitschlichtung im Arbeitsgerichtsprozess a) Einigungsförderndes Prozessrecht

In der heutigen Konzeption des Arbeitsgerichtsgesetzes hat der Streitschlichtungsaspekt seinen hohen Stellenwert behalten. § 57 Abs. 2 ArbGG verpflichtet alle Arbeitsrichterinnen und -richter während des ganzen Verfahrens, die gütliche Einigung des Rechtsstreits anzustreben. Diese gesetzliche Zielsetzung gilt gleichermaßen für die Berufungsinstanz (§ 64 Abs. 7 ArbGG) sowie für die Revisionsinstanz (§ 72 Abs. 6 ArbGG). Zur gütlichen Beilegung des Rechtsstreits bereits im frühen Stadium des erstinstanzlichen Verfahrens sieht § 54 ArbGG unverändert das seit der Zeit der ersten Gewerbegerichte Anfang des 19. Jahrhunderts bestehende besondere Güteverfahren vor. Anders als in Frankreich, wo die Güteverhandlung nach wie vor in Tradition zu den Conseils de prud‘hommes nur vor ehrenamtlichen Richtern stattfindet,49 wird im deutschen Arbeitsgerichtsprozess die Güteverhandlung vor dem berufsrichterlichen Vorsitzenden durchgeführt (§ 54 Abs. 1 Satz 1 ArbGG).50 Eine Güteverhandlung ist seit dem Jahre 2000 auch im Beschlussverfahren ermöglicht werden (§ 80 Abs. 2 Satz 2 ArbGG). Außerdem können im Beschlussverfahren in allen Instanzen auch Vergleiche geschlossen werden, soweit die Parteien über den Gegenstand dieses Vergleichs verfügen können (§§ 83a Abs. 1, 90 Abs. 2, 95 Satz 4 47 Übersicht bei Knevels, ZTR 1988, 414. 48 Vom 20.8.1946, AmtsBl. Nr. 10, 1946 S. 174; Einzelheiten bei Schaub/ Koch, ArbR-Hdb, 13. Aufl. 2009, § 196. 49 Vgl. dazu Kraushaar, NZA 1987, 761 ff. (764); kritisch zu diesem Modell Binkert/Eilert, NZA 1989, 872. 50 Näher zur Güteverhandlung van Venrooy, ZfA 1984, 337; kritisch zur Struktur der Güteverhandlung Grunsky NJW 1978, 1832 (1837).

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ArbGG). Auch hier zeigt sich die Tendenz des Gesetzgebers, der Streitschlichtung immer breiteren Raum zu schaffen. Im Schrifttum werden weitere Besonderheiten des Arbeitsgerichtsverfahrens als – mittelbar – vergleichsfördernd bewertet:51 Der Beschleunigungsgrundsatz (§§ 9 Abs. 1 und § 61a ArbGG), wonach das Verfahren in allen Rechtszügen – besonders in Kündigungsschutzsachen – zu beschleunigen ist und die streitige Verhandlung möglichst in einem Termin zu Ende geführt werden soll (§§ 56 Abs. 1 Satz 1, 57 Abs. 1 Satz 1 ArbGG). Angeführt wird außerdem auch die spezielle Kostenregelung in erster Instanz, wonach auch bei obsiegendem Urteil ein Anspruch auf Entschädigung wegen Zeitversäumnis und auf Erstattung der Kosten für die Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten nicht besteht (§ 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG).52 Die besondere gesetzliche Verpflichtung zur gütlichen Einigung sowie die prozessuale Ausgestaltung des Arbeitsgerichtsprozesses führen auch in der heutigen Zeit dazu, dass der Anteil der vergleichsweise abgeschlossenen Verfahren nach wie vor bemerkenswert ist. Die Vergleichsquote stieg kontinuierlich an und betrug 1970 31,28 %, 1980 36,92 %, 1990 40,34 % und 2000 über 42 %.53 Im Jahr 2009 ist die bundesweite Vergleichsquote sogar auf einen Spitzenwert von 57 % bei den Arbeitsgerichten gestiegen.54 Eine aktuell hohe Vergleichsquote weist auch das Arbeitsgericht Köln auf. Sie betrug im Jahr 2010 57,41 %. Der Vergleich ist damit heute – wie seit 200 Jahren – das prägende Element des arbeitsgerichtlichen Verfahrens. b) Grenzen der Streitschlichtung

So groß die Bedeutung der Streitschlichtungskomponente im Arbeitsgerichtsprozess auch ist, sie hat ihre Grenzen und unterliegt verfahrens­ immanenten Schranken. Die wichtigsten Schranken sind das Partei­ interesse und die richterliche Berufsethik. 51 Vgl. Willikonsky, SchlHA 2007, 46 ff. 52 Willikonsky a.a.O. 53 Vgl. die Statistik bei Grotmann-Höfling, Strukturanalyse S. 251 und ArbuR 2002, 90 (92). 54 Vgl. die Aufbereitung der Statistik von Grotmann-Höfling, ArbuR 2010, 504 ff. (505).

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aa) Parteiinteresse

Grenze jeder streitschlichtenden Aktivität im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist die Orientierung an den Interessen der Parteien. Dies bringt § 54 Abs. 1 Satz 1 ArbGG deutlich zum Ausdruck, wenn er den Zweck der Güteverhandlung ausschließlich an der gütlichen Einigung der Parteien orientiert. Treten bei der streitschlichtenden Tätigkeit andere Elemente in den Vordergrund, wird der Zweck des Streitschlichtungsprinzips konterkariert. Daher müssen bei der Streitschlichtung die Interessenlagen beider Parteien sorgsam ermittelt und im Idealfall zum bestmöglichen Ausgleich gebracht werden. Interessenlagen der Parteivertreter oder des Gerichts dürfen keine Rolle spielen. bb) Richterliche Berufsethik bei der Streitschlichtung

Die Gerichte, insbesondere aber die Arbeitsgerichtsbarkeit, sehen sich zuweilen der Kritik ausgesetzt, engagierte Vergleichsbemühungen auch im eigenen Interesse zu verfolgen.55 Aktuell hat sich der 20. Deutsche Richter- und Staatsanwaltstag, der vom 6.–8.4.2011 in Weimar stattfand, unter dem Titel „Richter tricksen, Anwälte pokern – wo bleibt die Ehtik im Prozess?“ mit Fragen der Berufsethik befasst. In der Diskussion erhob auch Rieble den Vorwurf, gerade im arbeitsgerichtlichen Verfahren spielten Richterinnen und Richter ihre Macht aus und zwängen Parteien zum Vergleich.56 In die gleiche Richtung ging die Stellungnahme des Bundestagsabgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Wolfgang Wieland, der berichtete, ein Richter habe ihn einmal bis auf die Toilette verfolgt und mit den Worten: „Herr Rechtsanwalt, Sie müssen doch Wahlkampf machen, Sie haben doch gar keine Zeit“57 zu einem Vergleichsabschluss drängen wollen. Mangelnde richterliche Berufsethik lag auch einem Prozessvergleich zugrunde, mit dem sich das Bundesarbeitsgericht in seiner Entschei55 Vgl. etwa Grotmann-Höfling, Strukturanalyse S. 54; Preis/Bender, NZA 2005, 1321 (1323) und Preis, NJW-Editorial, Heft 51/2010. 56 Pressemitteilung Deutscher Richterbund 05/11 vom 6.4.2011 (www.drb. de); vgl. dazu auch Jahn, FAZ v. 18.5.2011, S. 19 und Böttcher-Grewe, DRiZ 2011, 203. 57 FAZ v. 8.4.2011, S. 10.

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dung vom 12.5.201058 zu befassen hatte. Der Prozessvergleich war wegen widerrechtlicher Drohung durch das Gericht gemäß § 123 Abs. 1 BGB angefochten worden. Das Bundesarbeitsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Anfechtung des Vergleichs berechtigt war, denn der Kläger sei im Termin zur mündlichen Verhandlung widerrechtlich durch Drohung seitens des Kammervorsitzenden zu einem Abschluss bestimmt worden. Nach den Feststellungen des Bundesarbeitsgerichts hatte der Vorsitzende mit Formulierungen wie: „Seien Sie vernünftig, sonst müssen wir Sie zum Vergleich prügeln; ich reiße Ihnen sonst den Kopf ab; Sie werden sonst an die Wand gestellt und erschossen; manche muss man eben zu ihrem Glück zwingen; stimmen Sie jetzt endlich zu, ich will Mittag essen gehen“ seinem Vergleichsvorschlag Nachdruck verliehen. Sicherlich handelt es sich bei dem von dem Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall sowie bei den in der öffentlichen Diskussion angesprochenen Fallgestaltungen um Einzelfälle. Die in der Praxis vor den Arbeitsgerichten geschlossenen Vergleiche werden demgegenüber in der Regel sorgfältig erörtert und unter Beachtung der Interessen der Parteien geschlossen. Der pauschale Vorwurf, Richterinnen und Richter drängten regelmäßig auf Vergleichsabschluss ist zu undifferenziert und geht an der Lebenswirklichkeit in den Sitzungssälen der Arbeitsgerichte vorbei. Allerdings lässt sich nicht bestreiten, dass Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter nicht zuletzt auch wegen der hohen Belastung – das Pensum eines erstinstanzlichem Richterdezernats umfasst ca. 660 Verfahren im Jahr – in der latenten Gefahr stehen, sich bei Vergleichsbemühungen auch von eigenen Interessen (Arbeits- und Zeitersparnis) leiten zu lassen. Die kritischen Stimmen sollten daher nicht einfach ignoriert werden. Das Bundesarbeitsgericht hat in der vorgenannten Entscheidung bereits vorsichtig den Zeigefinger erhoben und betont, die Verhandlungsführung des Vorsitzenden dürfe nicht den Eindruck erwecken, die Partei müsse sich zwingend der Autorität des Gerichts beugen. Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Justizgewährleistungsanspruch verlange, dass einer Partei der Zugang zu einer ge-

58 BAG v. 12.5.2010 – 2 AZR 544/08, NZA 2010, 1250.

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richtlichen Entscheidung nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden darf.59 Es darf also – vergleichbar der Rechtslage bei der Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit (§ 42 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG), bei der bereits der „böse Schein“ von Voreingenommenheit vermieden werden muss60 – schon nicht der „Eindruck“ eines unzulässigen Drucks auf die Parteien entstehen.61 Hinzuzufügen ist, dass natürlich auch der Eindruck vermieden werden muss, das Gericht verfolge bei seinen Vergleichsbemühungen andere als die Interessen der Parteien. Die richterliche Berufsethik verlangt, dass persönliche Inte­ ressenlagen völlig unterdrückt werden und dies auch gegenüber den Parteien deutlich wird. Es gilt, dem Thema Aufmerksamkeit und Sensibilität entgegen zu bringen.62 Hilfreich könnten – in Anlehnung an das Positionspapier des Beirats der Europäischen Richter (CCJE) zur richterlichen Ethik63 – Leitlinien der richterlichen Berufsverbände für die richterliche Streitschlichtungsethik sein.

IV. Zukünftige Entwicklung: Streitschlichtung durch Mediation­? Die ausgeprägte Streitschlichtungskultur im Bereich der arbeitsrechtlichen Praxis wird in absehbarer Zeit ergänzt durch eine weitere Form 59 BAG v. 12.5.2010 a.a.O. Rz. 37 60 BVerfG v. 18.6.2003, BVerfGE 108, 122 ff.; Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 42 Rn. 8. 61 Zur Zurückhaltung bei Vergleichsgesprächen mahnen Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 278 Rn. 32 (eindringlich); GK/Schütz, ArbGG, § 54 Rn. 41; Grunsky, ArbGG, 7. Aufl. 1995, § 54 Rn. 10; HWK/Ziemann, 4. Aufl. 2010, § 54 ArbGG Rn. 24; ErfK/Koch, 11. Aufl. 2011, § 54 ArbGG Rn. 4; Hauck/Helml/Biebl, ArbGG, 4. Aufl. 2011, § 54 Rn. 11. 62 In diese Richtung auch die Position des DRB, vgl. Pressemitteilung 05/11 v. 6.4.2011 (www.drb.de). 63 Vgl. die Stellungnahme des Beirats der Europäischen Richter (CCJE) vom 19.11.2002 über die Grundsätze und Regeln, die das berufliche Verhalten der Richter lenken (CCJE (2002) OP Nr. 3); auf nationaler Ebene vgl. die „Erklärung der Mainzer Ethikrunde“, dazu Faber-Kleinknecht, DRiZ 2009, 349 und Epp, DRiZ 2011, 122.

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der Konfliktlösung. Ausgehend von Entwicklungen in den USA in den 70-er Jahren verabschiedeten das Europäische Parlament und der Rat am 21.5.2008 die Richtlinie 2008/52/EG über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen (Europäische Mediationsrichtlinie – Mediation-RL, ABl. L 136 vom 24.5.2008, S. 3). Diese Richtlinie hat das Ziel, bei grenzüberschreitenden Streitigkeiten in Zivil und Handelssachen Mediation zu fördern und sicher zu stellen. Die Richtlinie, die bis zum 20.5.2011 in deutsches Recht umzusetzen gewesen wäre, hat die Bundesregierung zum Anlass genommen, am 1.4.2011 den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vorzulegen.64 Ziel des Gesetzentwurfs ist es, die außergerichtliche Konfliktbeilegung und insbesondere die Mediation im Bewusstsein der Bevölkerung und der in der Rechtspflege tätigen Berufsgruppen stärker zu verankern, um die Streitkultur in Deutschland nachhaltig zu verbessern.65 Mit dem Gesetzentwurf geht die Bundesregierung über die aufgrund der Richtlinie erforderliche Umsetzung für grenzüberschreitende Sachverhalte hinaus und regelt gleichzeitig nationale Streitigkeiten, um die Mediation insgesamt auf eine einheitliche Grundlage zu stellen. Der Gesetzentwurf enthält auch ergänzende Vorschriften zu den Prozessordnungen, um auch eine gerichtsnahe oder gerichtsinterne Mediation rechtssicher durchführen zu können. 1. Mediationsgesetz

Art. 1 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung enthält das eigentliche Mediationsgesetz, das nur aus sieben Paragraphen besteht. Nach der Begriffsbestimmung in § 1 des Mediationsgesetzes-E gilt als Mediation „ein vertrauliches und strukturiertes Verfahren, bei dem Parteien mit Hilfe eines Mediators oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben“. Dies kann unabhängig von einem Gerichtsverfahren (außergerichtliche Mediation), während eines Gerichtsverfahrens außerhalb des Gerichts (gerichtsnahe Mediation) oder während eines Gerichtsverfahrens vor einem nicht entscheidungsbefugten Richter 64 BT-Drs. 17/5335. 65 Gesetzentwurf v. 1.4.2011 a.a.O. S. 11.

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(gerichtsinterne Mediation) durchgeführt werden (§ 1 Satz 2 Nr. 1–3 MediationsG-E). Darüber hinaus enthält das Gesetz in den §§ 2–7 Regelungen zum Verfahren, zu den Aufgaben des Mediators, zu Offenbarungspflichten, Tätigkeitsbeschränkungen und zur Verschwiegenheitspflicht sowie zur Ausbildung und Fortbildung des Mediators, zu wissenschaftlichen Forschungsvorhaben sowie zu Übergangsregelungen. 2. Ergänzung des Arbeitsgerichtsgesetzes durch § 54a

Für die Arbeitsgerichtsbarkeit bedeutsam ist die beabsichtigte Änderung des Arbeitsgerichtsgesetzes. Der Gesetzentwurf sieht in Art. 5 Nr.  2 die Ergänzung des ArbGG durch einen neuen § 54a vor. Danach ist das Gericht befugt, den Parteien eine gerichtsnahe oder eine andere Form der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vorzuschlagen. Durch landesrechtliche Regelung kann überdies auch die Möglichkeit für die Gerichte eröffnet werden, in geeigneten Fällen eine gerichtsinterne Mediation vorzuschlagen (§ 54a Abs. 1 Satz 2 ArbGG-E). Sofern sich die Parteien für ein Mediationsverfahren entscheiden, ordnet der Vorsitzende das Ruhen des Verfahrens an. § 55 Abs. 1 Nr. 8 ArbGG soll diesbezüglich entsprechend ergänzt werden (Art. 5 Nr. 3). Nach drei Monaten ist das Verfahren fortzuführen, es sei denn, eine Partei hat bereits früher einen Antrag auf Termin zur mündlichen Verhandlung gestellt oder die Parteien legen übereinstimmend dar, dass eine Mediation noch andauert (§ 54a Abs. 2 Satz 2 u. 3 ArbGG-E). Durch Änderungen in den §§ 64 Abs. 7, 80 Abs. 2 sowie 87 Abs. 2 ArbGG sollen die Möglichkeiten zur gerichtsnahen oder gerichtsinternen Mediation auch im Berufungsverfahren, im Beschwerdeverfahren und – dafür hatte sich das Justizministerium NRW auf Vorschlag der Landesarbeitsgerichte in NRW eingesetzt – auch im Beschlussverfahren eingeführt werden. Mit der neuen Vorschrift des § 796d Abs. 3 ZPO-E, der gemäß § 62 Abs. 2 Satz 2 ArbGG-E im arbeitsgerichtlichen Verfahren entsprechend gelten soll, wird den Parteien, die im Rahmen der Mediation eine Vereinbarung geschlossen haben, die Möglichkeit eröffnet, ihre Vereinbarung in gerichtliche Inverwahrungsnahme zu geben und außerdem sie auch vom Arbeitsgericht für vollstreckbar erklären zu lassen. Die ursprünglichen Überlegungen, den richterlichen Mediatoren 184

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die Befugnis einzuräumen, die von den Parteien gefundene Einigung als Prozessvergleich zu protokollieren und den Streitwert festzusetzen, sind fallen gelassen worden.66 3. Bewertung

Um die Bedeutung der Mediation zu unterstreichen, greift der Gesetzentwurf der Bundesregierung weit zurück und nimmt Bezug auf die Präambel zum Vertrag über den westfälischen Frieden vom 24.10.1648, der den 30-jährigen Krieg beendete. In dieser Präambel wird festgehalten, dass der venezianische Ritter Alvise Contarini „den Auftrag eines Mediators unabhängig von den Begehrlichkeiten der Parteien während beinahe fünf Jahren unverdrossen erfüllt und damit den Frieden möglich gemacht habe.“67 Soweit die richterliche Mediation in Pilotprojekten bereits in der jüngeren Vergangenheit durchgeführt worden ist, sind die Erfahrungen zumeist positiv.68 Henssler sieht in dem geplanten Mediationsgesetz einen richtigen zukunftsweisenden Weg.69 Nach einer Studie des Allensbach-Instituts für Demoskopie aus dem Jahr 2010 haben bereits 57 % der Bevölkerung von Mediation gehört und bewerten sie überwiegend positiv, 48 % glauben, dass sich dadurch viele Streitigkeiten beilegen lassen und 44 % würden im Streitfall die Mediation gegenüber einem Gerichtsverfahren sogar bevorzugen.70 Die langjährige Streitschlichtungskultur in der arbeitsgerichtlichen Praxis sowie die vielen verschiedenen außergerichtlichen Streitschlichtungsgremien werfen allerdings die Frage auf, ob die Mediation speziell auch für die schlichtungserfahrene Arbeitsgerichtsbarkeit Bedeutung haben kann. Für Prütting71 ist das Arbeitsrecht geradezu der „Vorläufer des Mediationsgedankens“. Gleichwohl scheiden sich an 66 Das hat starke Kritik hervorgerufen, vgl. Pressemitteilung Nr. 04/11 des DRB v. 6.4.2011 (www.drb.de) und Hess, FAZ v. 11.5.2011 S. 21. 67 Vgl. Gesetzentwurf BT-Drs. 17/5335, S. 10. 68 Positiver Erfahrungsbericht von Berliner Zivilgerichten vgl. MoltmannWillisch/Kraus/v. Hammerstein, ZRP 2011, 58 ff. 69 Henssler, DB 2011, Heft Nr. 3, Editorial, Seite M 1. 70 Vgl. den Roland Rechtsreport 2010, veröffentlicht unter www.ifd-allensbach.de. 71 In Joussen/Unberath, Mediation im Arbeitsgericht, 2009, S. 117.

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dieser Frage die Geister. Teilweise wird die Mediation für die Arbeitsgerichte als entbehrlich angesehen.72 Andere sehen auch im schlichtungsorientierten Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsverfahren durchaus noch Bereiche und Ansatzpunkte, in denen mit Mediationsverfahren weitergehende Befriedung und Streitschlichtung erzielt werden kann.73 Letzteres dürfte zutreffend sein. Auch wenn im Arbeitsrecht viele Bereiche durch Streitschlichtungsmechanismen abgedeckt sind, bleiben Lücken, in denen die Mediation weiteres Schlichtungspotential aufgreifen und eine außergerichtliche Einigung fördern kann. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, den besonderen Schlichtungsansatz der Mediation und ihre Möglichkeiten näher zu beleuchten. Daher soll lediglich ein Aspekt kurz angedeutet werden: Die Arbeitsverhältnisse als Dauerschuldverhältnisse im Kontext der flankierenden kollektiven Strukturen der Betriebsverfassung bringen immer wieder komplizierte Konstellationen hervor, bei denen ein Grundkonflikt etwa zwischen Betriebsrat und Personalabteilung oder zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter schwelt, der in ständigen Einzelkonflikten mündet, die vor Gericht ausgetragen werden. Der andersartige – umfassendere aber auch zeitintensivere – Ansatz von Mediation hat in gewissen Fällen größere Chancen als das prozessualen Strukturen folgende Gerichtsverfahren, den Grundkonflikt herauszuarbeiten und einer dauerhaften Befriedung zuzuführen. Um Mediation in allen Formen (§ 1 MediationsG-E) einsetzen zu können, sollte auch die Option einer gerichtsinternen Mediation eröffnet werden. Hierzu bedarf es allerdings in der Arbeitsgerichtsbarkeit vor einer flächendeckenden Einführung noch gründlicher Erprobung. Die Möglichkeiten für eine weitere Optimierung der Streitschlichtung in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten durch gerichtsinterne und gerichtsnahe Mediation sollen daher im Bezirk des Landesarbeitsgerichts Köln ab Mitte 2011 in einem Pilotprojekt näher getestet werden.

72 So etwa Busemann, ArbuR 2009, 115 ff.; Busemann, ZTR 2009, 11 ff.; kritisch auch Schmidt in Joussen/Unberath, Mediation im Arbeitsrecht, 2009, S. 119 ff. (126 f.). 73 Albrecht, Mediation im Arbeitsrecht, 2001, S. 122; Prütting in Joussen/ Unberath a.a.O. S. 104.

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V. Schlussbemerkung Frieden ist ein hohes Gut. Nicht nur zwischen Völkern und Staaten, sondern überall dort, wo Menschen zusammen leben und arbeiten, bedarf es streitschlichtender und friedenssichernder Elemente. Im Bereich des Arbeits- und Wirtschaftslebens haben sich die Arbeitsgerichtsbarkeit und die in ihr tätigen Richterinnen und Richter in hohem Maße streitschlichtend engagiert und seit nunmehr zwei Jahrhunderten Ansehen und Anerkennung erworben. Streitschlichtungskompetenz ist zu dem Markenzeichen der Arbeitsgerichtsbarkeit geworden. Es ist zu wünschen, dass diese Kompetenz auch in Zukunft auf hohem Niveau, mit ausgeprägter richterlicher Berufsethik ausgeübt wird. Die neuen Möglichkeiten, die das Mediationsgesetz und die zu erwartenden Ausführungsgesetze der Länder bieten, sollten genutzt werden, um die Kultur der Streitschlichtung noch weiter auszubauen, zum Wohle Aller, die im Arbeits- und Wirtschaftsleben eingebunden sind, seien es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Betriebsräte, Unternehmer, Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände.

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Artur Tybussek und Michael Pietraszek Zur Akzeptanz im Kölner Handwerk

Zur Akzeptanz arbeitsgerichtlicher Verfahren im Kölner Handwerk Rechtsanwalt Artur Tybussek Geschäftsführer der Fleischer-Innung Köln

und Michael Pietraszek Hauptgeschäftsführer der Kreishandwerkerschaft Köln

Viele Kölner Handwerksmeister haben Erfahrungen in arbeitsgerichtlichen Verfahren gesammelt. Empirische Untersuchungen über die genaue Zahl gibt es für die Handwerksbetriebe im Bereich des Arbeitsgerichtes Köln (Stadt Köln, Rhein-Erft-Kreis, Rheinisch-Bergischer Kreis) nicht, jedoch gehen Schätzungen von jedem vierten bis fünften Handwerksbetrieb aus. Da das Handwerk mit über 32.000 Betrieben und ca. 185.000 Beschäftigten im Bereich der Handwerkskammer zu Köln1 zu den gewichtigen Arbeitgebern gehört, hat es eine besondere Bedeutung für den regionalen Arbeitsmarkt, aber auch für die Verfahren vor dem Arbeitsgericht Köln. Regelmäßig werden die arbeitsgerichtlichen Verfahren durch den Arbeitnehmer eingeleitet. In ganz überwiegender Anzahl handelt es sich um Rechtsstreitigkeiten über das Bestehen oder Nichtbestehen oder die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses. Daneben treten isolierte Leistungsklagen und Gestaltungsklagen sowie Beschlussverfahren stark in den Hintergrund zurück. Die arbeitsgerichtlichen Erfahrungen, die die betroffenen Handwerksbetriebe beschreiben, gehen regelmäßig in die gleiche Richtung. Der allgemeine Tenor lautet, dass der Arbeitgeber vor dem Arbeitsgericht kaum eine Chance sieht, seine Rechte durchzusetzen. Wird diese allgemein gehaltene Kritik konkret hinterfragt, ist festzustellen, dass es primär nicht um eine Kritik an der sachlichen Verfahrensbeendigung geht. Die Handwerksbetriebe halten es insbesondere für einen 1 Geschäftsbericht 2009 der Handwerkskammer zu Köln, S. 5.

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Missstand, dass eine arbeitsgerichtliche Entscheidung innerhalb einer angemessenen Zeitdauer kaum zu erwarten ist. Die Verfahrensdauer wird regelmäßig als Druck zum Abschluss eines Vergleiches empfunden. Dem Rechtsfrieden wäre es dienlich, wenn der Ausgang arbeitsgerichtlicher Verfahren auf Dauer eine größere Akzeptanz bei den selbständigen Handwerkern finden würde. Die nachstehenden Ausführungen wollen aufzeigen, welche wesentlichen Gründe zu der ablehnenden Einschätzung bei den Kölner Handwerksbetrieben führen und Überlegungen und Denkanstöße für eine Verbesserung der Situation geben. Die Ausgangslage ist in den betroffenen Klageverfahren vom Grundsatz her stets die gleiche. Der Arbeitgeber will das Arbeitsverhältnis mit einer Arbeitnehmerin oder einem Arbeitnehmer beenden, wobei die Gründe dafür so vielfältig sind, wie die Lebenssachverhalte, die den entsprechenden Kündigungen zugrunde liegen. Die von der Bundesagentur für Arbeit verschärfte Handhabung der Sperrfristregelung des § 144 Abs. 1 SGB III bei einer Mitwirkung des Arbeitnehmers bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses haben den Spielraum für außergerichtliche Vereinbarungen in der Praxis stark eingeschränkt.2 Der Arbeitnehmer muss konkret damit rechnen, dass seine Ansprüche gegenüber der Bundesagentur für Arbeit ruhen, wenn er etwa einen Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag unterschreibt, ohne einen wichtigen Grund dafür zu haben. Die Beweislast für das Vorliegen eines wichtigen Grundes liegt beim Arbeitnehmer. Vor diesem Hintergrund ist dem Arbeitnehmer ernsthaft kaum vorzuhalten, dass er im Regelfall einer einvernehmlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht zustimmt. Für den Arbeitgeber bleibt damit nur der Ausspruch einer Kündigung und damit stellt sich für den selbständigen Friseur-, Bäcker- oder Metzgermeister oder jeden anderen Arbeitgeber in den insgesamt 35 Gewerken stets das gleiche Problem: Kann das Arbeitsverhältnis wirksam gekündigt werden und hält eine ausgesprochene Kündigung einer arbeitsgerichtlichen Überprüfung stand?

2 Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit zu § 144 SGB III, Stand April 2011.

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Zur Akzeptanz im Kölner Handwerk

Im Bereich der formellen Erfordernisse, wenn es etwa um Fragen geht, wie wird eine Kündigung formgerecht erklärt, mit welcher Frist ist die Kündigung auszusprechen oder wie ist ein ggfs. bestehender Betriebsrat richtig zu beteiligen, sind die Anforderungen für den Handwerker oftmals noch überschaubar und einzuschätzen. Ungleich schwieriger wird es, wenn es um die materielle Rechtmäßigkeit und dabei um die Beurteilung unbestimmter Rechtsbegriffe geht. So muss der selbständige Handwerker vorab entscheiden, ob z. B. „dringende betriebliche Erfordernisse“ vorliegen, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entgegenstehen oder ob bei einer etwaigen Sozialauswahl die im § 1 Abs. 3 KSchG genannten sozialen Punkte hinreichend berücksichtigt sind. Es liegt auf der Hand, dass diese Beurteilungen im Einzelfall oftmals schwierig sind, zumal der Gesetzgeber mit seinen mehrfachen Änderungen des Kündigungsschutzgesetzes im letzten Jahrzehnt nicht zu einer Stärkung der Rechtssicherheit beigetragen hat. Unterschiedliche Rechtsauffassungen in diesem Bereich bilden oft den Schwerpunkt der gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen den Streitparteien. Die gleichen Fragen nach der Rechtmäßigkeit einer Kündigung stellen sich auch für den betroffenen Arbeitnehmer. Regelmäßig will er seinen Arbeitsplatz behalten und kämpft deshalb gegen eine Kündigung an. Beide Verfahrensbeteiligte haben daher im Grundsatz das gleiche Interesse an einer schnellstmöglichen Klärung der Rechtslage. Arbeitgeber und Arbeitnehmer wollen schließlich wissen, ob das Arbeitsverhältnis weiter besteht oder nicht. Das Bedürfnis an einer schnellen Klärung des strittigen Rechtsverhältnisses ist im Arbeitsrecht besonders groß. Der Gesetzgeber hat dieses gemeinsame Bedürfnis der Beteiligten erkannt und diesem Rechnung getragen. In § 9 Abs. 1 ArbGG ist als allgemeiner Verfahrensgrundsatz normiert, dass arbeitsgerichtliche Verfahren in allen Rechtszügen zu beschleunigen sind. Verfahren über das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses sind nach § 61a ArbGG sogar „vorrangig zu erledigen“. Diese vorrangige Erledigung von Kündigungsschutzklagen soll nach § 61a Abs. 2 ArbGG etwa dadurch erreicht werden, dass die Güteverhandlung „innerhalb von zwei Wochen nach Klageerhebung stattfinden“ soll. 191

Artur Tybussek und Michael Pietraszek

In der Praxis – auch beim Arbeitsgericht Köln – zeigt sich, dass diese Zweiwochenfrist vielfach nicht eingehalten wird. Güteverhandlungen finden oftmals erst nach Ablauf der Zweiwochenfrist statt. Rechtsfolgen sind an eine Verletzung der Zweiwochenfrist des § 61a Abs. 2 ArbGG nicht geknüpft. Nach dem Wortlaut der Norm handelt es sich um eine Sollvorschrift, so dass eine absolute Verpflichtung des Gerichtes zur Einhaltung der Zweiwochenfrist nicht besteht.3 Dem Erfordernis eines beschleunigten Verfahrens in Kündigungsschutzklagen hat der Gesetzgeber ferner durch die Regelung des § 54 Abs. 4 ArbGG Rechnung getragen. Danach hat bei erfolgloser Güteverhandlung der Termin zur streitigen Verhandlung sich entweder unmittelbar anzuschließen oder der Termin ist beim Vorliegen von Hinderungsgründen zumindest festzulegen. Der Gesetzgeber gibt für die mündliche Verhandlung vor, dass diese „alsbald stattzufinden“ hat. Zur Vorbereitung fordert der Vorsitzende den Beklagten nach § 61a Abs. 3 ArbGG auf, binnen einer angemessenen Frist auf die Klage zu erwidern; der Gesetzgeber hat eine Mindestfrist von zwei Wochen vorgegeben. Dem Kläger ist sodann eine angemessene Frist, die ebenfalls mindestens zwei Wochen betragen muss, zur Stellungnahme auf die Klageerwiderung zu setzen. Nach den gesetzlichen Vorgaben könnte damit der Kammertermin bereits gut vier Wochen nach der Güteverhandlung stattfinden. Leider sieht die Praxis anders aus. Kammertermine finden im Regelfall erst nach vier, fünf oder sechs Monaten statt, je nach Terminierungslage der einzelnen Kammer. Mangels gesetzlicher Vorgaben ist es grundsätzlich Sache des Gerichtes, darüber zu entscheiden, wie die vorgeschriebene, vorrangige Erledigung von Bestands- und Kündigungsschutzverfahren durchgeführt wird. Möglichkeiten, wie sie von den Vorsitzenden auch regelmäßig angewandt werden, sind etwa das Aufsparen von Terminen für solche Verfahren oder Terminverlegungen anderer Streitigkeiten, um Platz für diese Verfahren zu schaffen.

3 Dörner/Luczak/Wildschütz, Handbuch des Fachanwaltes Arbeitsrecht, L Rdnr. 151.

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Zur Akzeptanz im Kölner Handwerk

Gleichwohl bleibt der für Kläger- und Beklagtenseite unerfreuliche Zustand, dass über viele Monate hinweg eine gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Kündigung nicht gefällt wird. Dieser Schwebezustand ist für die Streitbeteiligten schwer zu ertragen. Der Arbeitgeber weiß nicht, ob er mit seiner Kündigung durchdringt. Er bleibt über lange Zeit im Ungewissen, ob er etwa nach einer verhaltensbedingten Kündigung eine neue Mitarbeiterin oder einen neuen Mitarbeiter unbefristet einstellen kann. Die gleiche Unklarheit trifft den Arbeitnehmer. Auch er weiß nicht, ob er wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren wird oder er sich um eine neue Stelle bemühen muss. Letztendlich ist nicht nur die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Kündigung das belastende Element für die Streitbeteiligten, sondern daneben auch die lange Zeitdauer, ehe diese Frage erstinstanzlich entschieden wird. Als Ausweg aus diesem Dilemma sehen die Streitbeteiligten oftmals nur den Abschluss eines Vergleiches. Nach dem Verfahrensgrundsatz der §§ 54 Abs. 1 Satz 1, 57 Abs. 2 ArbGG hat das Gericht während des ganzen Rechtsstreites, also auch in der Güteverhandlung eine gütliche Erledigung anzustreben. Die entsprechenden Bemühungen, Hinweise, Vorschläge, Aufforderungen durch das Gericht kennen alle Beteiligten. Abhängig auch von der Persönlichkeit fallen die Bemühungen des Vorsitzenden unterschiedlich stark aus. Dass ein gerichtlicher Vergleich wegen einer Drohung des Vorsitzenden mit einem zukünftigen Übel nachträglich nach § 123 Abs. 1 BGB angefochten werden kann,4 gehört Gott sei Dank zu den Ausnahmen. Formell ist der Abschluss eines Vergleiches die Erfüllung der gesetzlichen Vorgabe. Diese Betrachtung ist aber nur vordergründig zutreffend. Der Gesetzgeber hat in der gütlichen Einigung die Chance und die Möglichkeit einer größeren Akzeptanz der Beteiligten in die Verfahrensbeendigung im Unterschied zu einem Urteil gesehen. Ein ggfs. fortgeführtes Arbeitsverhältnis soll möglichst nicht durch einen Urteilsspruch belastet werden. Sofern die gütliche Einigung unter Abwägung des Prozessrisikos aus freien Stücken geschieht, ist dieses zutreffend. Dann akzeptieren die Beteiligten die Einigung als quasi eigene 4 BAG, Urteil vom 12.5.2010 – 2 AZR 544/08.

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Artur Tybussek und Michael Pietraszek

Entscheidung in der Sache und zwar unabhängig von der Frage, wann das Gericht eine gerichtliche Entscheidung verkünden würde. Einigen sich die Beteiligten jedoch unter dem Damoklesschwert einer ansonsten drohenden monatelangen Verfahrensdauer, so verschieben sich die Beweggründe für den Abschluss eines Vergleiches. Der Vergleich wird dann primär abgeschlossen, um die lange Verfahrensdauer abzukürzen. Die Streitbeteiligten vereinbaren den Vergleich nicht, weil sie eine eigene Entscheidung an die Stelle eines Urteils setzen wollen, sondern weil in angemessener Zeit nicht mit einer gerichtlichen Entscheidung gerechnet werden kann. Maßgeblicher Beweggrund zum Abschluss des Vergleiches ist hier die lange Verfahrensdauer und damit ein Sachverhalt, der außerhalb des eigentlichen Rechtsstreites liegt. Die Rechtsbefriedung tritt nicht in dem Maße ein, wie sie erwünscht ist. Eine solche Verfahrensbeendigung reduziert die Akzeptanz bei den Beteiligten. Zu oft bleibt es für die Streitbeteiligten im Ergebnis offen, welche Rechtsauffassung richtig war. Bei den Beteiligten bleibt das Gefühl, nicht aus in der Sache liegenden Gründen einen Vergleich abgeschlossen zu haben, sondern im Wesentlichen wegen der ansonsten langen Verfahrensdauer. Ein nach kürzerer Zeitspanne verkündetes Urteil hätte in der Regel eine größere Akzeptanz. Sachgerechte Urteile eines Gerichtes, die mal für den Kläger und mal für den Beklagten ausfallen, stärken das Vertrauen mehr als eine große Zahl von Vergleichen, bei denen auf immer offenbleibt, welche Rechtsauffassung zutreffend war und die zudem aus sachfremden Erwägungen abgeschlossen wurden. Der Kläger lässt sich sein eigentliches Klageziel, das Arbeitsverhältnis weiterzuführen und an seinen Arbeitsplatz zurück zu kehren, durch den Vergleich abkaufen. Könnte der Kläger darauf hoffen, in kürzerer Zeit Gewissheit über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Kündigung zu erhalten, würde er einem Abfindungsvergleich nicht so schnell zustimmen. Gleiches gilt für den beklagten Arbeitgeber. Unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges drohen bei einer langen Verfahrensdauer ggfs. hohe Forderungen, so dass auch er oftmals einem Vergleich zustimmt, obschon die Rechtsposition dieses nicht rechtfertigt. Bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Beschleunigung von Kündigungsschutz- und Bestandsprozessen wurde für die Bundesregierung 194

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vom Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit im Bundestag vorgetragen, dass diese Prozesse nicht nur für Arbeitgeber, sondern auf für den Arbeitnehmer von besonderer Bedeutung sind. Er beklagte bereits im Jahr 1979, dass ein Kündigungsschutzprozess bis zur endgültigen Entscheidung durch das Bundesarbeitsgericht „mehrere Jahre dauern“ kann. Die Bundesregierung forderte schon damals, dass „möglichst rasch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung ergehen“ muss.5 Schon in der damaligen Bundestagsdebatte über die Beschleunigung der Arbeitsgerichtsprozesse wurde ausdrücklich gefordert, dass ein „Schwergewicht der Maßnahmen zur Beschleunigung der Verfahren weiterhin beim personellen Ausbau der Arbeitsgerichtsbarkeit liegt.“6 Dem ist in der Sache auch 32 Jahre später nichts hinzuzufügen. Die von den Streitbeteiligten erwartete schnelle Entscheidung durch das Arbeitsgericht steht nach wie vor aus. Eine Verfahrensdauer von sechs, sieben oder noch mehr Monaten für ein einfach gelagertes Kündigungsschutzverfahren ohne große Beweisaufnahme ist in der ersten Instanz dem Grunde nach nicht akzeptabel. Dass die Streitbeteiligten in ihrer Not in einen Vergleich fliehen, kann allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsentlastung für das Gericht positiv bewertet werden. Für die Akzeptanz arbeitsgerichtlicher Verfahren und ihrer Beendigung ist dieses nicht förderlich. Das Kölner Handwerk fordert nachdrücklich eine Verbesserung der Situation. In konkreten Fällen wird die langfristige Terminierung gegenüber dem Gericht weiterhin kritisiert werden. Die große Zahl von Verfahren, die jede Kammer des Arbeitsgerichtes Köln zu bewältigen hat, darf nicht weiterhin dazu führen, dass der gesetzliche Beschleunigungsgrundsatz in der Praxis kaum spürbar ist. Gegenüber der Landespolitik wird das Kölner Handwerk zur Situationsverbesserung weiterhin eine bessere personelle und sachliche Ausstattung der Arbeitsgerichte verlangen, damit die Fallzahlen der einzelnen Kammern merklich reduziert, schneller terminiert und entschieden werden können. 5 Protokoll der 139.Sitzung des Deutschen Bundestages der 8. Wahlperiode vom 16.2.1979, S. 11039. 6 Protokoll der 139.Sitzung des Deutschen Bundestages der 8. Wahlperiode vom 16.2.1979, S. 11039.

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Gestalten Arbeitsrichter die Arbeitswelt? Befunde aus einem soziologischen Forschungsprojekt­ Prof. Dr. Berthold Vogel Hamburger Institut für Sozialforschung / Gesamthochschule Kassel

1. Gelassene Rechtsgewährleister. . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. Pragmatische Rechtsanwender. . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3. Melancholische Rechts­ generalisten. . . . . . . . . . . . . 205 4. Skeptische Rechtskritiker . . . 206

I. Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit in einer veränderten­ Arbeitswelt. . . 199 II. Ausgangsüberlegungen. . . . 200 III. Methodische Anlage der Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . 201 IV. Gestalten Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter die Arbeits­welt?. . . . . . . . . . . . 202

Die Geburt des Rechts aus dem Geiste der gesellschaftlichen Integration – so könnte aus soziologischer Perspektive die Formel lauten, die die Entwicklungsgeschichte des Arbeitsrechts im Allgemeinen und der Arbeitsgerichtsbarkeit im Besonderen auf eine Formel bringt. Die Ausarbeitung eines Rechts der abhängigen Erwerbsarbeit und die Etablierung einer die Konflikte der Arbeitswelt regulierenden Institution waren von Beginn an von dem Gedanken getragen, die Verfassung des demokratischen Rechtsstaats von der Erwerbsarbeit her mit Leben zu füllen. Tatsächlich gründen die europäischen Wohlfahrtsstaaten als soziale Rechtsstaaten und politisch formierte Marktgesellschaften bis heute wesentlich auf der Vorstellung, dass es der Funktionsfähigkeit und Lebensqualität demokratischer Gesellschaften zuträglich ist, wenn die Vertragsfreiheit zwischen Marktakteuren begrenzt und eingeschränkt ist. Diese Begrenzungen sind zwar stets umstritten, aber sie werden im Grundsatz nicht zur Disposition gestellt. Die Grenzziehungen erfolgen vor allen Dingen durch die Übertragung von Statusrechten und Loyalitätspflichten, die schließlich in der zweiten Hälfte des

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Berthold Vogel

20. Jahrhunderts die Voraussetzung für die Etablierung der Sozialfigur des „Arbeitnehmers“ wurden. Ein weiteres kommt in diesem Zusammenhang hinzu: Das Arbeitsrecht repräsentiert nicht nur eine Summe von mehr oder weniger integrativ wirksamen Rechtsregeln, sondern schafft zugleich eine bestimmte Mentalität, ein spezifisches soziales Klima, ja eine gedachte Ordnung der Arbeitswelt. Das kollektive Bewusstsein von Arbeit und Beschäftigung, die Vorstellungen in welcher Weise Erwerbsarbeit und Arbeitsmärkte zu regeln sind, die Gewissheit darüber, was Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu tun und zu lassen haben, sind in hohem Maße durch geschriebenes Recht und Rechtsprechung geprägt. Diese Entwicklung hält an. Denn die Gestalt und Gestaltung der Arbeitswelt zeichnet sich keineswegs durch eine Reduktion rechtlicher Regeln aus. Im Gegenteil: Prozesse der Flexibilisierung und Mobilisierung von Arbeitsmärkten und Arbeitnehmern forcieren notwendiger Weise die Expansion rechtlicher Regularien. Das gilt gerade auch in Zeiten der so genannten Deregulierung – offensichtlich bedeutet Deregulierung nicht weniger Rechtsförmigkeit in der Gestaltung der Arbeitswelt. Tarifliche Öffnungsklauseln, die rasch wachsende Zahl von Betriebsvereinbarungen, die Schaffung von Spartentarifen und die Flexibilisierung von Gehaltskomponenten führen im Gegenteil zu einer immer stärkeren Verrechtlichung und Vertraglichung der Arbeitswelt. Vor diesem Hintergrund ist es freilich bemerkenswert, wie wenig Aufmerksamkeit die Arbeitssoziologie in den vergangenen Jahrzehnten dem Arbeitsrecht als Gestaltungsprinzip und den Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichtern als (Mit-)Gestaltern der Erwerbsarbeit schenkte. Weder Arbeitsrichter als spezifische mit der Wirklichkeit der Erwerbsarbeit befasste Professionsgruppe noch die Arbeitsgerichtsbarkeit als Gerichtsbarkeit einer arbeitszentrierten Gesellschaft spielen in der Forschung eine nennenswerte Rolle. Auch die wohlfahrtsstaatliche Debatte um Leistungsgewährung und Statusrechte lässt Akteure und Institutionen des Arbeitsrechts weitgehend unberücksichtigt. Offenbar versteht sich die „allgegenwärtige Hintergründigkeit des Rechts“ – so eine Formulierung Niklas Luhmanns – von selbst, wenn es um die Arbeitswelt geht. Diese Nichtbeachtung arbeitsrechtlicher Akteure, Aktivitäten und Institutionen gibt umso mehr zur Verwunderung Anlass, da heute mehr denn je die integrative Kraft arbeitsrechtlicher Normen und die institutionelle Wirkung der 198

Gestalten Arbeitsrichter die Arbeitswelt?

Arbeitsgerichtsbarkeit in Frage steht. Ein Blick auf zentrale wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklungen zeigt, dass das Arbeitsrecht von verschiedenen Seiten unter Druck gerät.

I. Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit in einer veränderten­ Arbeitswelt Da ist zum einen die strukturelle und organisatorische Neuordnung der Arbeitswelt. Hierzu zählen Prozesse interner und externer Flexibilisierung, die Neugestaltung der Arbeit durch betriebsunabhängige Formen der Beschäftigung sowie der generelle Trend hin zu einer projektorientierten Ökonomie. Der „Neue Geist des Kapitalismus“1, der die Beweglichkeit, Durchsetzungsfähigkeit und permanente Leistungsbereitschaft des Einzelnen aufwertet, ist auch im Arbeitsrecht zu spüren. Verstärkend wirkt hier sicher auch das immer stärkere Gewicht der Dienstleistungsarbeit, die veränderte Organisationsformen der Erwerbsarbeit ermöglicht. Hinzu kommt die Neujustierung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die sich von zentralen Prinzipien der Statusschutzpolitik verabschiedet und stattdessen auf die Förderung atypischer Beschäftigungsformen setzt. Die Pluralität bzw. Pluralisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitswirklichkeiten ist nicht nur das Resultat neuer personalwirtschaftlicher Strategien des Arbeitskräfteeinsatzes, sondern auch ein Projekt veränderter arbeitsmarktpolitischer Ziele2. Schließlich dürfen wir in den Veränderungen der Arbeitswelt auch die Bedürfnisse der Arbeitenden nicht übersehen. Das entsprechende Stichwort in der Arbeitssoziologie lautet seit einigen Jahren „Subjektivierung der Arbeit“. Damit ist auf der einen Seite die durchschnittlich wachsende Qualifikation der Beschäftigten angesprochen, die zu stärkeren inhaltlichen Ansprüchen an Erwerbsarbeit führt. Aber auch die veränderten individuellen und familiären Lebenswirklichkeiten, die starken Einfluss auf die Gestalt des Erwerbslebens ausüben, kommen hier ins Spiel. 1 Luc Boltanski und Eve Chiapello (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz. 2 Berthold Vogel (2009): Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen. S. 170 ff. Hamburg.

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II. Ausgangsüberlegungen Wenn wir diese Veränderungen und Wandlungsprozesse der Arbeitswelt in Rechnung stellen, dann ergeben sich für eine soziologische Forschung zur Rolle und Funktion der Arbeitsgerichtsbarkeit die folgenden Fragen: Können die Kodifikationen des Arbeitsrechts und kann das System der Arbeitsgerichtsbarkeit als Sondergerichtsbarkeit einer Gesellschaft, die sich wesentlich über die Erwerbsarbeit bestimmt, auf diese veränderten arbeitsgesellschaftlichen Wirklichkeiten noch integrativ einwirken? Daran schließt sich aus einer akteursbezogenen Perspektive die Frage an: Welche Aufgabe kommt in den Prozessen der Veränderung der Arbeitswelt den Richterinnen und Richtern in Arbeitsgerichten und Landesarbeitsgerichten zu? Welche Rolle spielen sie in den Konflikten des Erwerbslebens? Im Horizont der angesprochenen Fragen lassen sich mehrere Forschungsperspektiven erkennen. –– In arbeitssoziologischer Hinsicht geht es um Funktionen des Arbeitsrechts: Ist das Arbeitsrecht noch ein Schutzrecht der abhängigen Arbeit oder privilegiert es die ohnehin Starken und verschärft bestehende soziale Ungleichheiten in Betrieb und auf dem Arbeitsmarkt? Ist das Arbeitsrecht universales Schutzrecht der abhängigen Arbeit oder verschärft es bestehende Ungleichheiten am Arbeitsmarkt? –– Zugleich geht es in konfliktsoziologischer Perspektive um die institutionelle Integrationskraft der arbeitsgerichtlichen Praxis. Sind die Arbeitsgerichte Orte der Moderation sozialer Konflikte? Oder unterlaufen die Konflikte, die sich aus veränderten betrieblichen Organisationsformen und neuen arbeitsbezogenen Bedürfnissen ergeben, die Arbeitsgerichte? Sind Arbeitsgerichte Orte der Moderation sozialer Konflikte? Oder unterlaufen die neuen Konflikte der Arbeitswelt (Ausweitung prekärer Arbeit, Unverbindlichkeit und Unsicherheit der Erwerbsbeteiligung) die Arbeitsgerichtsbarkeit? –– Schließlich verfolgt eine sozialwissenschaftliche geprägte Forschung zu Funktion und Gestalt des Arbeitsrechts eine handlungssoziologische Perspektive: Inwieweit gestalten Arbeitsrichter die betriebliche und rechtliche Form der Erwerbsarbeit? Oder sind sie Verwalter einer erodierenden Arbeitswelt, in der die Prinzipien der Kollektivität an Kraft verlieren? Hier wird das normative Selbstverständnis 200

Gestalten Arbeitsrichter die Arbeitswelt?

der Richter als Konfliktmoderatoren angesprochen, aber auch die Frage, in welchen Entwürfen „gedachter Ordnung“ die Arbeitsrichter als besondere „Akteure“ auf den Wandel von Arbeitsgesellschaft und Sozialstaat einwirken (können). Gestalten Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter die betriebliche und rechtliche Wirklichkeit der Erwerbsarbeit?

III. Methodische Anlage der Studie Entlang der genannten Forschungsperspektiven haben wir in den Jahren 2007 und 2008 ein soziologisches Forschungsprojekt am Hamburger Institut für Sozialforschung auf den Weg gebracht, das die Arbeitsgerichtsbarkeit, das Arbeitsrecht und die Arbeitsrichterschaft in ihrer gestaltenden Funktion in den Blick nimmt3. Wir haben hierfür einen verstehenden Ansatz soziologischer Forschung gewählt. Es geht nicht um Dokumentenanalyse oder um die Sekundärauswertungen vorhandener Forschungsbefunde, sondern um einen direkten Zugang zu den Akteuren des Arbeitsrechts und den Repräsentanten der Arbeitsgerichtsbarkeit. Im Mittelpunkt der Studie stehen daher offene, biographisch orientierte Leitfadeninterviews mit Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichtern der Arbeits- und Landesarbeitsgerichtsbarkeit (n=35). Der Zugang zu den Gesprächen war durchweg unkompliziert. Die Kooperationsbereitschaft in allen Gerichten war ausgesprochen hoch. Alle Richterinnen und Richter, an die wir mit einem Interviewwunsch herangetreten sind, waren ohne Umstände bereit, sich an der Untersuchung zu beteiligen. Die Zahl von 35 Interviews ist nicht willkürlich. Wir hatten den Eindruck, dass nach 35 Gesprächen eine gewisse inhaltliche „Sättigung“ erreicht war. Es kamen keine neuen Aspekte mehr zur Sprache, Argumente und Haltungen wiederholten sich, so dass wir davon ausgehen können, dass wir in unseren Interviews eine recht große Varianz an Haltungen, Einstellungen und Orientierungen der Richter erfasst haben. 3 Am Projekt war neben dem Autor Frau Birte Hellmig als Stipendiatin des Hamburger Instituts für Sozialforschung beteiligt. Während der Befragungsphase erhielten wir zudem Unterstützung durch Herrn Philipp Staab. Herr Staab ist aktuell Doktorand am Hamburger Institut, Frau Hellmig Richterin am Sozialgericht in Kiel.

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Die leitfadengestützten Interviews nehmen verschiedene Dimensionen richterlichen Handelns in den Blick. Zunächst geht es in den Gesprächen um die bisherige berufliche Laufbahn der befragten Richter und um Fragen der sozialen Herkunft. Im nächsten Schritt kommen das Berufsethos bzw. das professionelle Selbstverständnis der Richter zur Sprache. Auch ihre Erwartungen an den Richterberuf sind dabei von Bedeutung. In diesem Zusammenhang fragen wir auch nach den aus ihrer Sicht notwendigen Eigenschaften des Richterberufs. Was sollte ein Richter können? Welche Fähigkeiten muss er für seinen Beruf mitbringen? Ein zentraler Punkt der Befragung ist weiterhin die Bewertung der Veränderungen im richterlichen Berufsfeld. Dabei spielt auch der Aspekt eine Rolle, inwieweit der Wandel der Arbeitswelt richterliches Handeln beeinflusst? Und wie schätzen die befragten Richterinnen und Richter die Strukturveränderungen der Arbeitswelt ein? Schließlich fragen wir in den Interviews auch nach der konkreten Entscheidungstätigkeit im arbeitsrichterlichen Alltag und wir gehen den Gestaltungsabsichten und -möglichkeiten der Richterschaft nach. Wir haben im Rahmen der Studie insgesamt acht verschiedene Gerichtsstandorte in Groß- und Mittelstädten, in Nord-, Süd-, West- und Ostdeutschland aufgesucht – auch das Arbeitsgericht in Köln. Neben offenen, leitfadengestützten Interviews wählten wir im Rahmen eines verstehenden Forschungszugangs die Methode der teilnehmenden Beobachtung. Als Beobachter haben wir an Gerichtsverhandlungen teilgenommen. In der Regel hatten wir die Gelegenheit die Richterinnen und Richter, die wir befragt haben, auch aktiv im Gerichtssaal zu erleben.

IV. Gestalten Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter die Arbeits­welt? Doch zurück zur Ausgangsfrage: Gestalten Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter die Arbeitswelt? Aus unserer Sicht können wir eine klare Antwort geben: Ja, sie tun es, im Übrigen ganz unabhängig davon, ob sie es wollen oder nicht. Denn ein zentraler Befund der Untersuchung lautet: Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter gestalten die Arbeitswelt selbst dann, wenn sie keine direkte Gestaltungsabsicht verfolgen. Oftmals handelt es sich eher um eine indirekte Gestaltung 202

Gestalten Arbeitsrichter die Arbeitswelt?

durch das Vorhandensein eines „Dritten“, der über die durch das Amt begründete Fähigkeit verfügt, ein Urteil zu sprechen bzw. einen Konflikt zu moderieren. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das kollektive Wissen der am Arbeitsleben Beteiligten. Arbeitgeber und Arbeitnehmer – sie alle wissen mehr oder weniger gut informiert um das Vorhandensein eines Rechtssystems bzw. einer Institution, die die Rechte und Pflichten in der Arbeitswelt regelt und als Appellationsinstanz zur Verfügung steht. Selbst wenn die am Arbeitsleben Beteiligten kaum über eine genaue Kenntnis rechtlicher Regeln in der Arbeitswelt verfügen – die „allgegenwärtige Hintergründigkeit“ des Rechts wirkt. Das Vorhandensein einer Institution zählt. Unabhängig von der direkten Gestaltungsfähigkeit der Arbeitsgerichte – beispielsweise im Urteil des Bundesarbeitsgerichts zur Tariffähigkeit „christlicher“ Gewerkschaften mit Blick auf die Leiharbeitsbranche – existiert eine gedachte Ordnung der Arbeitswelt, die auf das Verhalten aller am Erwerbsleben Beteiligten sehr starken Einfluss nimmt. Die Frage, ob Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter die Arbeitswelt gestalten, ist mithin recht klar zu beantworten. Doch interessant scheint aus soziologischer Sicht darüber hinaus die Frage zu sein, mit welch unterschiedlicher Haltung die Richterschaft an ihre Tätigkeit herangeht. Wenn wir in einem weiteren analytischen Schritt versuchen, Haltungen und Handlungen der Richterinnen und Richter zu unterscheiden, dann erkennen wir im Rahmen unserer Studie vier verschiedene Typen. Die bei weitem größte Gruppe (rund die Hälfte der Befragten) können wir als „gelassene Rechtsgewährleister“ beschreiben. Jeweils ein Fünftel der Befragten zeigen Haltung und Handlung von „pragmatischen Rechtsanwendern“ bzw. von „melancholischen Rechtsgeneralisten“. Jeder zehnte Befragte entspricht dem Muster eines „skeptischen Rechtskritikers“. 1. Gelassene Rechtsgewährleister

Wenn wir Haltung und Handlungsweise des ersten Richtertyps betrachten, dann sehen wir Rechtsakteure, die sich sehr selbstbewusst als Wächter der Substanz des Arbeitsrechts beschreiben. Dabei wenden sie sich deutlich gegen eine universale Krisenrhetorik, die die Substanz des Arbeitsrechts in den aktuellen Konflikten um die Gestalt der Arbeitswelt grundsätzlich gefährdet sieht. Das individuelle wie kollek203

Berthold Vogel

tive Recht der Arbeit ist nach ihrer Auffassung im Kern unbeschadet. Hierfür sorgt eine unabhängige, starke und selbstbewusste Arbeitsgerichtsbarkeit, die sich keinesfalls von den Zeitläuften treiben lässt. Die befragten Richterinnen und Richter dieses Typs lassen keinen Zweifel daran, dass für sie die ungleiche Position von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, mithin die Tatsache der „Schutzbedürftigkeit“ der abhängig beschäftigten Arbeitnehmer, nach wie vor im Mittelpunkt ihrer Rechtsprechung steht. Doch an dieser Tatsache ändert der Wandel in der Arbeitswelt nichts. Zwar mag es sein, dass aktuell – in Zeiten verfestigter Arbeitslosigkeit und wachsender Unsicherheit der Beschäftigungsformen – nicht die Stunde starker Arbeitnehmer schlägt. Aber das ist aus der Sicht dieser Richter nicht das Problem der Arbeitsgerichtsbarkeit. Sie sehen sich in einer anderen Rolle. Die Richterschaft an den Arbeitsgerichten schützt die Rechtsförmigkeit der Erwerbsarbeit, sie garantiert Unabhängigkeit und steht als Moderatorin und Schlichterin zur Verfügung. Die Arbeitsrichter dieses Typs sehen sich in ihrer Rechtspraxis als Gewährleister, ja als Garanten des sozialen Rechtsstaates. Dabei zeigen sie sich weitgehend unbeeindruckt von den Volten und Wechselspielen der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Sie strahlen während der Gespräche in ihrer Selbstdarstellung eine große Gelassenheit aus. Die Arbeitswelt mag sich im Umbruch befinden, nicht jedoch die Arbeitsgerichtsbarkeit bzw. die auf die Arbeitswelt bezogene Rechtsprechung. Diesen Mehrheitstyp unter den Richtern finden wir in beiden Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit, wir finden ihn in allen Teilen der Republik und an größeren wie kleineren Gerichten, und wir finden ihn gleichermaßen unter Richterinnen und Richtern. Die Befragten dieses Typs argumentieren unter allen Richterinnen und Richtern am stärksten aus der Perspektive ihrer Profession. 2. Pragmatische Rechtsanwender

Eine andere Haltung und auch andere richterliche Handlungsweisen finden wir im zweiten Typus. Hier dominiert weniger demonstrative Gelassenheit, sondern eher ein kühler Pragmatismus souveräner Rechtsverwirklichung. Die Richter dieses Typs treten in ihrem gesamten Habitus eher als Rechtsingenieure denn als Rechtsgewährleister hervor. Mehr als andere Richter betonen sie, dass sie sich in ihrer Pra204

Gestalten Arbeitsrichter die Arbeitswelt?

xis ausschließlich auf die pragmatische Verwirklichung und Anwendung des Arbeitsrechts konzentrieren. Sie weisen am stärksten unsere Anfrage zurück, ob und inwieweit Arbeitsrichter die Arbeitswelt gestalten. Im Unterschied zum ersten Typus, der selbstverständlich davon ausgeht, dass das Arbeitsrecht eine gestaltende Wirkung entfaltet, können sie eine solche Funktion nicht erkennen. Das Arbeitsrecht sorgt für Frieden im Betrieb bzw. in den vertraglich geregelten Arbeitsbeziehungen und steckt den Rahmen der Arbeitsverhältnisse ab – aber auch nicht mehr. Die Arbeitswelt gestalten andere: die Politik, der Gesetzgeber, die Verbände, aber sicher nicht Gerichte oder Richter. Sie betonen ihre nüchterne Haltung gegenüber dem Rechtssystem auch dadurch, dass sie sehr distanziert über das Arbeitsrecht sprechen. In den Interviews heben sie deutlich hervor, dass sie sich selbst als sehr gute und hoch qualifizierte Juristen betrachten, die – nebenbei bemerkt – auch in jeder anderen Gerichtsbarkeit tätig sein könnten. Sie weisen darauf hin, dass ein gut funktionierender Rechtsstaat vor allem ein leistungsfähiges juristisches Personal benötigt. Ihre Formel lautet: Kompetenz statt Gesinnung. Keinesfalls ist nach Auffassung dieser Richter das Recht eine Moralanstalt, die über die Arbeitswirklichkeit in Betrieb und Behörde wacht. Sie wehren sich geradezu dagegen, als Richter in eine politische Rolle innerhalb der Konflikte der Arbeitswelt gebracht zu werden. Die Befragten dieses Typs finden wir eher unter den Jüngeren und häufiger in den größeren Gerichten. 3. Melancholische Rechtsgeneralisten

Eine ganz und gar andere Haltung und Praxis finden wir im dritten Typus. Hier sehen wir Richterinnen und Richter, die einerseits ein ausgesprochen selbstkritisches, aber vor allen Dingen ein durchweg melancholisches Verhältnis gegenüber ihrer eigenen Rolle und Handlungsweise haben. Sie sehen sich selbst als Zeugen und Helfer der schwindenden Reichweite des Arbeitsrechts. Aus ihrer Sicht hat das Arbeitsrecht in den vergangenen Jahren markant an Substanz verloren. Die Befragten dieses Typs sind der deutlichen Auffassung, dass das Arbeitsrecht die Arbeitswelt gestalten sollte. Die Prinzipien der Gestaltung werden in den Interviews klar formuliert – und alle Befragten weisen darauf hin, dass diese Prinzipien für sie die wesentliche Motivation für den beruflichen Weg in die Arbeitsgerichtsbarkeit wa205

Berthold Vogel

ren. Im Unterschied zu den Befragten des zweiten Typs betonen sie, dass sie sehr gezielt die Arbeitsgerichtsbarkeit als juristischen Wirkungsort angestrebt haben. Mit Hilfe des Arbeitsrechts geht es nach Auffassung dieser Richterinnen und Richter darum, die Welt der Erwerbsarbeit gerechter zu machen, Ungleichheiten im Betrieb und auf dem Arbeitsmarkt einzudämmen und Benachteiligungen wie Privilegien in der Erwerbsarbeit zu begrenzen. Das Arbeitsrecht erfüllt eine dezidiert sozialstaatliche Funktion und hat auf diese Weise eine klare politische Aufgabe. Das Arbeitsrecht muss politisch sein, wenn es seine Funktion und Rolle erfüllen möchte. Nach ihrer Überzeugung ist ein sozialer Rechtsstaat ohne ein starkes, interventionsfähiges und gestaltungsbereites Arbeitsrecht überhaupt nicht möglich. Die Richter dieses Typs formulieren auf diese Weise einen generalistischen Rechtsanspruch. Das Arbeitsrecht ist nicht nur ein System der Ordnung von Rechten und Pflichten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das Arbeitsrecht ist vielmehr ein zentrales Prinzip der Gestaltung der Arbeitsmärkte, des betrieblichen Alltags und der Arbeitsbeziehungen. So markant die Befragten dieses Typs ihre Überzeugung zum Ausdruck bringen, so melancholisch ist ihre Grundhaltung. Nach ihrer Beobachtung ist eine generelle Gestaltung der Arbeitswelt unter den Rahmenbedingungen einer zunehmend ungleicheren, unsicheren und prekären Arbeitswelt nicht mehr möglich ist. Die Arbeitsgerichtsbarkeit vermag diese Rolle nicht mehr zu spielen. Sie erfüllt jedenfalls keine Gestaltungsfunktion mehr, bestenfalls noch eine Korrekturfunktion. Die aktuelle Anwendung des Arbeitsrechts kommt nach ihrer Ansicht einem Rückzugsgefecht des sozialen Rechtsstaats gleich. Die Richterinnen und Richter dieses Typs finden wir in allen Gerichten, allerdings eher unter den älteren Richterinnen und Richtern. Sehr deutlich sprechen einige von ihnen auch von einem Generationenkonflikte innerhalb der Richterschaft. Zu ihrer melancholischen Grundhaltung trägt sicher auch die Überzeugung bei, dass sie ihr erwerbsbiographisches Erbe durch eine neue, pragmatische Richtergeneration gefährdet sehen. 4. Skeptische Rechtskritiker

Schließlich treffen wir in unserer Studie noch auf eine kleine Gruppe von Richterinnen und Richtern. Deren Haltung und Handeln ist von 206

Gestalten Arbeitsrichter die Arbeitswelt?

Skepsis und Kritik am bestehenden arbeitsrechtlichen Ordnungssystem geprägt. Sie verstehen sich als Opponenten der sich nach ihrer Überzeugung dramatisch verändernden Arbeitswelt – hier stehen sie im deutlichen Gegensatz zu den „gelassenen Rechtsgewährleistern“ und den „pragmatischen Rechtsanwendern“. Sie vertreten aber auch eine andere Haltung als der dritte Typus. Während die Richterinnen und Richter des zuvor skizzierten Typs als melancholische Rechtsgeneralisten dem bestehenden Arbeitsrecht durchaus Gestaltungsfähigkeit zubilligen (die freilich nach deren Meinung nicht mehr verwirklicht wird), sind die Richter dieses Typs grundlegend skeptisch, ob das bestehende Arbeitsrecht überhaupt imstande ist, die aktuellen Konflikte, Ungleichgewichte und Machtdisparitäten in Betrieb und Arbeitsmarkt auszugleichen. Nach ihrer Auffassung hat sich die Arbeitswelt in einer solch dramatischen Art und Weise verändert, dass das bestehende Arbeitsrecht ins Leere läuft – allen Regulierungsabsichten zum Trotz. Das Arbeitsrecht erreicht als Rechtssystem die realen Probleme der Arbeitswelt, insbesondere die deutlich wachsenden sozialen Ungleichheiten nicht mehr. Sie formulieren daher nicht nur eine scharfe Kritik des richterlichen Verzichts auf politische Gestaltungsabsichten, sondern vor allem eine Kritik des Gesetzgebers, der durch seine deregulierenden Aktivitäten die Arbeitsgerichtsbarkeit als Institution und die Arbeitsrichter als Akteure regelrecht kaltstellt. Sie plädieren dafür, dass sich die Richterschaft dafür stark machen müsste, dass der Gesetzgeber der Institution der Arbeitsgerichtsbarkeit die Instrumente in die Hand gibt, regulierend auf die Dominanz der Märkte einzuwirken und die zunehmende Durchsetzung des Rechts des Stärkeren in der Arbeitswelt zu beenden. Sie beklagen eine Selbstpreisgabe der Politik, die vor den Interessen starker Marktakteure zurückweicht. Die Arbeitsgerichtsbarkeit droht auf diese Weise zu einer Fassade zu verkümmern, die den Schein rechtlicher Regulierung wahrt, faktisch aber über keine Gestaltungskraft mehr verfügt. Sie wird zum Potemkinschen Dorf. Unsere Studie und ihre ersten Befunde sind ein wichtiger Schritt, in neuer Weise ein soziologisches Verständnis der Arbeitsgerichtsbarkeit und insbesondere ihrer Akteure, der Richter, zu gewinnen. Wenn wir die Veränderungen von Arbeitswelt und Sozialstaat verstehen wollen, und wenn wir davon ausgehen, dass wir wissenschaftliche Expertise benötigen, um diese Veränderungen zu verstehen, dann werden wir in 207

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der Arbeitssoziologie nicht umhin können, stärker als bisher die Arbeitsgerichtsbarkeit und ihre Träger – die Richterinnen und Richter – systematisch in die Forschung mit ein zu beziehen. Diese Einbeziehung sollte im Sinne und in Fortführung der oben angesprochenen Perspektiven erfolgen. Denn wie auch immer wir zwischen unterschiedlichen Haltungen und Handlungsweisen der Richterschaft differenzieren mögen, eines wird deutlich: Ohne eine selbstbewusste, funktionierende und auch konfliktbereite Rechtsprechung wird eine demokratische, rechts- und sozialstaatliche Gestaltung der Arbeitswelt nicht möglich sein. Das Arbeitsrecht ist in besonderer Weise Ausdruck gesellschaftspolitischer Bemühungen um Integration und Kohärenz. Es ist ein zentraler Baustein der Demokratie und damit der Lebensqualität sowie der Friedensfähigkeit moderner Gesellschaften. Den Richterinnen und Richtern der Arbeitsgerichtsbarkeit kommt in diesem Sinne eine besondere Bedeutung zu. Ihre Haltung und ihre Praxis entfalten Prägekraft für die Arbeitswelt. Kontakt: Priv. Doz. Dr. disc. pol. Berthold Vogel Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Georg-August-Universität Göttingen Friedländer Weg 31 37085 Göttingen und Projektgruppenleiter am Hamburger Institut für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg [email protected]

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Der deutsche Kündigungsschutz – ein Erfolgsmodell mit Zukunft Ass. Jur. Mario Utess IG Metall Köln-Leverkusen

3. Hohe gesellschaftliche Akzeptanz­. . . . . . . . . . . 218 V. Atypische Beschäftigung als eine Gefahr (auch) für den Kündigungs­schutz . . . . . . . 219 VI. Der Kündigungsschutz am Arbeits­gericht Köln – Vergangenheit­und Ausblick. 221 1. Entscheidungen des Arbeitsgerichtes­ mit Signalwirkung­. . . . . . . . 221 2. Plädoyer für eine Zukunft des Kündigungs­ schutzes. . . . . . . . . . . . . 223

I. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . 209 II. Die statistische Bedeutung der Kündigungsschutz­ verfahren in Köln und bundesweit­. . . . . . . . . . . . . 210 III. Geschichtlicher Überblick. . 211 IV. Fluch oder Segen?. . . . . . . . 213 1. Die Kritik aus der Politik. 213 2. Die empirischen Fakten. 215 a) Bedeutung von Schwellenwert und Wartezeit. . . . . . . . . . 215 b) Die beschäftigungs­ politische Wirkung . . 216 c) Entlastung der Arbeitsgerichte?­. . . . . 217

I. Einleitung Kaum ein Themenfeld des deutschen Arbeitsrechtes wurde in der Vergangenheit regelmäßig in Politik und Gesellschaft so kontrovers diskutiert und kritisiert. Kaum ein Themenfeld des Deutschen Arbeitsrechts betrifft gleichwohl so viele Beschäftigte aus allen Bereichen des Arbeitslebens. Die Rede ist vom deutschen Kündigungsschutz. Sowohl in Köln als auch bundesweit bilden die Bestandsstreitigkeiten statistisch gesehen die größte Gruppe der Verfahren innerhalb der Arbeitsgerichtsbarkeit. Die Gründe hierfür sind sicherlich vielfältig. So sichert der Kündigungsschutz für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die wichtigste wirtschaftliche Einnahmequelle. Gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit stellt der Kampf um den Arbeitsplatz häufig genug einen Kampf um die Existenz dar. Darin ist auch ein 209

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Hauptgrund für die hohe Emotionalität zu sehen, von der die am Arbeitsgericht geführten Bestandsstreitigkeiten regelmäßig begleitet sind. Gleichwohl ist der eigene Arbeitsplatz für viele Menschen nicht nur wirtschaftliche Einnahmequelle, sondern zugleich Lebensmittelpunkt. Die meisten Beschäftigten verbringen einen Großteil ihrer Lebenszeit am Arbeitsplatz. Der Arbeitsplatz ist daher nicht nur existenzsichernd, sondern vor allem auch soziale Begegnungsstätte. Jeder von Arbeitslosigkeit Betroffene vermisst schnell die starke soziale Bindungskraft des Arbeitsplatzes. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der ein Arbeitsplatz auch zum Statussymbol geworden ist. Galt in der Vergangenheit als schick, wer möglichst wenig arbeiten musste, so gilt heute der Vielbeschäftigte als erfolgreich und angesehen. Die Systematik des deutschen Kündigungsschutzes ist historisch gewachsen. Den Kernbereich bildet dabei unzweifelhaft das Kün­ digungsschutzgesetz. Daneben sind aber auch die vielen Sonder­ kündigungsschutztatbestände von einer bemerkenswerten Systematik geprägt­. Die damit verbundenen juristischen Streitigkeiten und Kontroversen sind vielfältig. Nicht zuletzt deshalb war und ist der Kündigungsschutz insgesamt auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit Köln eines der beherrschenden Themenfelder. Dabei hat sich gerade in der jüngsten Weltwirtschafts- und Finanzkrise gezeigt, dass der deutsche Kündigungsschutz trotz aller Kritik ein Erfolgsmodell ist. Die dezidierte Regelungsdichte und der gleichzeitig sensible Umgang aller Beteiligten im Zusammenhang mit Bestandschutzstreitigkeiten führen dazu, dass der Kündigungsschutz auch weiterhin ein wichtiges Instrument des Arbeitsrechtes sein wird.

II. Die statistische Bedeutung der Kündigungsschutz­ verfahren in Köln und bundesweit Sowohl in der Kölner Arbeitsgerichtsbarkeit als auch bundesweit nehmen Bestandsstreitigkeiten eine zentrale Rolle ein. Für Aufschluss sorgt hier ein Blick auf die Statistik des Arbeitsgerichtes Köln im Zeitraum der letzten vier Jahre. Im Jahre 2007 waren 3.696 der 11.095 Neueingänge Bestandsstreitigkeiten (33,3 %). Im Jahre 2008 waren insgesamt 4.132 der 11.687 eingereichten Klagen Bestandstreitigkei210

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ten (35,4 %). Einen Höhepunkt bildete aufgrund der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise dann das Jahr 2009. Hier fanden sich unter den insgesamt 12.508 eingereichten Klagen auch 5.136 Bestandsstreitigkeiten (41,1 %). Die schnelle konjunkturelle Erholung führte in der Folge dazu, dass im Jahre 2010 wieder ein „normaler“ Wert von 3.768 Bestandstreitigkeiten der insgesamt 11.180 Verfahren erreicht wurde (33,7 %). Festzustellen ist aber, dass die Bestandsstreitigkeiten über den gesamten Zeitraum hinweg zumindest quantitativ an erster Stelle standen. Die hohe Bedeutung des Kündigungsschutzes innerhalb der Arbeitsgerichtsbarkeit wird auch anhand der bundesweiten Statistik deutlich. Waren im Jahre 2008 von insgesamt 581.872 Klagen noch 186.221 Bestandsstreitigkeiten (32 %),1 so stieg die Zahl der Bestandstreitigkeiten im Jahre 2009 auf insgesamt 254.552 an. Bezogen auf die Gesamtzahl der Klagen von 628.067 erreichten die Bestandstreitigkeiten damit einen prozentualen Anteil von 40,5 %.2 Erste statistische Daten des Jahres 2010 lassen darauf schließen, dass der am Arbeitsgericht Köln verzeichnete Rückgang auf „normale“ Werte auch bundesweit zu verzeichnen ist. Untersucht man die Bestandstreitigkeiten genauer, so zeigt sich weiterhin, dass es sich nahezu ausschließlich um klassische Kündigungsschutzklagen handelt. Die weiteren Themenbereiche (etwa Entfristungsklagen) nehmen hingegen nur eine untergeordnete Rolle ein. Die klassische Kündigungsschutzklage war, ist und bleibt damit sowohl in der Arbeitsgerichtsbarkeit Köln, als auch in der bundesweiten Arbeitsgerichtsbarkeit an erster Stelle der Eingänge.

III. Geschichtlicher Überblick Betrachtet man die Geschichte des Kündigungsschutzes genauer, so zeigt sich, dass die wesentlichen Elemente erst im 20. Jahrhundert entwickelt wurden. Zwar war bereits im allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuch von 1861 eine Regelung enthalten, die eine Kündigung von Hand1 Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.8. 2008. 2 Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.8. 2009.

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lungsdienern nur mit einer Frist zum Quartalsende zuließ, was 1891 über das Arbeiterschutzgesetz auch für die so genannten „technischen Angestellten“ galt. Das Arbeitsrecht insgesamt war jedoch bis zum Ende des ersten Weltkrieges eher von den liberalen Grundannahmen des BGB geprägt.3 Als unmittelbare Kriegsfolge verbot die Demobilmachungsverordnung vom 12.12.1920 nach dem ersten Weltkrieg die Entlassung von Arbeitnehmern, solange die Beschäftigung aller Arbeitskräfte bei Herabsetzung der Arbeitszeit bis auf die Hälfte möglich war. Die Verordnung wurde jedoch 1923 wieder aufgehoben.4 Eine echte Kündigungserschwerung brachte das Betriebsrätegesetz von 1920 in Form einer Abfindungsregelung. Legte ein Arbeitnehmer Einspruch gegen eine Kündigung beim Betriebsrat ein, und dieser billigte ihn, konnte der Arbeitnehmer den Einspruch bei Gericht weiterverfolgen. Hielt das Gericht den Einspruch für berechtigt, d.h. die Kündigung für unberechtigt, hatte es eine Abfindung festzusetzen. Der Arbeitgeber konnte dann wählen, ob er den Arbeitnehmer weiterbeschäftigen oder eine Abfindung zahlen wollte.5 Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden zwar inhaltsgleiche Regelungen aufrechterhalten. Aufgrund der Beseitigung von Gewerkschaften und Betriebsräten erlitt die Arbeiterbewegung und damit auch der Arbeitnehmerschutz jedoch eine deutliche Schwächung. Das erste deutsche Kündigungsschutzgesetz (KSchG) trat am 14.8.1951 in Kraft. Zuvor war am 20.7.1949 im Vereinigten Wirtschaftsgebiet (Amerikanische und Britische Zone) aufgrund eines vom Direktor der Verwaltung für Arbeit eingebrachten Entwurfes vom Wirtschaftsrat in Frankfurt ein Kündigungsschutzgesetz beschlossen worden, dem die Militärregierungen allerdings die erforderliche Genehmigung versagten.6 Das eigentliche Kündigungsschutzgesetz der Bundesrepublik Deutschland geht zurück auf eine Einigung der Arbeitgeberverbände mit den Gewerkschaften über den „Hattenheimer Entwurf“. Er bildete die Grundlage für den Regierungsentwurf eines Bundeskündigungsschutzgesetzes. 3 4 5 6

Kittner/Däubler/Zwanziger – Kittner KSchR Einleitung, Rd.Nr. 18. Kittner/Däubler/Zwanziger – Kittner KSchR Einleitung, Rd.Nr. 18a. Kittner/Däubler/Zwanziger – Kittner KSchR Einleitung, Rd.Nr. 19. Erfurter Kommentar/Oetker, § 1 KSchG, Rd.Nr. 1.

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Das Gesetz wurde sodann nach einer Reihe von Abänderungen, die vor allem Abschwächungen des Kündigungsschutzes mit sich brachten, verabschiedet.7 Eine erste gravierende Änderung erfuhr das Kündigungsschutzgesetz sodann am 25.8.1969. Die Neufassung erfolgte im Rahmen des ersten Arbeitsrechtbereinigungsgesetzes. Festgelegt wurde darin u.a., dass die gesetzlichen Regelungen bereits ab dem 18. Lebensjahr Anwendung finden sollten. Der Arbeitgeber wurde da­ rüber hinaus erstmals verpflichtet, Gründe für die Sozialauswahl mitzuteilen. Auch das inzwischen weitgehend anerkannte Mittel der Änderungskündigung wurde im Rahmen dieser Gesetzesänderung aufgenommen. Schließlich wurde neben weiteren Änderungen auch die Bemessung der Abfindung nach §§ 9, 10 KSchG erstmalig gesetzlich verankert. Eine weitere wesentliche Änderung erfuhr der Kündigungsschutz sodann im Jahr 1996. U.a. wurde die soziale Auswahl in § 1 Abs. 3 KSchG umgestaltet und die Absätze 4 und 5 neu hinzugefügt. Vor allem aber wurde der Schwellenwert des § 23 Abs. 1 KSchG von bisher fünf auf zehn Beschäftigte angehoben, wobei Teilzeitkräfte anteilig berücksichtigt wurden. Diese Änderungen wurden im Jahre 1999 teilweise revidiert. So wurde der Schwellenwert wieder auf den ursprünglichen Stand von fünf Beschäftigten zurückversetzt. Auch diese Revision hatte jedoch nur für kurze Zeit Bestand und wurde bereits im Rahmen des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 zum großen Teil wieder zurückgenommen. Seit dem Zeitpunkt der letzten Änderung gab es zwar immer wieder heftige politische Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung und den Regelungsgehalt des Kündigungsschutzes, zu einer weiteren gravierenden Änderung kam es in der Folge jedoch nicht mehr.

IV. Fluch oder Segen? 1. Die Kritik aus der Politik

Trotz seiner langen Geschichte und der seit seiner Entstehung einhergehenden Etablierung war und ist der Kündigungsschutz stets Inhalt politischer Auseinandersetzungen geblieben. Im Zentrum der Ausein7 Kittner/Däubler/Zwanziger – Kittner KSchR Einleitung, Rd.Nr. 23.

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andersetzungen in den letzten 20 Jahren standen vor allen Dingen die Regelungen zum Schwellenwert und zur Wartezeit. So wurde der Schwellenwert durch das Beschäftigungsförderungsgesetz vom 1.10.1996 von fünf auf zehn Mitarbeiter heraufgesetzt. Nach einer erneuten kurzzeitigen Absenkung auf fünf Mitarbeiter ab dem 1.1.1999 revidierte die rot-grüne Bundesregierung diesen Schritt im Rahmen des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt (Drucksache 15/1204) und hob den Schwellenwert erneut auf zehn Mitarbeiter an. Durch die Erhöhung des Schwellenwertes und die Ausweitung der Wartezeit versprach man sich vor allem eine größere Flexibilisierung am Arbeitsmarkt, den Abbau von Einstellungshemmnissen und damit verbunden eine Senkung der Arbeitslosigkeit. So begründete etwa Wolfgang Clement anlässlich einer Rede im deutschen Bundestag am 26.6.2003 die Anhebung des Schwellenwertes mit einer Absenkung der Hemmschwelle für den Eintritt in das Arbeitsleben. Man erwarte, dass es eine nicht zu unterschätzende Zahl von Kleinstunternehmen geben könne, die bereit seien, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzustellen, wenn die Folge daraus nicht ein Hineinwachsen in einen dauerhaften Kündigungsschutz wäre. Ähnlich argumentierte auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung zur Agenda 2010 vom 14.3.2003, als er sagte, dass die psychologische Schwelle von fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern insbesondere für Kleinbetriebe überwunden werden müsse, um Neueinstelllungen zu generieren. Noch weitergehende Forderungen kamen aus der CDU/CSU-Fraktion. So wurde in einem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Arbeitsrechtes vom 18.6.2003 (Drucksache 15/1182) gefordert, dass das Kündigungsschutzgesetz nicht für Neueinstellungen in Unternehmen gelten solle, in denen weniger als 20 Arbeitnehmer beschäftigen seien. Außerdem sollten demnach Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Option erhalten, gegen vorherige Vereinbarungen einer Abfindung bereits vor Antritt des Arbeitsverhältnisses auf die Erhebung einer Kündigungsschutzklage für den Fall einer arbeitgeberseitigen Kündigung zu verzichten. Im Bundestagswahlkampf 2005 forderten die Vertreter der Unionsparteien dann weiterhin eine Anhebung des Schwellenwertes auf 20 Mitarbeiter und zudem eine Ausweitung der Wartezeit auf zwei Jahre. Am Optionsmodell wurde ebenfalls festgehalten. Auch die Union argumentierte mit zu erwartenden positiven 214

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Beschäftigungseffekten. Karl-Josef Laumann bezeichnete die Entwürfe der Union in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 26.9.2003 als „klare Antwort auf die sich stellenden Probleme“. Ein Options­ modell und eine Kleinbetriebsregelung mit einem Schwellenwert von 20 Beschäftigten bei Neueinstellungen stelle eine klare Gliederung dar, die Einstellungen gewährleiste. Die FDP forderte im Rahmen des Wahlkampfes 2005 eine noch drastischere Beschneidung des Kündigungsschutzgesetzes. Der Kündigungsschutz sollte demnach erst nach einer Beschäftigungszeit von vier Jahren und nur in Betrieben mit mehr als 50 Mitarbeitern gelten. 2. Die empirischen Fakten a) Bedeutung von Schwellenwert und Wartezeit

Hinter diesen scheinbar harmlosen Forderungen aus der Politik zur Änderung der Schwellenwerte und der Wartezeit verbirgt sich eine massive Aufweichung des Kündigungsschutzgesetzes. Bereits die Anhebung des Schwellenwertes von fünf auf zehn Beschäftigte führte dazu, dass eine erhebliche Anzahl von Beschäftigungsverhältnissen vom Kündigungsschutz ausgeschlossen wurde. Waren aufgrund des Schwellenwertes bis 2004 lediglich 3,49 Mio. Beschäftigte ausgeschlossen, so stieg die Zahl aufgrund der Anhebung des Schwellenwertes auf 6,5 Mio.8 Eine weitere Anhebung des Schwellenwertes auf 20 Beschäftigte würde zu einer weiteren Steigerung auf 9,04 Mio. und damit 34 % aller Beschäftigten führen.9 Noch drastischer würde sich eine Ausweitung der Wartezeit auswirken. Aufgrund der starken Fluktuation am Deutschen Arbeitsmarkt führt bereits die Wartezeitregelung von sechs Monaten dazu, dass 21 % der Beschäftigungsverhältnisse ohne Kündigungsschutz bleiben.10 Eine Ausweitung auf zwei Jahre würde zu einer Steigerung der Quote auf insgesamt 48 % führen.11 Somit würde annährend jedes zweite Beschäftigungsverhältnis vom Kündigungsschutz faktisch aus  8   9 10 11

Böckler/Impuls, 13/2005 vom 27.7.2005. Böckler/Impuls, a.a.O. Böckler/Impuls, a.a.O. Böckler/Impuls, a.a.O.

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geschlossen, ohne dass hier der Kumulationseffekt einer gleichzeitigen Anhebung des Schwellenwertes Berücksichtigung findet. b) Die beschäftigungspolitische Wirkung

Aufgrund der einschneidenden Resultate einer Änderung von Schwellenwert und Wartezeit ist zu ermitteln, ob die Maßnahmen tatsächlich zu den gewünschten beschäftigungspolitischen Erfolgen führen würden. Inzident muss weiter untersucht werden, ob das Kündigungsschutzrecht tatsächlich Teil eines „verkrusteten Arbeitsmarktes“ ist, wie dies aus Kreisen von Wirtschaftsvertretern und der Politik häufig kolportiert wird. Und stimmt es, dass eine Ehe in Deutschland leichter zu scheiden ist, als das Arbeitsverhältnis, wie dies der ehemalige stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion Friedrich Merz einmal süffisant vorgetragen hat? Festzustellen ist, dass die Beweise für die angeblichen Beschäftigungsimpulse bisher ausgeblieben sind. Tatsächlich ist der Deutsche Arbeitsmarkt von einer starken Fluktuation gekennzeichnet. Je nach Konjunkturlage werden jährlich zwischen 3,5 und 4,5 Mio. neue Arbeitsverhältnisse geschlossen. Über 7 Mio. Menschen werden jährlich arbeitslos.12 Ein Beschäftigungshemmnis stellt der Kündigungsschutz nicht dar. Eine breit angelegte Studie untersuchte etwa das Einstellungsverhalten in Betrieben, deren wirtschaftliche Situation sich in den letzten Jahren verbessert hat, anhand der Daten aus dem IAB-Betriebspanel. Betriebe, die auf oder direkt unter der Schwelle des § 23 Abs. 1 KSchG lagen, zeigten kein von den anderen Betrieben abweichendes Einstellungsverhalten.13 Eine weitere Studie stammt aus dem Jahre 1997 und kam im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft zu dem Ergebnis, dass die Schwellenwerte im Arbeitsrecht nicht zu wesentlichen negativen Beschäftigungswirkungen führen. Von weitaus größerer Bedeutung für 12 Karen Ullmann, Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 20.9.2003. 13 Joachim Wagner, Klaus Schnabel, Wirken Schwellenwerte im Deutschen Arbeitsrecht als Bremse für die Arbeitsplatzbeschaffung in Kleinbetrieben? in: „Weniger Arbeitslose – aber wie?“, Herausgeber: Ehrig und Kalmbach, 2001.

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das Beschäftigungsverhalten aller klein- und mittelständischen Unternehmen sind andere Faktoren, wie die Auftragslage, die Kapazitätsauslastung, die Geschäftserwartung etc.14 Ein weiteres Argument gegen einen spürbaren Beschäftigungseffekt ist die überraschende Erkenntnis, dass rund 2/3 der Personalverantwortlichen in Kleinstbetrieben mit einem bis fünf Beschäftigten, die bislang nicht dem Kündigungsschutzgesetz unterlagen, tatsächlich annahmen, ihre Betriebe seien vom Kündigungsschutz erfasst.15 Diejenigen Kleinstbetriebe, die die Nichtgeltung des Kündigungsschutzgesetzes für sich richtig einschätzten, stellten allerdings nicht weniger und nicht mehr Beschäftigte ein, als diejenigen, die annahmen, der Kündigungsschutz gelte für sie – ein weiterer Beleg für die fehlende Beschäftigungswirkung der Anhebung des Schwellenwertes.16 c) Entlastung der Arbeitsgerichte?

Auch die Argumente, nach denen das Kündigungsschutzgesetz zu einer konfliktreichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt und die Arbeitsgerichte über Gebühr belastet, können widerlegt werden. Eine Untersuchung des WSI aus dem Jahre 2008, die an mehrere große repräsentative Befragungen aus den Jahren 2001 und 2003 anknüpfte, und zusammen mit TNS Infratest durchgeführt wurde, kam zunächst zu dem Ergebnis, dass die Befragungsergebnisse der Personen, die innerhalb des vergangenen Jahres ein Arbeitsverhältnis beendet hatten, stabil blieben.17 Eine weitere Erkenntnis war, dass Arbeitgeberkündigungen nach wie vor weitgehend konfliktfrei ablaufen. Daran änderte auch die Lockerung des Kündigungsschutzes und die Heraufsetzung des Schwel-

14 Uhlmann, Frankfurter Rundschau vom 20.9.2003 a.a.O und Werner Friedrich, Helmut Hägele, Ökonomische Konsequenzen von Schwellenwerten im Arbeits- und Sozialrecht sowie die Auswirkungen dieser Regelung (Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik in Köln), 1997. 15 Höland/Karl/Ullmann/Zeibig – Recht und Wirklichkeit der Kündigung von Arbeitsverhältnissen – Erste Erkenntnisse aus der Forschung, WSI Mitteilungen 3/2004. 16 Höland/Karl/Ullmann/Zeibig a.a.O. 17 Kündigung: Meist geht’s ohne Rechtsstreit, Böckler/Impuls 19/2008.

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lenwertes auf zehn Beschäftigte nichts.18 Die Klagequote hat sich bei den Arbeitgeberkündigungen kaum verändert. In der Untersuchung 2001 betrug sie 11 %, 2008 1 % mehr.19 Darüber hinaus erhalten nur 10–16 % der Gekündigten bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich eine Abfindung. Die Änderung des Kündigungsschutzgesetzes änderte an der Einstellungspolitik nichts.20 Zusammenfassend bleibt daher festzuhalten, dass zunächst keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Aufweichung des Kündigungsschutzgesetzes positive beschäftigungspolitische Erfolge hervorruft. Die bisherigen empirischen Studien und Forschungsergebnisse zeigen vielmehr, dass das Verhalten der Betriebe in Bezug auf ihre Einstellungspolitik auch nach durchgeführten Änderungen der Schwellenwerte unverändert geblieben ist. Einflussfaktoren, vor allem aus dem konjunkturellen Bereich sind hingegen weitaus entscheidender für die Erzielung von beschäftigungspolitischen Erfolgen. Auch eine signifikante Änderung der Klagequote bei Arbeitgeberkündigungen ist durch eine Änderung des Schwellenwertes bzw. durch eine Aufweichung des Kündigungsschutzgesetzes insgesamt nicht zu erwarten. Dieses – insbesondere in den juristischen Fachzeitschriften immer wieder vorgebrachte Argument für eine Änderung des Kündigungsschutzgesetzes – lässt sich somit wirksam entkräften. 3. Hohe gesellschaftliche Akzeptanz

Ein weiteres Argument für die Beibehaltung und Stärkung des deutschen Kündigungsschutzes ist seine hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Polis + Sinus im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung im Zeitraum vom 19.–21.10.2009 kam zu dem Ergebnis, dass insgesamt 51 % der Befragten die Schutzregelungen des Kündigungsschutzes unverändert beibehalten wollten. Weitere 29 % wollten diese sogar stärken. Ledig-

18 Kündigung: Meist geht’s ohne Rechtsstreit, Böckler/Impuls 19/2008. 19 Kündigung: Meist geht’s ohne Rechtsstreit, Böckler/Impuls 19/2008. 20 Kündigung: Meist geht’s ohne Rechtsstreit, Böckler/Impuls 19/2008.

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lich 13 % fanden es richtig, den Kündigungsschutz einzuschränken oder abzuschaffen.21 Ein detaillierter Blick auf die Zahlen zeigt, dass 96 % der Facharbeiter eine Beibehaltung bzw. einen Ausbau des Kündigungsschutzes befürworteten. Unter den angelernten Arbeitern und in der Gruppe der einfachen und mittleren Angestellten lag die Quote bei 85 %, bei den höheren Angestellten und Beamten bei 82 %.22 Auch unter den befragten Arbeitslosen lag die Zahl der Befürworter bei 91 %. Bemerkenswert erscheint dabei vor allem die Tatsache, dass der Anteil derer, die Einschränkungen oder Abschaffung befürworten, bei den Selbständigen zwar mit 26 % am höchsten ist, jedoch auch in dieser Gruppe 70 % für eine Beibehaltung oder Ausweitung des Kündigungsschutzes plädierten.23 Die Arbeitsrechtlerin und wissenschaftliche Direktorin des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institutes (WSI) Prof. Dr. Heide Pfarr sieht die Gründe hierfür in einem Schutz der Beschäftigten vor Willkür im Arbeitsleben, indem ein transparentes und überprüfbares Verfahren vorgeschrieben und ein „Herr im Hause-Verhalten“ von Arbeitgebern unterbunden werde. Damit trage zum sozialen Frieden bei. Diese gesellschaftliche Stabilisierungsfunktion würde verletzt, wenn der Kündigungsschutz geschwächt oder auf Umwegen ausgehebelt würde.24

V. Atypische Beschäftigung als eine Gefahr (auch) für den Kündigungsschutz Blickt man zurück in die jüngere Vergangenheit, so fällt auf, dass die Auseinandersetzung um das Kündigungsschutzgesetz seit dem Jahre 2009 stark abgenommen hat. Eine Erhöhung der Schwellenwerte bzw. der Wartezeit wird auch nicht im Koalitionsvertrag zwischen CDU und FDP aus dem Jahre 2009 gefordert. Diese grundsätzlich begrüßenswerte Tendenz dürfte jedoch nicht unbedingt dem Umstand ge21 22 23 24

Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 23.10.2009. Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 23.10.2009. Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 23.10.2009. Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 23.10.2009.

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schuldet sein, dass die Akzeptanz des Kündigungsschutzgesetzes bei den ehemaligen Kritikern erhöht wurde. Vielmehr besteht Anlass zur Sorge, dass das Instrument des Kündigungsschutzes an Wichtigkeit verliert, weil immer mehr atypische Beschäftigungsverhältnisse geschlossen werden. So kam bereits eine Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung innerhalb des Projektes Regulierung des Arbeitsmarktes (REGAM) im März 2004 zu dem Ergebnis, dass atypische Beschäftigungsverhältnisse, wie etwa Befristungen oder Leiharbeit durchaus auch deshalb genutzt werden, um eventuelle Probleme mit dem Kündigungsschutz zu vermeiden.25 Betrachtet man die Entwicklung, so zeigen bereits die Ergebnisse des Mikrozensus des Statischen Bundesamtes aus dem Jahre 2008 in einer Rückschau der letzten zehn Jahre, dass der Anteil von atypischen Beschäftigungsverhältnissen von 17,5 % im Jahre 1997 auf 25,5 % im Jahre 2007 angewachsen ist.26 Besorgniserregend ist dabei vor allem der weitere Anstieg der Leiharbeit. Wie eine brancheneigene Erhebung des Bundesverbandes Zeitarbeit und Personaldienstleistungen (BZA) zeigt, arbeiteten vor der Krise über 800.000 Beschäftigte in der Branche. Nachdem die Zahl der Beschäftigten sodann auf unter 600.000 zurückgegangen war, stieg diese bis zum Ende des Jahres 2010 auf ca. 900.000 Beschäftigte an und wird im Februar 2011 auf 873.000 Beschäftigte insgesamt geschätzt.27 Ein ähnlicher Trend ist auch bei befristeten Beschäftigungsverhältnissen festzustellen. Nach einer Studie des Instituts für Arbeitmarktund Berufsforschung erreichte der Anteil der befristeten Neueinstellungen mit 47 % im Jahr 2009 einen neuen Höchststand. 2008 lag der Anteil noch bei 44 %, 2001 erst bei 32 %.28 Diese Entwicklungen zeigen, dass gerade bei Neueinstellungen häufig atypische Beschäftigungsverhältnisse gewählt werden. Insbesondere durch die stark gestiegene Zahl von befristeten Neueinstellungen 25 Projekt Regulierung des Arbeitsmarktes (REGAM), Atypische Beschäftigung in den Betrieben – genutzt um Kündigungsschutz zu umgehen? März 2004. 26 Quelle: Statistisches Bundesamt 2008. 27 IW-Zeitarbeitindex, BZA-Umfrage März 2011, BZA. 28 Presseinformation des Institutes für Arbeitsmarkt und Berufsforschung vom 9.7.2010.

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verliert das Kündigungsschutzgesetz für die Beschäftigungsverhältnisse insgesamt an Bedeutung. Zwar besteht bei Leiharbeitsverhältnissen grundsätzlich Kündigungsschutz. Jedoch hat dieser auch hier durch den Wegfall des Synchronisationsverbotes, aber auch durch die häufige Kombination von Leiharbeit und befristeten Beschäftigungsverhältnissen zunehmend an Bedeutung verloren. In dem festzustellenden Ausweichverhalten auf atypische Beschäftigungsverhältnisse mag letzten Endes ein Hauptgrund dafür zu sehen sein, dass das Kündigungsschutzgesetz nicht mehr im Zentrum politischer Auseinandersetzungen steht. Angesichts der bereits erläuterten Vorteile des Kündigungsschutzes und der hohen gesellschaftlichen Akzeptanz sind diese Tendenzen sorgsam zu beobachten und Maßnahmen einzuleiten, die diesem Trend entgegenwirken. Zur Stärkung des Kündigungsschutzes sollte umgehend das Synchronisationsverbot wieder eingeführt werden. Die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung sollte darüber hinaus ebenfalls gesetzlich auf einige wenige Ausnahmefälle beschränkt werden. Schlussendlich ist auch der Schwellenwert neu zu diskutieren. Angesichts der bisherigen empirischen Ergebnisse spricht nichts gegen eine erneute Absenkung von zehn auf die ursprüngliche Größe von fünf Beschäftigten. Bereits mit diesen Maßnahmen ließe sich der Kündigungs­schutz wieder erheblich stärken. Beschäftigungspolitische Nachteile sind auf Grundlage der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zu erwarten.

VI. Der Kündigungsschutz am Arbeitsgericht Köln – Vergangenheit­und Ausblick 1. Entscheidungen des Arbeitsgerichtes mit Signalwirkung

Der Kündigungsschutz ist nicht nur aktuell ein zentrales Aufgabenfeld der Arbeitsgerichte. Bereits in der Vergangenheit wurde auch am Arbeits­gericht Köln erbittert um die richtige Auslegung der kodifizierten Regelungen gerungen. Wie vielfältig die Auslegungsmöglichkeiten sind, zeigen immer wieder konkrete Rechtsstreitigkeiten vor Ort.

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In den letzten Jahrzehnten hat das Arbeitsgericht Köln immer wieder Entscheidungen getroffen, die aus gewerkschaftlicher Sicht nicht nur begrüßenswert sind, sondern auch eine deutliche Signalwirkung hatten und haben. Beispielhaft genannt sei eine Entscheidung aus dem Jahre 1976, in der die 7. Kammer des Arbeitsgerichtes Köln zu dem Ergebnis gelangte, dass der in einem katholischen Krankenhaus angestellte Assistenzarzt kein Tendenzträger ist, weil die Hauptaufgabe auch des katholischen Krankenhauses die ärztliche Behandlung und Versorgung von Patienten ist. Tritt dieser angestellte Arzt aus der katholischen Kirche aus, so liegt darin kein Grund, das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund zu beenden.29 In einer weiteren Entscheidung aus dem Jahre 1984 stellt die 3. Kammer des Arbeitsgerichtes Köln fest, dass ein Betriebsratsmitglied eines Handelsgeschäftes nicht deshalb gekündigt werden darf, weil er im Verkaufsraum zwei Meinungsplaketten trägt, auf denen jeweils eine weiße Taube auf hellblauen Grund, sowie die gewerkschaftliche Forderung nach der 35-Stunden-Woche in den Farben Rot-Gelb abge­ bildet sind. Dies gelte jedenfalls, soweit es zu keinen wesentlichen Beeinträchtigungen des Betriebsablaufes komme. Mit dem Tragen der Plaketten nehme das Betriebsratsmitglied sein grundsätzlich verbrieftes Recht auf freie Meinungsäußerung wahr.30 Diese Entscheidung, durch die das Grundrecht der Meinungsfreiheit erheblich gestärkt wird, erlangt gerade in jüngster Zeit wieder zunehmende Aktualität. Die zahlreichen politischen Bewegungen der jüngeren Vergangenheit (Stuttgart 21) und das Wiedererstarken etwa der Anti-Atom-Bewegung zeigen den hohen Bedarf der Bevölkerung an demokratischer Teilhabe auch außerhalb der regelmäßig stattfindenden Wahlen und Abstimmungen. Der Begriff des „Wutbürgers“ hat Eingang in Medien und Politik gefunden. Daher ist es nur folgerichtig, dass sich diese politische Auseinandersetzung nicht nur in der Freizeit, sondern auch im Betrieb als soziale Begegnungsstätte abspielt. Will man keine reine Feierabend-Demokratie, so darf die politische Betätigung im Betrieb nicht untersagt werden und vor allem unter gar

29 ArbG Köln, Urteil vom 14.7.1976 – 7 Ca 1783/76. 30 ArbG Köln, Beschluss vom 28.3.1984 – 3 BV 3/84.

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keinen Umständen zu einer Kündigung führen. Dies gilt umso mehr, wenn der Betriebsfrieden hierdurch nicht gestört wird. Eine ähnlich ausgewogene und die Grundrechte schützende Entscheidung seitens des Arbeitsgerichtes Köln erging am 6.3.2008. Enthält demnach ein Arbeitsvertrag zwischen einer kirchlichen Einrichtung und einer Arbeitnehmerin keine Grundsätze in Bezug auf die vertragsgerechte Kleidung, kann der Arbeitnehmerin wegen des Tragens eines Kopftuches nicht ohne vorherige Abmahnung gekündigt werden. Die Arbeitnehmerin ist dann durch das Tragen des Kopftuches auch nicht dauernd außerstande, ihre Leistungspflicht im Sinne des § 297 BGB zu erbringen, so dass der Arbeitgeber sich bei Ablehnung der Arbeitsleistung in Annahmeverzug befindet.31 Auch diese Entscheidung zeigt ein hohes Maß an Sensibilität und Verständnis für die persönlichen Belange der Beschäftigten und die immense Wichtigkeit der Wahrung von Grundrechten auch auf betrieblicher Ebene. Die drei genannten Entscheidungen des Arbeitsgerichtes Köln zeigen exemplarisch, dass der Umgang mit dem Kündigungsschutz nicht nur ein hohes Maß an Sensibilität erfordert, sondern auch stets einen Blick auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und die gesamte Normenhierarchie verlangt. 2. Plädoyer für eine Zukunft des Kündigungsschutzes

Diese hohe Verantwortung der Arbeitsgerichte wurde durch die viel zitierte Entscheidung des 2. Senates des BAG im „Fall Emmely“32 weiter gestärkt. Das Bundesarbeitsgericht hat hier klargestellt, dass es keine absoluten Kündigungsgründe gibt. Aufgrund dieser Klarstellung wird es in Zukunft noch mehr als bisher schon auf die tatrichterliche Würdigung des Einzelfalles ankommen. Dies führt zwar im Einzelfall zu einem noch höheren Arbeitsaufwand auf Seiten aller am Prozess beteiligter Personen, lässt jedoch auch Spielraum für das dem gesamten Bereich des Kündigungsschutzes immanente Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

31 ArbG Köln, Urteil vom 6.3.2008 – 19 Ca 7222/07. 32 BAG, Urteil vom 10.6.2010 – 2 AZR 541/09.

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Das Arbeitsgericht Köln hat bereits mehrfach bewiesen, dass es über das notwendige Verantwortungsbewusstsein verfügt und mit kündigungsschutzrechtlichen Streitigkeiten so sensibel wie möglich, aber auch so bestimmt wie nötig umgeht. Die Vertreter der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden weiterhin dafür einstehen, dass der Kündigungsschutz auch in Zukunft eine zentrale Rolle spielt. Dies gebietet die Verantwortung für den sozialen Frieden und eine ausgewogene Balance zwischen wirtschaftlichen Interessen und dem Schutz des Einzelnen vor Willkür. Die nächsten 200 Jahre Arbeitsgerichtsbarkeit Köln sollten daher weiterhin auch untrennbar mit dem Bereich des Kündigungsschutzes verbunden sein.

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Fortgeltung im Falle eines Betriebsübergangs

Fortgeltung kollektivrechtlicher Regelungen im Falle eines Betriebsübergangs Prof. Dr. Bernd Schiefer Rechtsanwalt/Fachanwalt für Arbeitsrecht Schiefer Rechtsanwälte, Düsseldorf; Geschäftsführer der Landesvereinigung der Unternehmensverbände Nordrhein-Westfalen e.V., Düsseldorf; Professor an der Fresenius Hochschule, Köln

2. Kein Erfordernis einer beiderseitigen­ kongruenten Tarifgebundenheit bereits­ im Zeitpunkt des Betriebs­übergangs . . . . . 229 3. Kein entgegenstehendes Günstigkeitsprinzip. . . . 230 4. Regelungsidentität. . . . . 230 V. Abschließende Entscheidung des BAG. . . . . . . . . . . . . . . 230 1. Beiderseitige kongruente Tarif­bindung. . . . . . . . . 230 2. Keine zeitliche Grenze für das Eingreifen des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB. . . . . 231 3. Kein Günstigkeitsprinzip. 231 4. Regelungsidentität. . . . . 231 VI. Zusammenfassung. . . . . . . 232

I. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . 225 II. Der Ausgangsfall und die hierzu­ ergangene Recht­ sprechung . . . . . . . . . . . . . 226 1. Transformation gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB oder Ablösung gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB?. . . . . . . . . . 226 2. Beiderseitige kongruente Tarif­bindung. . . . . . . . . 227 III. Die „überraschende“ Wendung . . . . . . . . . . . . . . 227 IV. Entscheidungen des LAG Köln. . . . . . . . . . . . . . 228 1. Beiderseitige kongruente Tarif­bindung infolge Gründung­der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. 228

I. Einleitung Für einen Düsseldorfer Rechtsanwalt – allerdings mit Lehrtätigkeit in Köln – ist es eine besondere Ehre und Freude, an der Festschrift „200 Jahre Arbeitsrechtsprechung in Köln“ mitwirken zu dürfen. Dies umso mehr, da über einen Fall berichtet werden soll, mit dem eben dieser Rechtsanwalt von 1998 bis 2005 mehrere Kammern des Ar225

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beitsgerichts Köln, des Landesarbeitsgerichts Köln und schließlich das Bundesarbeitsgericht in den unterschiedlichsten Konstellationen befasst bzw. gequält hat. Das – im Folgenden beschriebene – vielfache „Hin und Her“ verdeutlicht, wie langwierig und schwierig die Rechtsfindung ggf. ist. Es zeigt aber auch, dass den Beteiligten große Geduld und auch „Leidensfähigkeit“ abverlangt wird. Schließlich wird deutlich, dass gerade im Recht des Betriebsübergangs eine für die Praxis nicht akzeptable Rechtsunsicherheit besteht, die unlängst durch die Rechtsprechung des EuGH (Stichwort: Klarenberg) noch verstärkt worden ist.

II. Der Ausgangsfall und die hierzu ergangene Recht­ sprechung 1. Transformation gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB oder Ablösung gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB?

Für den Veräußererbetrieb – das Vorliegen der Tatbestandsvoraus­ setzungen des § 613a Abs. 1 BGB war unstreitig – galten (1998) die Tarifverträge für die Druckindustrie (IG Medien – Veräußerertarif­ vertrag). Für den Erwerber galt ein ÖTV-Tarifvertrag (Erwerbertarifvertrag). Der Veräußerertarifvertrag war im Verhältnis zu dem Erwerbertarifvertrag für die übergehenden Arbeitnehmer erheblich günstiger bzw. für den Erwerber erheblich schlechter1. Der Erwerber ging nach Lektüre des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ohne weiteres von einer Ablösung des Veräußerer- durch den Erwerbertarifvertrag aus und wurde dabei u.a. durch eine Entscheidung des ArbG Köln2 bestätigt, in der unter ausdrücklichem Hinweis auf den „normalen Rechtsanwender“ Folgendes ausgeführt wird: „Wenn es in § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB heißt, dass die in Satz 2 geregelte Transformation des Tarifrechts in Individualvertragsrecht nicht gilt, wenn die Rechte und Pflichten bei dem neuen Inhaber durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrages geregelt werden, konnte der Übernehmer daraus ohne weiteres den Schluss ziehen, wegen der bei ihm Kraft Verbandszugehörigkeit gültigen Rechtsnormen des Erwerbertarifvertrages werde er nicht gegen1 Eine Zusammenfassung des Tatbestands findet sich in DB 2003, 391. 2 ArbG Köln v. 31.10.2002 – 8 Ca 4829/99.

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über den übernommenen Arbeitnehmern an die Veräußerungstarifverträge gebunden“. 2. Beiderseitige kongruente Tarifbindung

Dass es hingegen ggf. nicht darauf ankommt, wie der „normale Rechtsanwender“ § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB versteht bzw. verstehen muss, belegten sodann weitere Entscheidungen des ArbG Köln, die zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kamen3. Eine gewisse Hoffnung für den Erwerber gab sodann eine Entscheidung des LAG Köln, mit der das LAG Köln eine Ablösung des Veräußerertarifvertrages durch den Erwerbertarifvertrag gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB annahm4. Diese Ablösung hatte das LAG Köln vor allem damit begründet, dass es sich bei beiden Gewerkschaften (IG Medien, ÖTV) um DGB-Gewerkschaften handele. Das sodann mit dem Rechtsstreit befasste BAG verneinte hingegen eine Ablösung5. Die Ablösung gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB fordere eine „echte“ beiderseitige kongruente Tarifbindung. D.h.: Die übergehenden Arbeitnehmer müssten Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft (hier: ÖTV) sein.

III. Die „überraschende“ Wendung Im Anschluss an die Gründung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit Wirkung zum 1.7.2001 brachte der Erwerber sodann unter Berufung auf § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB auf die übergegangenen Arbeitnehmer ausschließlich den ÖTV-Tarifvertrag in Anwendung, denn infolge Gründung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sei nun im Sinne der Rechtsprechung des BAG eine beiderseitige kongruente Tarifbindung gegeben (sowohl die IG Medien als auch die ÖTV sind Gründungsgewerkschaften von ver.di). Die mit dieser Frage befassten Kammern des ArbG Köln beurteilten dies unterschiedlich. Zum Teil wurde eine beiderseitige kongruente Tarifbindung infolge Gründung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di angenommen. Zum Teil wurde aus der Satzung von ver.di abge3 S. im Einzelnen auch Schiefer, DB 2003, 390 ff. 4 LAG Köln v. 30.9.1999 – 6 (9) Sa 740/99. 5 BAG v. 21.2.2001 – 4 AZR 18/00, DB 2001, 1837.

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leitet, dass eine Ablösung des Veräußerer- durch den Erwerbertarifvertrag nicht erfolgt sei.

IV. Entscheidungen des LAG Köln Das LAG Köln hatte sich nunmehr in mehreren Entscheidungen insbesondere mit den folgenden Fragen zu befassen: –– Wird durch Gründung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di für die Mitglieder der fünf Gründungsgewerkschaften eine beiderseitige kongruente Tarifbindung i.S. des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB hergestellt? (s. hierzu 1.) –– Muss für die Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB eine beiderseitige kongruente Tarifbindung bereits im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehen? (s. hierzu 2.) –– Steht der Verdrängungswirkung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ggf. das sog. Günstigkeitsprinzip entgegen? (s. hierzu 3.) –– Bedarf es für die Verdrängungswirkung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB einer sog. Regelungsidentität zwischen dem Veräußerer- und dem Erwerbertarifvertrag bzw. welche Anforderungen sind ggf. an eine solche Regelungsidentität zu stellen? (s. hierzu 4.) Das LAG Köln kam zu folgenden Ergebnissen: 1. Beiderseitige kongruente Tarifbindung infolge Gründung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di

Nach der Verschmelzung der fünf Gründungsgewerkschaften DAG, DPG, HBV, IG Medien und ÖTV zur Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zum 1.7.2001 ist eine beiderseitige kongruente Tarifbindung eingetreten. Infolge dieser beiderseitigen Tarifbindung ist eine Ablösung gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB erfolgt. Die von den Gründungsgewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträge gelten nach Wirksamwerden der Verschmelzung unverändert fort. Ver.di trat als Tarifvertragspartei an die Stelle derjenigen Gründungsgewerkschaft, die den Tarifvertrag abgeschlossen hat (§ 95 Nr. 1 Sätze 1 und 2 der ver.di-Satzung). Interne Regelungen von ver.di ändern nichts daran, dass nach Außen­hin nur ver.di als tarifschließende Gewerkschaft auftritt und 228

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auch nur ver.di nach den Bestimmungen des Umwandlungsgesetzes als übernehmender Rechtsträger Rechtsnachfolger der einzelnen Gründungsgewerkschaften ist6. 2. Kein Erfordernis einer beiderseitigen kongruenten Tarif­ gebundenheit bereits im Zeitpunkt des Betriebsübergangs

Die Verdrängungswirkung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB greift – bei Vorliegen der Voraussetzungen der Norm – zum einen, wenn zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs im Erwerberbetrieb eine kollektivrechtliche Regelung vorhanden ist7. Sie gilt zum anderen aber auch dann, wenn eine entsprechende kollektivrechtliche Regelung für den Erwerberbetrieb erst nach dem Betriebsübergang Geltung erlangt8. Gibt es zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs keine entsprechende kollektivrechtliche Regelung im Erwerberbetrieb, so erfolgt in Anwendung des § 613a Abs. 2 BGB zunächst eine Transformation. Das transformierte Recht ist gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB (einjährige Änderungssperre) ein Jahr lang gegen Änderung gesperrt. Die Änderungssperre gilt jedoch nur im Hinblick auf eine individualrechtliche Verschlechterung. Eine Ablösung des transformierten Rechts durch eine nachfolgende kollektivrechtliche Regelung ist dagegen möglich. Dies gilt zum einen – unstreitig – während der einjährigen Änderungssperre des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB9. Zum anderen muss dies aber erst recht nach Ablauf der einjährigen Änderungssperre gelten. Die einjährige Änderungssperre bezieht sich zum einen nur auf individualrechtliche Verschlechterungen. Es würde zudem überhaupt keinen Sinn ergeben, die grundsätzlich zulässige Ablösung durch eine kollektivrechtliche Regelung nur innerhalb der Jahresfrist bzw. eines ande6 S. hierzu Prange, NZA 2002, 817, 821; Melms, NZA 2002, 296 ff.; Schliemann, NZA 2003, Beilage zu Heft 16, 3, 9 (Fn. 44); Schiefer, DB 2003, 390, 391 f.; Schiefer, Festschrift „50 Jahre Bundesarbeitsgericht“, 859, 867 f.; Schiefer/Pogge, Outsourcing/Betriebsübergang/Auftragsvergabe, 3. Aufl., Düs­seldorfer Schriftenreihe, Rz. 117. 7 Zur Ablösung des Veräußerer- durch den Erwerbertarifvertrag: BAG v. 22.1.2003 – 10 AZR 227/02, DB 2003, 1852. 8 Z.B. BAG v. 16.5.1995 – 3 AZR 535/94, DB 1995, 2074. 9 Zu den Einzelheiten s. Schiefer/Pogge, Outsourcing/Betriebsübergang/Auftragsvergabe, 3. Aufl., Düsseldorfer Schriftenreihe, Rz. 230 ff.

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ren – willkürlich – gesetzten Zeitraums zuzulassen. Zu Recht verweist insoweit das LAG Köln – auch mit Hinweis auf die Rechtsprechung des BAG, wonach bislang keine Zeitgrenze aufgestellt worden ist – darauf, dass es mit Blick auf das in § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB zum Ausdruck kommende Ordnungsprinzip der betrieblichen Tarifeinheit mit der Sicherung des Vorrangs kollektivrechtlicher Regelung beim Betriebserwerber vor denen beim Betriebsveräußerer nicht auf eine bestimmte oder „angemessene“ Frist für die kollektivrechtliche Ablösbarkeit ankommen kann. 3. Kein entgegenstehendes Günstigkeitsprinzip

Das sog. Günstigkeitsprinzip kann der Verdrängungswirkung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht entgegenstehen. Diese Feststellung ist an sich zwangsläufig. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB würde anderenfalls in vielen Fällen schlicht leer laufen. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB schließt als Sonderregelung das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG aus. Die in das Individualrecht transformierten bisherigen kollektivrechtlichen Regelungen des Veräußererbetriebs stehen unter Ablösungsvorbehalt. 4. Regelungsidentität

Die Ablösung gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB erfordert keine „vollständige Regelungsidentität“ zwischen Veräußerer- und Erwerberbetrieb. Die Regelung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB würde anderenfalls weitestgehend leer laufen. Dies würde ganz offensichtlich dem Willen des Gesetzgebers nicht entsprechen.

V. Abschließende Entscheidung des BAG 1. Beiderseitige kongruente Tarifbindung

Das erneut mit dem Fall befasste BAG10 hat zunächst in Übereinstimmung mit der Vorinstanz11 festgestellt, dass nach Verschmelzung der 10 BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, DB 2005, 2141; s. hierzu Schiefer, DB 2005, 2134. 11 LAG Köln v. 1.4.2004 – 10 Sa 1228/02, DB 2004, 1892.

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fünf Gründungsgewerkschaften zur Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zum 1.7.2001 eine beiderseitige kongruente Tarifbindung eingetreten ist. Infolge dieser Tarifbindung ist eine Ablösung gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB erfolgt. Interne Regelungen von ver.di (Satzung) ändern hieran nichts. 2. Keine zeitliche Grenze für das Eingreifen des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB

Für das Eingreifen des „Erwerbertarifvertrags“ ist es unerheblich, ob dieser schon zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs für den bereits vorhandenen Betrieb des Erwerbers gilt und damit von vornherein die Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ausschließt, oder erst später für den Erwerber Geltung erlangt und demgemäß erst von diesem Zeitpunkt die bisherigen, nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB weitergeltenden tariflichen Vorschriften verdrängt. Eine zeitliche Grenze für die Anwendbarkeit des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB gibt es nicht; insbesondere gilt nicht der im anderen Zusammenhang in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB vorgesehene Jahreszeitraum (einjährige Änderungssperre). Dies bedeutet, dass z. B. ein im Jahre 1998 in das Individualrecht transformiertes Recht durch eine kollektivrechtliche Regelung, die erst im Jahre 2005 für den Erwerberbetrieb Geltung erlangt, abgelöst werden kann. 3. Kein Günstigkeitsprinzip

Das Günstigkeitsprinzip steht der Spezialregelung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB nicht entgegen. Anderenfalls wäre diese Norm sinnentleert. 4. Regelungsidentität

Im Hinblick auf die für die Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB für erforderlich gehaltene Regelungsidentität verweist das BAG nur knapp auf seine Entscheidung vom 20.4.1994 – 4 AZR 342/9312.

12 BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, DB 1994, 2629.

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Danach muss gefragt werden, ob die bisher beim Veräußerer geregelte Frage auch eine entsprechende Regelung beim neuen Inhaber erfahren hat. Unerheblich ist dagegen das Wie der Regelung, da es für Satz 3 unbeachtlich ist, ob die neue Regelung günstiger ist oder nicht. Derselbe Regelungsgegenstand ist also dann betroffen, wenn der Tarifvertrag bei dem Erwerber eine Regelung enthält, nicht aber, wenn er dazu schweigt. Soweit sich die Regelungsbereiche nicht decken, können die Regelungen des alten Tarifvertrages nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB individualvertraglich weiter gelten. Unwidersprochen bleibt damit die Auffassung der Vorinstanz13, wonach eine „vollständige Identität“ nicht zu fordern ist, da anderenfalls § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB weitestgehend leer laufen dürfte. Die zutreffende, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BAG zum Erfordernis der kongruenten Tarifbindung gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB überzeugend begründete Ansicht, wonach stets einer beim Erwerber bestehenden Tarifordnung nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB der Vorrang zukommt, hat das BAG zumindest nicht aufgegriffen. Eine Auseinandersetzung mit dieser Auffassung war allerdings auch nicht erfor­derlich, da bereits nach der vom BAG bislang vertretenen Auffassung vorliegend eine Ablösung gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB erfolgt war14.

VI. Zusammenfassung Das beschriebene „Hin und Her“ zwischen den Instanzen einhergehend mit den eingetretenen Änderungen des Sachverhalts (Gründung von ver.di) hat schließlich zu einer begrüßenswerten Lösung einer Reihe von Fragen geführt, die sich im Zusammenhang mit der Fortgeltung kollektivrechtlicher Regelungen beim Betriebsübergang stellen. Die Praxis hat so eine verlässliche Orientierungshilfe erhalten. Seit dem Jahr 2005 haben sich allerdings sowohl auf der Tat­ bestands- als auch der Rechtsfolgenseite des § 613a BGB – unter anderem maßgeblich beeinflusst durch die Rechtsprechung des EuGH15 13 LAG Köln v. 1.4.2004 – 10 Sa 1228/02, DB 2004, 1892. 14 Meyer, DB 2004, 1886 ff. 15 S. im Einzelnen Schiefer, DB 2011, 54 ff.

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– weitere schwierige Fragen ergeben. Zum Teil sind aber auch gravierende Änderungen in der Rechtsprechung des BAG erfolgt (Bezugnahmeklauseln/Gleichstellungsabreden etc.), die die Praxis irritieren und vor völlig neue Herausforderungen stellen. § 613a BGB ist nach wie vor eine – wohl nie versiegende – Quelle für schwierige Abgrenzungsfragen und natürlich auch neue Rechtsstreitigkeiten, die auch die Kölner Arbeitsgerichtsbarkeit weiter beschäftigen werden. Düsseldorfer Arbeitsrechtler werden sich auch weiterhin gerne an der Rechtsfindung beteiligen und ggf. neue Fälle beitragen.

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Thomas Bezani und Marcus Richter

Grenzüberschreitender Betriebsübergang? Dr. Thomas Bezani und Dr. Marcus Richter beide FAArbR und Partner der Sozietät GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten

cc) Rechtsfolgen einer Anwendung des § 613a BGB . . . . 244 c) Zwischenergebnis. . . 245 2. Betriebsübergang im Sinne­ des § 613a BGB. . 245 III. Kündigungsrechtliche As­ pekte grenzüberschreitender Betriebsübergänge . . . . . . . 249 1. Dringendes betriebliches Erfor­dernis i.S. des § 1 Abs. 2 KSchG . . . . . . . . 251 2. Darlegungslast im Spannungsverhältnis von § 1 Abs. 2 KSchG und § 613a Abs. 4 BGB . . . . 253 IV. Zusammenfassung der Ergebnisse­. . . . . . . . . . . . . 256

I. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . 235 II. Arbeitgeberwechsel bei Übertragung­von Betriebs­ mitteln ins Ausland gemäß § 613a BGB. . . . . . . . . . . . 237 1. Anwendbarkeit der Re­ gelung des § 613a BGB auf die grenzüberschrei­ tende Übertragung von (Teil-)Betrieben?. . . . . . . 237 a) Meinungsstand. . . . . 238 b) Stellungnahme. . . . . . 240 aa) Ausgangspunkt: Territorialitätsprinzip . . . . . . . . 240 bb) Arbeitsvertragsstatut und § 613a BGB . . . . 240

I. Einleitung Am 26. April jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag der Kölner Arbeitsgerichtsbarkeit. Seit ihrer Gründung hat sich im Arbeitsrecht vieles, man möchte fast sagen nahezu alles verändert. Damit sind nicht nur die im stetigen Wandel befindlichen rechtlichen Rahmenbedingungen angesprochen, an denen die Kölner Arbeitsgerichte ihre Rechtsprechung auszurichten hatten. Auch das Arbeitsleben selbst, das sozusagen den Nabel der arbeitsrechtlichen Welt bildet, hat sich in den zurückliegenden 200 Jahren in drastischer Weise verändert. Vor allem 235

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in den vergangenen 30 Jahren hat diese Veränderung rasante Geschwindigkeit aufgenommen. In dieser Zeit ist das Arbeitsleben nicht nur schnelllebiger, sondern unter dem Einfluss neuer technischer Errungenschaften insbesondere globaler geworden. Die veränderten rechtlichen wie tatsächlichen Rahmenbedingungen haben die Richterinnen und Richter der Kölner Arbeitsgerichte vielfach in den zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten gekonnt übereinander gebracht. Dabei haben sie mit vielen ihrer Entscheidungen neu aufgekommene Rechtsfragen derart treffend beantwortet, dass sich ihre Bewertungen in der übrigen Rechtsprechung und Literatur durchgesetzt und verfestigt haben. So besehen gehören die Kölner Arbeitsgerichte zu den Jubilaren, denen man nicht nur zu ihrem Geburtstag gratulieren kann, sondern auch zu ihrem Wirken in der Vergangenheit. Einer der Rechtsstreite, der durch die vorstehend bereits angesprochene Globalisierung und steigende Durchdringung des deutschen Arbeitsrechts durch internationales und europäisches Recht geprägt war, befasste die Kölner Arbeitsgerichte zu Beginn der 90er Jahre. Ihm lag die Übertragung des wesentlichen Betriebsvermögens eines in den USA ansässigen Unternehmens auf eine deutsche Gesellschaft zugrunde, welche mit der Verlagerung des Betriebsvermögens nach Deutschland verbunden war. Der Kläger war in dem von der Verlagerung betroffenen Betrieb beschäftigt und machte nach der Übertragung des Betriebsvermögens den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die deutsche Gesellschaft geltend. Es galt zu klären, ob diese nun verpflichtet war, die amerikanischen Arbeitnehmer zu übernehmen und zu bisherigen Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen. Dies hing davon ab, ob oder inwieweit die Vorschrift des § 613a BGB Anwendung findet, wenn betriebliche Einheiten aus dem Ausland nach Deutschland verlagert werden. Ihrer Anwendung erteilten die Kölner Arbeitsgerichte in beiden Instanzen eine Absage und wiesen die Klagen des Arbeitnehmers auf Feststellung des Übergangs seines Arbeitsverhältnisses ab.1 Unbeantwortet – weil streitunerheblich – blieb leider die Frage nach der Anwendbarkeit des § 613a BGB in der spiegelbildlichen Fallgestal1 LAG Köln v. 6.4.1992 – 3 Sa 824/91, LAGE § 613a BGB Nr. 26; ArbG Köln v. 5.7.1991 – 5/13 Ca 3047/91 n.v.; bestätigt durch BAG v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, NZA 1993, S. 743.

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tung, in dem ein deutsches Unternehmen beschließt, seinen in Deutschland unterhaltenen Betrieb zu schließen und die Betriebsmittel an ein im Ausland ansässiges Unternehmen zu übertragen. Ob und inwieweit in dieser Konstellation ein Betriebsübergang dem Grunde nach gegeben ist, vor allem aber ob und inwieweit die erwerbende, im Ausland ansässige Gesellschaft in die Rechte und Pflichten der Arbeitsverhältnisse eintritt, die bisher dem in Deutschland unterhaltenen Betrieb zugeordneten waren, ist bis heute höchstrichterlich2 nicht beantwortet und in der übrigen Rechtsprechung wie auch in der Literatur höchst umstritten. Der vorliegende Beitrag hat sich daher – sozusagen als Geburtstagsgeschenk – das Ziel gesetzt, diese Rechtsfrage zur Abrundung der durch die Kölner Gerichte geprägten Rechtsprechung aufzuarbeiten und einer Antwort zuzuführen. Da die aufgeworfene Frage sich nicht selten auch in sachlichem Zusammenhang mit dem Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen durch den bisherigen Arbeitgeber stellen wird, wird der Vollständigkeit halber in einem zweiten Abschnitt auch der Frage nach der Rechtswirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten nachgegangen und im Zuge dessen das Verhältnis der Regelungen des § 1 Abs. 2 KSchG und des § 613a Abs. 4 BGB zueinander mit aufgearbeitet.

II. Arbeitgeberwechsel bei Übertragung von Betriebs­ mitteln ins Ausland gemäß § 613a BGB 1. Anwendbarkeit der Regelung des § 613a BGB auf die grenzüberschreitende Übertragung von (Teil-)Betrieben?

Der Erwerber eines (Teil-)Betriebs,3 auch wenn dieser seinen Sitz im Ausland hat, tritt gemäß § 613a Abs. 1 BGB in die Rechte und Pflich2 Ausweislich der Pressemitteilung 44/11 des Bundesarbeitsgerichts zu seinem Urteil vom 26.5.2011, www.bundesarbeitsgericht.de, hat das Bundesarbeitsgericht sich alleine zur Wirksamkeit einer Kündigung in solchen Konstellationen positioniert, die Frage nach dem Eintritt des ausländischen Erwerbers jedoch ausdrücklich offengelassen. Die Urteilsgründe dürfen mit Spannung erwartet werden. 3 Zur besseren Lesbarkeit wird neben dem Hauptfall der Betriebsübernahme die Übernahme eines Teilbetriebs nicht durchweg ausdrücklich mitgenannt.

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ten der ihm zugeordneten Arbeitsverhältnisse ein. Ob das auch dann gilt, wenn er den Betrieb nicht in Deutschland fortführt, sondern die ihn ausmachenden Betriebsmittel ins Ausland verbringt, um mit ihnen dort einen Betrieb zu bilden und zu führen, ist fraglich. Das wäre jedenfalls dann der Fall, wenn die Vorschrift des § 613a BGB in solchen Konstellationen auch mit Rechtswirkung für den ausländischen Erwerber Anwendung fände. Inwieweit dies der Fall ist, ist höchst umstritten. a) Meinungsstand

Das LAG Baden-Württemberg4 sowie ein Teil der Literatur5 vertritt – teils auch unter Verweis auf die Rechtsprechung der Kölner Arbeitsgerichte – die Ansicht, dass für die Anwendbarkeit des § 613a BGB bei jedweder grenzüberschreitenden Betriebsverlagerung maßgeblich auf das Arbeitsvertragsstatut abzustellen ist. Soweit der Arbeitsvertrag der betroffenen Arbeitnehmer keine Rechtswahl beinhalte, sei für die Verlagerung von Betrieben von Deutschland ins Ausland deutsches Arbeitsrecht anzuwenden und zwar auch im Verhältnis zu einem im Ausland ansässigen Erwerber eines Betriebs.6 Als wesentliches für diesen Ansatz und das aus ihm resultierende Ergebnis sprechendes Argument wird die Schutzwürdigkeit des Arbeitnehmers bemüht. Der Arbeitnehmer könne – zu Recht – mit dem Abschluss seines deutschen Arbeitsvertrages davon ausgehen, dass dieses Rechtsverhältnis mangels anderweitiger Rechtswahl strikt nach deutschem Recht behandelt wird.7 Für die Anwendbarkeit deutschen Rechts auch im Verhältnis zu einem Dritten spreche zudem, dass der Erfüllungsort des betroffenen Arbeitsverhältnisses in derartigen Konstellationen in Deutschland lie-

4 LAG Baden-Württemberg v. 17.9.2009 – 11 Sa 40/09, BeckRS 2009, 74883. 5 Feudner, NZA 1999, S. 1184; Däubler, FS Kissel 1994, S. 119, 123 ff., Winkler v. Mohrenfels, EAS B 3000 Rn. 213; Martiny in MünchKomm/ BGB, 4. Aufl., 2006, Art. 30 EGBGB, Rn. 88, m.w.N. 6 LAG Baden-Württemberg v. 17.9.2009 – 11 Sa 40/09, BeckRS 2009, 74883; Feudner, NZA 1999, S. 1184; Däubler, FS Kissel 1994, S. 119, 123 ff. 7 Feudner, NZA 1999, S. 1184, 1186; Martiny in MünchKomm/BGB, a.a.O.

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ge und somit nach den deutschen Kollisionsregeln für die Anwendung nationaler Rechtsordnungen deutsches Recht anzuwenden sei.8 Die Gegenauffassung lehnt eine Anknüpfung an das Arbeitsvertragsstatut für die Frage der Einbeziehung eines im Ausland ansässigen und dort agierenden Dritten in den Anwendungsbereich deutscher Normen, insbesondere in den des § 613a BGB ab.9 Zur Begründung wird unter anderem angeführt, dass die Vorschriften der §§ 27 ff. EGBGB (heute Art. 8 VO (EG) 593/2009 „Rom I“10) zum Arbeitsvertragsstatut für die Einbeziehung eines Dritten in ein Arbeitsverhältnis und in dessen Rechte und Pflichten ungeeignet seien, soweit dieser in Deutschland zu keinem Zeitpunkt einen Betrieb geführt habe. Ein Abstellen allein auf das Arbeitsvertragsstatut führe – was die Gegenansicht außer Acht lasse – in Belegschaften, in denen uneinheitliche Vertragstatute bestünden – dazu, dass nur ein Teil der Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber übergehen könnte.11 Dies wiederum sei mit Sinn und Zweck der Vorschrift des § 613a BGB nicht vereinbar. Zudem unterlägen Arbeitsverhältnisse gesetzlichen Vorschriften und kollektivvertraglichen Regelungen, die sich in Inhalt und Schutzniveau auf fremdem Territorium gar nicht abbilden ließen.12 Der über eine Anwendung des § 613a BGB dem ausländischen Dritten auferlegte Eintritt in die Rechte und Pflichten aus den deutschen Arbeitsverhältnisse lasse sich daher weder rechtlich, geschweige denn praktisch umsetzen. Eine solche lediglich partielle Umsetzung des Regelungsgehalts einer Norm führe nicht nur zu unausgewogenen, vom Gesetzgeber in dieser Form

 8 LAG Baden-Württemberg v. 17.9.2009 – 11 Sa 40/09, BeckRS 2009, 74883.   9 LAG Hamburg IPRax 1981, S. 175; ArbG Freiburg v. 3.9.2009 – 22 Sa 45/09 n.v.; Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 234; Birk, RdA 1984, S. 129, 133; Loritz, RdA 1987, S. 65, 84; Loritz, ZfA 1991, S. 585, 597f. 10 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), Abl. Nr. L177, S. 6, ber. 2009 Nr. L 309, S. 87. 11 Birk, RdA 1984, S. 129, 133, Birk in MünchArbR, 2. Aufl., 2000, § 20, Rn. 185 (gleichwohl die grenzüberschreitende Anwendung des § 613a BGB bejahend); Reichold, FS Birk, S. 687, 701. 12 Junker, Internationales Arbeitsrecht im Konzern, S. 231.

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nicht gewollten Ergebnissen, sondern weise darauf hin, dass ihre Anwendbarkeit nicht angezeigt sei. b) Stellungnahme

Die besseren Argumente sprechen u.E. gegen eine Anwendbarkeit der Vorschrift des § 613a BGB auf einen Dritten, der einen ehemals in Deutschland gelegenen Betrieb im Ausland fort betreibt. In der Folge tritt er in die ursprünglich zu dem deutschen Betrieb bestehenden Arbeitsverhältnisse nicht ein, wenn er mit den aus Deutschland ins Ausland verbrachten Betriebsmitteln einen Betrieb führt. Im Einzelnen: aa) Ausgangspunkt: Territorialitätsprinzip

Im Ausgangspunkt der Überlegungen steht das Territorialprinzip: Mit ihm ist es nicht ohne weiteres überein zu bringen, auf Grundlage der nationalen Vorschrift des § 613a BGB einen Dritten, der weder in Deutschland noch in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union seinen Sitz hat und einen ursprünglich in Deutschland befindlichen Betrieb außerhalb Deutschlands fortführt, zu verpflichten und ihm kraft Gesetzes aufzugeben, ursprünglich in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer zu bereits feststehenden, sich nach deutschem Arbeitsrecht richtenden, Bedingungen im Ausland, also sozusagen auf fremdem Territorium weiter zu beschäftigten.13 bb) Arbeitsvertragsstatut und § 613a BGB

Diese territorial orientierte Bewertung lässt sich auch durch das ursprünglich in Artt. 27, 30 EGBGB, heute in Art. 8 Rom I als Ausgangspunkt für die Frage der Anwendbarkeit nationalen Rechts auf ein Arbeitsverhältnis vorgesehene sog. Arbeitsvertragsstatut nicht aushebeln. Nach diesen Vorschriften unterliegen – mangels entsprechend getroffener Rechtswahl – Individualarbeitsverträge dem Recht desjenigen Staates, „in dem oder von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Arbeitsvertrages regelmäßig seine Arbeitsleistung erbringt“. Damit ist für die rein bipolare Vertragsbeziehung zwischen Arbeitneh13 So auch: Loritz, RdA 1987, S. 65, 84; Loritz, ZfA 1991, S. 585, 597 f.; Schaub in MünchKomm/ArbR, § 613a BGB, Rn. 14.

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mer und Arbeitgeber eine durchaus ebenso sachgerechte wie rechtlich haltbare Regelung statuiert. Sie ist indes weder gedacht noch geeignet, die Anwendbarkeit von Normen auf solche Konstellationen zu begründen, die nicht die Vertragsparteien selbst, sondern am Vertragsverhältnis unbeteiligte Dritte und deren Einbeziehung in eben dieses betreffen. Um eben eine solche Norm handelt es sich aber gerade bei § 613a BGB. Erst durch die in dieser Vorschrift enthaltene Rechtsfolgenanordnung wird der bis zur Übernahme des Betriebs an sich am Vertragsverhältnis völlig unbeteiligte Erwerber kraft gesetzlicher Anordnung Partei des Arbeitsvertrages – dem Anknüpfungspunkt des Arbeitsvertragsstatuts. So besehen verpflichtet § 613a BGB gerade nicht die Arbeitsvertragsparteien, sondern einen bis dato unbeteiligten Dritten. Darin liegt der Regelungsgehalt der Norm. Ihn gilt es nicht aus den Augen zu verlieren, wenn man in Erwägung zieht, für die Anwendung der Vorschrift auf das Arbeitsvertragsstatut abzustellen und somit – wie es Artt. 27, 30 EGBGB ebenso wie Art. 8 Rom I ausdrücklich voraussetzen – für die Anwendbarkeit der maßgeblichen gesetzlichen Regelungen das Bestehen eines Arbeitsvertrages im Verhältnis zu den Normunterworfenen erforderlich ist. Dies alles macht deutlich, dass eine auf Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB oder Art. 8 Abs. 2 Rom I gestützte Anwendung des § 613a BGB auf einen im Ausland ansässigen Dritten, der einen ins Ausland verlegten Betrieb fortführt, das Verhältnis zwischen Tatbestand und Rechtsfolge der als maßgeblich angesehenen gesetzlichen Regelungen aushebelt. Es gehört zur tatbestandlichen Voraussetzung, dass derjenige, der deutschem Recht unterworfen werden soll, Partei des Arbeitsvertrages ist. Lässt man jedoch die bestehenden Arbeitsverträge gemäß § 613a Abs. 1 BGB kraft gesetzlicher Anordnung auf den ausländischen Erwerber übergehen, würde man über diese Rechtsfolge erst die tatbestandliche Voraussetzung des Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB bzw. Art. 8 Rom I – nämlich ein bestehendes Vertragsverhältnis zwischen dem ausländischen Erwerber und dem Arbeitnehmer – schaffen. Dem folgend ist festzustellen, dass der Umstand, dass ein Arbeitsvertrag unter Berücksichtigung des Arbeitsvertragsstatuts dem deutschen Recht als solchem unterliegt, nichts darüber aussagt, welcher Rechtsordnung ein ausländischer „Erwerber“ unterliegt, der gerade nicht Partei des Arbeitsvertrages ist. Vielmehr setzt die Bestimmung des anzuwendenden Rechts nach Maßgabe des Arbeitsvertragsstatuts 241

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voraus, dass ein Vertragsverhältnis zwischen den Beteiligten, also auch dem Dritten bereits besteht. Das ist – wie ausgeführt – im Falle der Regelung des § 613a BGB, die erst den Eintritt des Dritten in das Arbeitsverhältnis anordnet, gerade nicht der Fall. Für das gefundene Ergebnis spricht auch die geradezu paradoxe Rechtsfolge der Anwendung des § 613a BGB in den hier behandelten Konstellationen. Gemäß Art. 8 Abs. 2 Rom I – bzw. für Altfälle gemäß Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB – ist mangels anderweitiger vertraglicher Regelungen für Arbeitsverhältnisse das Recht desjenigen Staates anwendbar, in dem oder aus dem der Arbeitnehmer gewöhnlich in der Erfüllung des Arbeitsvertrages seine Arbeit verrichtet. Hiervon ausgehend würden bei der Anwendung des § 613a BGB in der logischen Sekunde der Übernahme der für einen Betriebsübergang maßgeblichen Leitungsmacht sämtliche Voraussetzungen für eine Anknüpfung an das deutsche Recht entfallen. Denn im Moment der Aufnahme der Betriebstätigkeit sowie der Ausübung der Leitungsmacht befindet sich der Betrieb schon gar nicht mehr in Deutschland. Der Erfüllungsort läge auf Sicht im Ausland. Es käme unter Anwendung des § 613a BGB folglich mit dem Vollzug des grenzüberschreitenden Betriebsübergangs zu einem Statutenwechsel. Die Möglichkeit eines solchen Statutenwechsels ist für die Regelung des Art. 30 EGBGB allgemein anerkannt;14 bezogen auf Rom I besteht kein Anlass hierzu anderes zu vertreten. Bei einer Betriebsverlagerung in das Ausland verändert sich zwangsweise auch der Ort, an dem der Arbeitnehmer regelmäßig seine Arbeit verrichten wird.15 Mit diesem Wechsel geht ausweislich der Regelung des Art 8. Abs. 2 Rom I ein Wechsel des Erfüllungsortes und mit ihm ein Wechsel des anzuwendenden Rechts

14 Thüsing, NZA 2003, S. 1303; Martiny in MünchKomm/BGB, 5. Aufl., 2010, VO (EG) 593/2008 Art. 8 Individualarbeitsverträge, Rn. 73; Birk in MünchKomm/ArbR, 2. Aufl., 2000, § 20, Rn. 55 ff. 15 Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer der Arbeitsaufnahme zustimmt. Verweigert er diese, berechtigt dies den Veräußerer zur betriebsbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses, vgl. Wank in MünchKomm/ ArbR, 2. Aufl., 2000, § 125, Rn. 76 m.w.N.

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einher.16 Eine deutsche Rechtsnorm gemäß Art. 8 Abs. 2 Rom I bzw. Art. 30 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB wiederum mit der Begründung zur Anwendung zu bringen, dass der maßgebliche Erfüllungsort des Vertragsverhältnisses in Deutschland liegt, wenn die Anwendung der Norm gerade dazu führt, dass der Erfüllungsort mit sofortiger Wirkung für die Zukunft nicht mehr in Deutschland liegt, ist wenig überzeugend.17 Mit den beiden vorstehenden Argumenten ist zugleich das von den Befürwortern der Anwendbarkeit des § 613a BGB auf grenzüberschreitende Betriebsverlagerungen im Wesentlichen angeführte Ar­ gument des Vertrauensschutzes der Arbeitnehmer entkräftet. Das Bundesarbeitsgericht selbst hat festgestellt, dass das Vertrauen des Arbeitnehmers nicht weiter geschützt sein kann, als die Rechtsordnung die Anwendung von gesetzlichen Regelungen für sein Arbeitsverhältnis überhaupt zusagt. Oder wie es das Bundesarbeitsgericht formuliert: „Der Arbeitnehmer ist nicht unbillig beschwert, wenn er nicht mehr erhält, als das für sein Arbeitsverhältnis geltende Recht ihm gibt.“18 Das Arbeitsverhältnis wiederum hat dem Arbeitnehmer gegenüber einem Dritten, der in Deutschland keinen Betrieb und kein Unternehmen führt, zu keinem Zeitpunkt ein Recht eingeräumt. In jedem Fall aber hat es aufgrund der Zulässigkeit eines Statutenwechsels stets unter dem Vorbehalt gestanden, dass das deutsche Recht bei einer Verlagerung des regelmäßigen Erfüllungsortes ins Ausland gerade keine Anwendung (mehr) findet. 16 Als Erfüllungsort kann an dem bisherigen Betriebssitz festzuhalten sein, wenn dieser als alleiniger Erfüllungsort vertraglich festgeschrieben wurde und es an einer entsprechenden zustimmenden Erklärung des Arbeitnehmers fehlt. Dann stellt sich die Frage, ob das Arbeitsverhältnis überhaupt übergehen kann. Dies hat das Bundesarbeitsgericht bereits mit Urteil vom 20.4.1989 zu Recht verneint und die Frage, ob § 613a BGB auf den Erwerber überhaupt Anwendung findet offen gelassen (BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, NZA 1990, S. 32). Wenn man dies bejaht, dürfte die wegen der vertraglichen Regelung zum Erfüllungsort mangelnde Einsatzmöglichkeit den Erwerber jedenfalls zur Kündigung berechtigen, wobei sich die Frage stellt, auf der Grundlage welchen rechts sich dies beurteilt. 17 Ähnlich auch Koch, RIW 1984, S. 592, 594. 18 BAG v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, NZA 1993, S. 743 unter II.2. der Gründe.

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cc) Rechtsfolgen einer Anwendung des § 613a BGB

Auch ein Blick auf die Rechtsfolgen des § 613a BGB bei grenzüberschreitenden Betriebsübergängen bestätigt, dass die Nichtanwendung der Vorschrift auf Betriebsverlagerungen ins Ausland angezeigt ist. Dabei soll nicht verkannt werden, dass mit dieser Betrachtung das Pferd sprichwörtlich von hinten aufgezäumt wird. Gleichwohl wird man nicht völlig ausblenden können, dass im Ergebnis nicht praktikable, vor allem aber nicht durchsetzbare Rechtsfolgen deutlich darauf hinweisen, dass schon die Annahme der Anwendbarkeit der die Rechtsfolgen auslösenden Vorschrift für derart gelagerte Sachverhaltsgestaltungen unzutreffend und auch vom Normgeber gar nicht angedacht war. Betrachtet man die Rechtsfolgen bei unterstellter Anwendung des § 613a Abs. 1 BGB auf grenzüberschreitende Sachverhalte einmal näher, lässt sich zunächst – noch wenig überraschend – feststellen, dass der im Ausland ansässige und dort den Betrieb fortführende Dritte in die dem ursprünglich in Deutschland belegenen Betrieb zugeordneten Arbeitsverhältnisse kraft gesetzlicher Anordnung eintritt. Dieser Eintritt wiederum hat dann zur weiteren Konsequenz, dass – vermittelt über die nicht abdingbare Vorschrift des § 613a Abs. 1 BGB – zumindest Teile der deutschen Rechtsordnung innerhalb eines anderen Staates zwingend angewendet werden müssten. Dabei mag sich nicht nur die Frage nach der Fortgeltung gesetzlicher und vertraglicher Regelungen, wie vertraglich vereinbarten Wettbewerbsverboten, dem unabdingbaren deutschen Kündigungsschutzgesetzes oder dem deutschen Befristungsrecht stellen. Vor allem aber die in § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB angelegte zwingende Fortgeltung kollektivrechtlicher Normen, namentlich von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen, die subsidiär durch eine Transformation in individualrechtliche Regelungsgehalte sichergestellt ist, wird regelmäßig mit der ausländischen Rechtsordnung nicht überein zu bringen sein. Ihre Fortgeltung auf fremdem Territorium entspricht im Übrigen auch nicht der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts,19 das seit jeher einer Fortschreibung des Tarifund Betriebsverfassungsrechts auf fremdem Staatsgebiet stets unter 19 BAG v. 22.3.2007 – 7 ABR 34/98, NZA 2000, S. 1119; BAG v. 21.11.1996 – 2 AZR 832/95, NZA 97, S. 493; BAG v. 7.12.1989 – 2 AZR 228/89, NZA 1990, S. 658.

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Verweis auf das maßgebliche Territorialitätsprinzip eine Absage erteilt.20 Ebenso ist die prozessuale Durchsetzbarkeit etwaiger Rechte der Arbeitnehmer auf Basis deutscher Rechtsvorschriften gegen das im Ausland ansässige Unternehmen äußerst fraglich. Würde beispielsweise ein Schweizer Gericht ein Schweizer Unternehmen unter Hinweis auf die Übernahme eines Betriebs von Deutschland in die Schweiz zur Beschäftigung der dem Betrieb zugeordneten deutschen Arbeitsverhältnisse gemäß § 613a BGB verurteilen? Vor allem unter Berücksichtigung der Rechtsfolgenproblematik sowie deren prozessualer Durchsetzbarkeit mag man sich – gerade als (Bundes-)Richter – auch einmal die Frage stellen, wie denn in den vorliegend behandelten Konstellationen ein Unterrichtungsschreiben gemäß § 613a Abs. 5 BGB ausgestaltet sein müsste. Ein – insbesondere im Hinblick auf die bis weilen strenge Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht21 zur Gestaltung solcher Schreiben – eher aussichtsloses Unterfangen. c) Zwischenergebnis

Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass eine Anwendung des § 613a Abs. 1 BGB grundsätzlich ausscheidet, wenn ein Betrieb veräußert und ins Ausland verlagert wird. Der den Betrieb dort fortführende Erwerber tritt mithin nicht gemäß § 613a BGB in die bis zur Betriebsverlagerung dem Betrieb zugeordneten Arbeitsverhältnisse ein. 2. Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB

Hält man allerdings entgegen dem vorstehend gefundenen Ergebnis § 613a Abs. 1 BGB dem Grunde nach auf grenzüberschreitende Fallgestaltungen für anwendbar, ist in einem nächsten Schritt zu prüfen, ob der konkret gegebene Sachverhalt überhaupt einen Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB darstellt. Ein solcher liegt anerkannter20 Wie hier auch Feudner, NZA 1999, S. 1184. 21 BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 305/05, AP Nr. 312 zu § 613a BGB, BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303/05, AP Nr. 311 zu § 613a BGB; BAG v. 31.1.2008 – 8 AZR 1116/06, NZA 2008, S. 642; BAG v. 20.3.2008 – 8 AZR 1016/06, NZA 2008, S. 1354; BAG v. 24.7.2008 – 8 AZR 73/07, AP Nr. 351 zu § 613a BGB; BAG v. 22.1.2009, NZA 2009, S. 547.

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maßen vor, wenn ein Betrieb als wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit auf einen anderen Rechtsträger übergeht und von diesem unter Wahrung seiner Identität fortgeführt wird.22 Entsprechendes gilt für den Erwerb eines Betriebsteils. Auch hierbei ist zwingend erforderlich, dass die wirtschaftliche Einheit unbeschadet des Übergangs ihre Identität bewahrt.23 Ein gesetzlich angeordneter Eintritt des Erwerbers gemäß § 613a BGB in alle dem übertragenen Betrieb oder Betriebsteil zugeordneten Arbeitsverhältnisse ist nach Sinn und Zweck der Vorschrift nur dann angezeigt, wenn dieser einen funktionsfähigen Organisationszusammenhang als solchen übernimmt und so von dem Vorteil einer vom Vorgänger geschaffenen Betriebsorganisation profitiert.24 Der „Erwerber“ eines Betriebs oder Betriebteils muss sich folglich geradezu „ins gemachte Bett“ legen.25 Ohne die Nutzung der vom Vorgänger konkret geschaffenen Arbeitsorganisation kann es daher letztlich keinen Betriebsübergang geben.26 Zur Feststellung, ob eine abgrenzbare wirtschaftliche Einheit beim Erwerber ihre Identität bewahrt hat, bedarf es nach ständiger Rechtsprechung der Berücksichtigung sämtlicher, den betreffenden Vorgang kennzeichnender Tatsachen.27 Dabei ist – auch nach dem Urteil des

22 St. Rspr.: BAG v. 24.4.2008 – 8 AZR 268/07, NZA 2008, S. 1314, 1316; BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 1043/06, NZA 2007, S. 1431, 1433; BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, S. 93, 96; Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, 5. Aufl., 2009, § 613a BGB, Rn. 15. 23 BAG v. 26.8.1999 – 8 AZR 718/98, NZA 2000, S. 144, 145; BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, S. 93, 98; Willemsen/Hohenstatt/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 3. Aufl., 2008, G, Rn. 97. 24 Willemsen/Hohenstatt/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 3. Aufl., 2008, G, Rn. 99. 25 BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, NZA 2006, S. 1039, 1042. 26 St. Rspr., vgl. BAG v. 6.4.2006 – 8 AZR 249/04, NZA 2006, S. 1039, 1040; BAG v. 18.2.1999 – 8 AZR 485/97, NZA 1999, S. 648, 649; BAG v. 18.3.1999 – 8 AZR 196/98, NZA 1999, S. 869, 870; Willemsen/Hohenstatt/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 3. Aufl., 2008, G, Rn. 99. 27 Müller-Glöge in MünchKomm/BGB, 5. Aufl., 2009, § 613a BGB, Rn. 20.

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Europäischen Gerichtshofs in Sachen Klarenberg28 – nach wie vor von Bedeutung, ob die Tätigkeit des Betriebs oder Betriebsteils bei dem vermeintlichen Erwerber identitätswahrend fortgeführt wird.29 Allerdings kann ein Verlust der Identität nicht (mehr) alleine deshalb angenommen werden, weil der bisherige Betrieb oder Betriebsteil unter Fortbestand seiner Strukturen in einen bei dem Erwerber vorhandenen Betrieb eingegliedert wird. Entscheidend ist insoweit vielmehr, ob sich der „Erwerber“ auch nach der Eingliederung die ursprüngliche Arbeitsorganisation, insbesondere die Struktur der Einheit sowie ihre Organisation der betrieblichen Abläufe zu Eigen macht und diese fortführt.30 Eine wirtschaftliche Einheit wahrt demnach insbesondere dann nicht ihre Identität, wenn die Tätigkeiten aufgrund eines erheblich veränderten Konzepts und einer andersartigen Arbeits- oder Organisationsstruktur als wesentlich geändert angesehen werden müssen.31 Ein Betriebsübergang ist vor diesem Hintergrund bei nationalen, wie auch bei grenzüberschreitenden Übertragungen von Betriebsmitteln jedenfalls dann abzulehnen, wenn die betrieblichen Mittel nach ihrer Verbringung zum Erwerber in einer Weise in eine bereits bei diesem vorhandene betriebliche Organisation eingegliedert werden, die zur Auflösung des bisherigen betrieblichen Organisations- und Funktionszusammenhangs und der hieraus gewonnenen Wertschöpfung führt.32 28 EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07 (Dietmar Klarenberg/Ferrotron Technologies GmbH), NZA 2009, S. 251. 29 So auch das BAG nach dem Urteil in Sachen Klarenberg: BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 158/07, NZA 2009, 905; BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, S. 499; bereits vor dem Urteil des EuGH in Sachen Klarenberg: Vgl. BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 1043/06, NZA 2007, S. 1431, 1433; KRPfeiffer, 9. Aufl., 2009, § 613a BGB, Rn. 50. 30 Vgl. BAG nach dem Urteil in Sachen Klarenberg: BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 158/07, NZA 2009, 905; BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, S. 499; BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 676/97, NZA 1999, S. 420, 422; BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 295/95, NZA 1998, S. 251, 252; KR-Pfeiffer, 9. Aufl., 2009, § 613a BGB, Rn. 51 m.w.N. 31 BAG v. 4.5.2006 – 8 AZR 299/05, NZA 2006, S. 1096, 1098. 32 Vgl. zuletzt: BAG nach dem Urteil in Sachen Klarenberg: BAG v. 22.1.2009 – 8 AZR 158/07, NZA 2009, 905; BAG v. 17.12.2009 – 8 AZR 1019/08, NZA 2010, S. 499. Zuvor auch bereits: BAG v. 24.4.2008 – 8 AZR 268/07, NZA 2008, S. 1314, 1317; BAG v. 24.8.2006 – 8 AZR 317/05, NZA 2007, S. 1287, 1289; Moll/Cohnen/Tepass, MAH Arbeitsrecht, 2. Aufl., 2009, § 50, Rn. 60 m.w.N.

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Letzteres wird man im Falle von Verlagerungen von Betrieben ins Ausland indes im Streitfall nur zu prüfen haben,33 soweit nicht – wie teilweise in der Literatur vertreten34 – ungeachtet organisatorischer oder wertschöpferischer Aspekten bereits alleine die Tatsache den Untergang der Betriebsidentität nach sich zieht, dass der Betrieb sich nach dem Erwerb im Ausland befindet und dort fortgeführt wird. Weitgehend anerkannt ist diesbezüglich, dass nicht jedwede unwesentliche mit einer Betriebsübertragung verbundene Ortsveränderung dem Vorliegen eines Betriebsübergangs entgegensteht.35 Mit dem Bundesarbeitsgericht und der herrschenden Lehre ist von einem Verlust der Betriebsidentität und hieraus resultierend von dem Nichtvorliegen eines Betriebsübergangs allerdings dann auszugehen, wenn die örtliche Verlagerung unter Berücksichtigung des Betriebszwecks als erheblich angesehen werden muss.36 Daran schließt sich die Frage an, ob die Verlagerung des Arbeitsorts über die Grenze Deutschlands hinweg für sich genommen eine derart erhebliche Veränderung darstellen kann, dass von einer identitätswahrenden Verlagerung des Betriebs nicht mehr gesprochen werden kann. Erkennt man – zu Unrecht37 – eine Anwendbarkeit des § 613a BGB für grenzüberschreitende Betriebsverlagerungen an, wird man u.E. diese Frage konsequenter Weise verneinen müssen.38 Denn in diesem Fall kann keine andere Bewertung an33 Anders das LAG Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 17.9.2009 (11 Sa 40/09, BeckRS 2009, 74883), das diese Prüfung jedenfalls für die Frage der Wirksamkeit einer im Zusammenhang mit einer solchen Betriebsmittelveräußerung ins Ausland ausgesprochenen Kündigung für obsolet hält. 34 So Willemsen/Hohenstatt/Schweibert, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 3. Aufl., 2008, C, Rn. 34, die bei Verlagerungen von Betriebsmitteln ins Ausland zumindest von einer tatsächliche Vermutung ausgehen, dass eine Betriebsstilllegung und kein Betriebsübergang im Sinne von § 613a Abs. 1 BGB gegeben ist. 35 BAG v. 2.12.1999, AP Nr. 188 zu § 613a BGB; ErfK/Preis, 11. Aufl. 2011, § 613a BGB, Rn. 34 m.w.N. 36 BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, NZA 1988, S. 170; BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, NZA 1990, S.  32; ErfK/Preis, § 613a BGB, Rn. 34 und 56 jeweils m.w.N. 37 Siehe zuvor unter II. 38 So wohl auch das BAG: BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, NZA 1990, S. 32 und BAG v. 26.5.2011, Pressemitteilung 44/11, www.bundesarbeitsgericht.de.

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gezeigt sein, als bei einer im Zuge eines Betriebsübergangs innerstaatlich vollzogenen Verlagerung des Betriebssitzes. Maßgeblich muss dann vielmehr bleiben, ob im Einzelfall unter Berücksichtigung des Betriebszwecks, der räumlichen Entfernung des neuen Sitzes des Betriebs sowie der übrigen für eine Identitätswahrung maßgeblichen Prüfungskriterien noch von einer identitätswahrenden Fortführung des ursprünglich in Deutschland gelegenen Betriebs noch ausgegangen werden kann.39

III. Kündigungsrechtliche Aspekte grenzüberschreitender Betriebsübergänge Tritt im Falle einer Verlagerung eines Betriebs ins Ausland der Dritte in die dem Betrieb zugeordneten Arbeitsverhältnisse nicht gemäß § 613a BGB ein, führt dies unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 1 Abs. 1, 2 KSchG und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts an sich denknotwendig dazu, dass der Arbeitgeber die zu ihm bestehenden Arbeitsverhältnisse nach Abgabe des Betriebs betriebsbedingt im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG kündigen kann. Das sah das LAG Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 17. September 2009 in Nuancen anders.40 Grundsätzlich ging es auch davon aus, dass die Wirksamkeit der betriebsbedingten Kündigungen der dem verlagerten Betrieb zugeordneten Arbeitsverhältnisse davon abhängt, ob der den Betrieb fortführende Dritte in die Arbeitsverhältnisse gemäß § 613a BGB eingetreten ist. Dies wiederum hielt es – entgegen der hier vertretenen Auffassung – rechtlich grundsätzlich für möglich. Damit war rechtlich erheblich, ob im konkreten Fall ein Betriebsübergang i.S. des § 613a BGB tatsächlich gegeben war. Diese Frage ordnete des Gericht allerdings der Regelung des § 1 Abs. 2 KSchG und nicht § 613a Abs. 1, 4 BGB zu und vertrat die Auffassung, der Arbeitgeber müsse im Einzelnen darlegen, dass sich vorliegend 39 In diesem Sinne auch BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/02, NZA 2003, S. 93 (kein Betriebsübergang bei Betriebsverlagerung nach Österreich); LAG Düsseldorf v. 16.2.1995 – 12 Sa 1925/94, LAGE Nr. 45 zu § 613a BGB; LAG Hamburg v. 22.5.2003 – 8 Sa 29/03, AfP 2004, S. 377. 40 LAG Baden-Württemberg v. 17.9.2009 – 11 Sa 40/09, BeckRS 2009, 74883.

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kein Betriebsübergang ereignet habe. Diese Verteilung der Darlegungslast soll nach Auffassung des LAG Baden-Württemberg gelten, sobald der Arbeitnehmer auch nur behaupte, es habe sich ein Betriebsübergang im zeitlichen Zusammenhang mit der Kündigung vollzogen. Diese kündigungsschutzrechtliche Bewertung des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg ist mit den Regelungen der §§ 1 Abs. 2 KSchG, 613a Abs. 1, 4 BGB nicht vereinbar und steht u.E. im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Dieser Widerspruch hat jedoch auch den 8. Senat des Bundesarbeitsgerichts höchst selbst nicht davon abgehalten, mit gleichem Ergebnis in diesem Rechtsstreit zu befinden. Mit der Begründung des Urteils – soweit sie sich aus der lediglich vorliegenden Pressemitteilung ergibt – wagt sich der 8. Senat des Bundesarbeitsgericht rechtlich weiter vor als das Gericht der II. Instanz. Denn er scheint ausweislich der Pressemitteilung die Auffassung zu vertreten, dass es für die kündigungsrechtliche Bewertung des grenzüberschreitenden Sachverhalts gar nicht darauf ankomme, ob der den Betrieb im Ausland fortführende Dritte in die Rechte und Pflichten der dem Betrieb ursprünglich zugeordneten Arbeitsverhältnisse eintritt.41 Entscheidend ist nach seinem Dafürhalten allein, dass sich der Sachverhalt – ungeachtet hierdurch ausgelöster Rechtsfolgen – an sich als Betriebsübergang i.S. des § 613a BGB darstelle. Sei dies der Fall, könnten betriebsbedingte Kündigungen nicht sozial gerechtfertigt sein und damit nicht wirksam ausgesprochen werden, da sich Betriebsübergang und Betriebsstilllegung denknotwendig ausschlössen. Dass der klagende Arbeitnehmer die den Betrieb in der Schweiz führende Gesellschaft nicht auf Beschäftigung verklagt hat und auch das von dieser unstreitig unterbreitete Angebot auf Beschäftigung ablehnte, hielt das Bundesarbeitsgericht bei alledem offensichtlich rechtlich ebenso für unerheblich, wie die Frage, ob der ausländische Erwerber überhaupt in die dem verlagerten Betrieb zugeordneten Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer eingetreten ist. Auf der Grundlage der vorstehend unter II. vertretenen Rechtsansicht, wonach der einen ins Ausland verlagerten Betrieb führende Dritte nicht gemäß § 613a BGB in die dem Betrieb zugeordneten deut41 BAG v. 26.5.2011, Pressemitteilung 44/11, www.bundesarbeitsgericht.de: „Welche Ansprüche der klagende Arbeitnehmer gegen das Schweizer Unternehmen hat, war vorliegend nicht zu entscheiden.“

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schen Arbeitsverhältnisse eintritt, war an sich eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des LAG Baden-Württemberg nicht zwingend angezeigt, wenn es auch in Anbetracht seiner Ausführungen zum Verhältnis der §§ 1 Abs. 2 KSchG und 613a Abs. 4 BGB gleichwohl reizvoll gewesen wäre. Das jüngste und durchaus überraschende Urteil des 8. Senats vom 26. Mai 2011 macht dies nun sehr wohl erforderlich. Das Urteil II. Instanz gibt aber noch mehr Anlass, sich mit dem Urteil über die Revision zu befassen, was zu diesem Zeitpunkt mangels Vorliegen der Urteilsgründe leider nur unter Vorbehalt und gewissen Einschränkungen verbunden geschehen kann, aber nichts desto trotz nachfolgend erfolgen soll: 1. Dringendes betriebliches Erfordernis i.S. des § 1 Abs. 2 KSchG

Gemäß § 1 Abs. 2 KSchG ist eine Kündigung insbesondere dann sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers entgegenstehen, bedingt ist. Ein solches dringendes betriebliches Erfordernis liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vor, wenn zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs feststeht, dass keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr vorhanden ist.42 Dabei beantwortet sich die Frage der Beschäftigungsmöglichkeit zunächst nach dem Inhalt des Arbeitsvertrages.43 Tritt in der hier zur Diskussion stehenden Fallgestaltung der Erwerber nicht gemäß § 613a BGB in die dem Betrieb zugeordneten Arbeitsverhältnisse ein, entfällt mit der Verlagerung ins Ausland unter Berücksichtigung der arbeitsvertraglichen Verhältnisse bei dem bisherigen Arbeitgeber die Möglichkeit, die Arbeitnehmer im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes weiterzubeschäftigen. Er unterhält keinen Betrieb mehr und verfügt somit über keine Arbeitsplätze mehr, auf welchen er die Arbeitnehmer beschäftigen könnte. Der den Betrieb im Ausland führende Erwerber steht demgegenüber zu den Arbeitnehmern in keinem­Arbeitsverhältnis, da er insoweit nicht gemäß § 613a BGB eintritt­. Letzteres gilt unabhängig davon, ob der Übergang der Arbeitsverhältnisse an der fehlenden Anwendbarkeit der Vorschrift des 42 Vgl. grundlegend: BAG v. 30.5.1985 – 2 AZR 321/84, NZA 1986, S. 155. 43 BAG v. 20.4.1989, NZA 1990, S. 32.

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§ 613a BGB oder daran gescheitert ist, dass der Betrieb im Zuge seiner Verlagerung seine Identität verloren hat. Maßgeblich ist alleine, dass der Arbeitgeber und Veräußerer mangels Betrieb nicht mehr beschäftigen kann, der Erwerber des Betriebs es wiederum mangels arbeitsvertraglicher Beziehungen nicht muss. Insofern steht die gegebene Konstellation einer Betriebsstilllegung44 gleich, wenn sie auch keine Betriebsstilllegung im klassischen Sinne ist. Sieht man hingegen den ausländischen Erwerber in solchen Konstellationen an § 613a BGB gebunden und auch die Voraussetzungen eines Betriebsübergangs im Übrigen als gegeben an, tritt er in die Arbeitsverhältnisse gemäß § 613a BGB ein und schuldet als (neuer) Vertragsarbeitgeber die Weiterbeschäftigung, da die dem Betrieb zugehörigen Arbeitsplätze bei ihm fortbestehen. Eine betriebsbedingte Kündigung lässt sich dann gemäß § 1 Abs. 2 KSchG nicht rechtfertigen. So besehen gilt der vom Bundesarbeitsgericht aufgestellte Grund-​ satz,45 Betriebsstilllegung und Betriebsübergang schlössen sich gegenseitig immer aus, in dieser Absolutheit nicht. Denn wie ausgeführt, kann ein Sachverhalt zwar die Voraussetzungen eines Betriebsübergang i.S. des § 613a BGB erfüllen, ohne jedoch die Rechtsfolgen der Vorschrift im Verhältnis zum Erwerber auslösen zu können. Exakter wäre daher die Formulierung, dass sich eine Betriebsstilllegung und ein Betriebsübergang, in dessen Folge der Erwerber in die Rechte und Pflichten aus den zum Betrieb bestehenden Arbeitsverhältnisse eintritt,46 gegenseitig ausschließen. Sollte sich das Bundesarbeitsge44 Vgl. zur Betriebsstilllegung: BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, S. 93, 96; BAG v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, NZA 1997, S. 1050, 1051; BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, NZA 1988, S. 170, 171; BAG v. 6.11.1959 – 1 AZR 329/58, AP Nr. 15 zu § 13 KSchG; Bernsau/Dreher/ Hauck, 2. Aufl., 2008, § 613a BGB, Rn. 86. 45 Vgl. BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, NZA 1988, S. 170; BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, S. 93. 46 So an sich auch noch der 8. Senat in seinem Urteil vom 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, S. 93 in dem es unter III. 1.b)bb) (2) wörtlich ausführt: „Die Veräußerung des Betriebs allein ist – wie sich aus der Wertung des § 613a BGB ergibt – keine Stilllegung, weil die Identität des Betriebs gewahrt bleibt und lediglich ein Betriebsinhaberwechsel stattfindet“. Den Letztgenannten braucht es also, um eine Betriebsstilllegung auszuschließen.

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richt ausweislich seiner mit Spannung erwarteten Urteilsgründe zu der von ihm am 26. Mai 2011 gefällten Entscheidung tatsächlich dahingehend positionieren wollen, dass es auf die Frage des Eintritts eines potentiellen Erwerbers in die Arbeitsverhältnisse gemäß § 613a BGB nicht ankommt, darf man – die vorstehend dargestellte kündigungsschutzrechtliche Systematik vor Augen – auf die rechtliche Begründung durchaus gespannt sein. Mit einer gewissen Spannung dürfen im Übrigen auch die Begründungen des Bundesarbeitsgerichts für sein Abweichen von seiner bisherigen Rechtsprechung in einigen streiterheblichen Einzelfragen erwartet werden. So entsprach es bis dato der Rechtsprechung des 2. Senats, dass eine betriebsbedingte Kündigung im Falle einer Betriebsverlagerung selbst bei unterstellter Anwendbarkeit des § 613a BGB sehr wohl wirksam ist, soweit der gekündigte Arbeitnehmer ein Angebot des Dritten auf Beschäftigung am neuen Betriebsstandort ausschlägt oder er eine Klage auf Beschäftigung gegen ihn nicht erhoben hat.47 Dabei hat der 2. Senat sogar ausdrücklich klargestellt, dass in dieser Konstellation auch eine Unwirksamkeit der Kündigung gemäß § 613a Abs. 4 BGB ausscheidet. In dem jüngst vom 8. Senat entschiedenen Fall hatte der Kläger das Angebot des Schweizer Unternehmens abgelehnt, für dieses an deren Sitz tätig zu werden. Eine Klage auf Beschäftigung hatte er gegen das Schweizer Unternehmen ebenso wenig­erhoben. Beide hätte es an sich auf der Basis der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Begründung seiner Kündigungsschutzklage bedurft. Gleichwohl hat der 8. Senat des Bundesarbeitsgerichts trotz der Revision der Beklagten den Kündigungsschutzklagen stattgegeben.48 2. Darlegungslast im Spannungsverhältnis von § 1 Abs. 2 KSchG und § 613a Abs. 4 BGB

Geht man mit dem Bundesarbeitsgericht und dem LAG Baden-Württemberg davon aus, dass es im Falle eines Betriebsübergangs immer an einem die Kündigung sozial rechtfertigenden dringenden betrieblichen Erfordernis i.S. des § 1 Abs. 2 KSchG fehlt, zwingt dies zur Entschei47 BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, NZA 1990, S. 32. 48 BAG v. 26.5.2011, Pressemitteilung 44/11, www.bundesarbeitsgericht.de.

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dung der Frage, welche Partei die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen des Betriebsübergangs trifft. Das LAG Baden-Württemberg jedenfalls sieht sie – wie nachstehend zu zeigen sein wird, zu Unrecht – alleine beim Arbeitgeber.49 Nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen orientiert sich die Beweislastverteilung an den Geboten der Gerechtigkeit, der Billigkeit und der prozessualen Waffengleichheit. Danach trägt in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung grundsätzlich der Anspruchsteller die Beweis­ last für die rechtsbegründenden Tatbestandsmerkmale, der Anspruchs­gegner für die rechtshindernden, rechtsvernichtenden und rechtshemmenden Merkmale.50 Die Einordnung der Tatbestandsmerkmale ergibt sich dabei jeweils aus der Qualifizierung des materiellen Rechts. Vereinfacht gesprochen: Jede Partei trägt die Darlegungsund Beweislast für die für sie günstigen Tatsachen. Hierauf aufsetzend ist anerkannt, dass der Arbeitnehmer, der sich auf die Unwirksamkeit der Kündigung beruft, weil sie „wegen“ eines Betriebsübergangs ausgesprochen wurde, die Voraussetzungen des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB darzulegen hat.51 Er muss, um die Anwendbarkeit der Vorschrift zu belegen, sowohl das Vorliegen eines Betriebsübergangs darlegen als auch die Tatsache, dass die Kündigung „wegen“ diesem Betriebsübergang ausgesprochen wurde. Zu einer abweichenden Darlegungs- und Beweislast gelangt man – anders als das LAG Baden-Württemberg meint – auch dann nicht, wenn man die Frage des Betriebsübergangs in die Prüfung der sozialen Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG verlagert. Im Kündigungsschutzverfahren hat der Arbeitgeber gemäß der Beweislastregelung des § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Tatsachen darzulegen, die die Kündigung bedingen. Ihm obliegt dementsprechend die Darlegung der unternehmerischen Entscheidung, die zum Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit für den von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmer führt. Weder nach der Regelung des § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG noch nach den allgemeinen prozessualen Regelungen zur Darlegungs- und 49 LAG Baden-Württemberg v. 17.9.2009 – 11 Sa 40/09, BeckRS 2009, 74883. 50 Prütting in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl., 2008, § 286, Rn. 111. 51 BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, S. 93, 96; BAG v. 9.2.1994 – 2 AZR 666/93, NJW 1995, S. 75, 76.

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Beweislast hat er solche Tatsachen darzulegen, die, wie beispielsweise ein Betriebsübergang, die Kündigung gerade nicht bedingen. Solche Tatsachen darzulegen ist nach den vorbeschriebenen Grundsätzen alleine Teil des Pflichtenkreises des Arbeitnehmers, da ihr Vorliegen für dessen Rechtsposition günstig ist. Trägt der Arbeitgeber beispielsweise unbestritten vor, dass er nach Umsetzung einer von ihm getroffenen unternehmerischen Entscheidung keinen Betrieb mehr in Deutschland unterhält und er nicht einmal­mehr über Betriebsmittel verfügt, hat er den Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeiten zureichend dargelegt. Sodann ist es auf Grundlage des § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG sowie der vorzitierten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 613a Abs. 4 BGB an dem gekündigten Arbeitnehmer, die Voraussetzungen eines Betriebsübergangs, der dem Vorliegen des an sich dargelegten dringenden betrieblichen Erfordernisses entgegensteht, darzulegen und ggf. zu beweisen. Dass die vorstehend festgestellte Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zutreffend ist, ergibt sich auch unmittelbar aus dem Verhältnis der Regelungen des § 1 Abs. 2 KSchG und des § 613a Abs. 1, 4 BGB. Wenn – wie das LAG Baden-Württemberg vertritt – schon der bloße pauschale Hinweis des Arbeitnehmers, es läge ein Betriebsübergang vor, dazu führen würde, dass der Arbeitgeber, der eine betriebsbedingte Kündigung wegen einer Betriebsstilllegung ausgesprochen hat, im Einzelnen darlegen und beweisen muss, dass ein solcher Betriebsübergang nicht stattgefunden hat, mag man sich fragen, wozu es der Vorschrift des § 613a Abs. 4 BGB dann noch bedarf. Im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes bliebe bei dieser Sichtweise kein Anwendungsfall mehr übrig, in dem eine Kündigung „wegen“ eines Betriebsübergangs gemäß § 613a Abs. 4 BGB unwirksam sein könnte. Denn legt der Arbeitgeber zur sozialen Rechtfertigung im Rahmen des § 1 Abs. 2 KSchG der von ihm ausgesprochenen Kündigung dar, dass ein Betriebsübergang nicht stattgefunden hat, kommt eine Unwirksamkeit der Kündigung „wegen“ eines Betriebsübergangs schon denknotwendig nicht in Betracht. Zur Prüfung, ob die Kündigung gemäß § 613a Abs. 4 BGB unwirksam ist, gelangt man erst gar nicht, weil es bereits an einem die Anwendbarkeit der Vorschrift erst auslösenden Betriebsübergang bewiesenermaßen fehlt. Gelingt dem Arbeitgeber die Darlegung, dass ein Betriebsübergang nicht vorliegt, indes nicht, wäre die Kündigung nach dem Verständnis des LAG Ba255

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den-Württemberg mangels Darlegung eines dringenden betrieblichen Erfordernis bereits gemäß § 1 Abs. 2 KSchG unwirksam. Auf eine Prüfung des Unwirksamkeitsgrundes gemäß § 613a Abs. 4 BGB käme es auch in diesem Fall nicht an. Das ist mit den in den Absätzen 1 und 4 des § 613a BGB angelegten Wertungen, wonach der für den Arbeitnehmer positive Umstand des Betriebsübergangs durch ihn darzulegen und zu beweisen ist, nicht vereinbar.

IV. Zusammenfassung der Ergebnisse Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass § 613a BGB auf grenzüberschreitende Sachverhalte keine Anwendung findet. Wird ein ursprünglich in Deutschland unterhaltener Betrieb ins Ausland verlagert und dort von einem Dritten fortbetrieben, tritt dieser nicht in die Rechte und Pflichten aus den dem Betrieb in Deutschland zugeordneten Arbeitsverhältnissen ein. Der deutsche Arbeitgeber ist in der Folge berechtigt, die dem Betrieb zugeordneten Arbeitsverhältnisse betriebsbedingt i.S. des § 1 Abs. 2 KSchG zu kündigen, da eine Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung in dem zu ihm bestehenden Arbeitsverhältnis dauerhaft entfallen ist. Soweit der Arbeitnehmer in solchen Konstellationen der ihm gegenüber ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigung entgegenhält, dass der Betrieb nicht stillgelegt wurde, sondern sich ein Betriebsübergang vollzogen hat, so obliegt ihm die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines Betriebsübergangs, in dessen Rechtsfolge ein Dritter in sein Arbeitsverhältnis eingetreten ist.

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Anhang: Zum 100jährigen Bestehen des Königlichen Gewerbegerichts Cöln

3um

100jäbrigen Hefteben bes

Königlieben öewerbegerid:Jts

Coln 1811 ~ 1911 4.

J. P. Bad)am in COin. 67411

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ie Ja)Jr)Junbertfeler bes König!. 6ewerbegerid}ts Cöln gibt UeranlaiJung, einen Blick zurfickzuwerfen auf bie entfte)Jung ber 6ewerbegerid}te im allgemeinen unb auf bie entfte)Jung unb entwicklung bes 6ewerbegerid}ts Cöln im befonberen. Die 6ewerbegerid}te Onb franzCiOfd:Jen Urfprungs. His burd} bas 6efe1J oom 17. Juni 1791 in frankreid} alle 6ewerbekorporationen, melfterfd}aften unb Innungen wegen ber ffiifibraud}e, bie mit i)Jnen oerbunben waren, befeitigt wurben unb man eine allgemeine frei)Jeit bes fjanbels unb ber 6ewerbe einffi)Jrte, mad}ten OdJ balb bie ßad}teile geltenb, bie eine fo plöfflid}e, oöllige Ueranberung bes HeftelJenben ftets )Jerbelffil}ren muij. Die gewal}rte freil}eit l}atte Ungebunbenl}eit unb 3ügello0gkeit zur folge, weld}e ber lnbuftrie unb bem fjanbwerk nad}teiliger werben muijten, als ber frül}ere 3wang. ftngeOd}ts ber oerwirrenben Unorbnung unb ber unoerkennbaren Sd}aben erad)tete man balb bei aller Sd}onung ber gewal}rten freil}eit bod} wieber gerollTe etnfd}rankungen für nötig; unb ro wurbe burd} 6efett oom 22. 6er= minal XI (12. ftpril 1803) beftimmt, bafi an Orten, wo bie Regierung es fOr gut flnbe, Ratskammern ffir 6ewerbe, fabriken, Kfinfte unb fjanbwerke errid}tet werben könnten. ll}re tatigkeit rolle barln be= ftel}en, ben 3uftanb ber lobuftrie rowie bes fjanbels zu beobad}ten unb gutad}tlid}e, auf beren fjebung zielenbe Uorfd}lage zu mad}en. Das 6efett entl}ielt ferner Uorfd}riften, weld}e beftlmmt waren, ben Vereinigungen ber ftrbeiter zur erzwingung ungered}ter forberungen zu begegnen, bas Uerl}altnis ber meifter zu ben fel}rlingen unb bas ber ftrbelter gegenOber ben ftrbeitgebem zu regeln unb bas eigenturn ber fabrikzeld}en (ffiarken) zu Od}ern. Weiter orbnete bas 6efe1J an, bafi kleinere Streitfälle zwifd}en ftrbeitern unb fel}rlingen einer• . 3 .

felts, Fabrikanten, Gewerbetreibenben unb fjanbwerksmeiftern anber= felts in Paris oor bem Polizeiprafekten, in anbenm Stabten oor bem öenerat..Polizeikommirfar unb in Orten, wo es aud) fold)e nid)t gabe, oor bem malre unb berfen Beigeorbneten "'!r~anbelt wOrben. Durd) biefe Ratskammern war aber nur ber erfte Sd)ritt zu ~iner georbneten Verwaltung getan. Die Beftimmung, wonad) ben genannten Beamten bie tntfd)eibungen ocm kleineren Streitfallen zwifd)en Fabrikanten, fjanbwerkern unb flrb,eitern Obertragen wurbe, war infofern nod) red)t mangel~aft als bi1efe Beamten nid)t Ober genogenbe fad)kenntniffe oerfOgten, um a~irklid) eine fad}gemafie unb befriebigenbe trlebigung ber Streitfalle zu ermOglid)en. flllent.. l)alben in ben lnbuftrieftabten wurbe bas Unzulanglfd)e einer fold)en Regelung oerfpürt, befonbers in fyon mit feiner ~od)entwickelten, blü~enben Seibeninbuftrie. Dort ~atte bis 17911 bas "Tribunal Commun" (6emeine·6erid)t) beftanben, bas, aus flnge~i~rigen ber Seibeninbuftrie zufammengefeijt, bazu beftimmt gewefen war, alle Streitigkeiten zwifd)en ben Seibenfabrikanten unb i~ren flrbeitern auf gütlid)em 1Dege zu fd)lid)ten. His ßapoleon im Ja~1re 1805 in fyon wellte, rid)tete bie fjan belskammer an i~n bie Bitte, '!r möge i~r bas "Tribunal Commun", bas burd) 6efeij oon 1791 abgertti:Jafft war, wieber geben ober burd) eine a~nlid)e tinrid)tung erfe~fen. ßapoleon fagte bie erfüllung bes 1Dunfd)es zu, unb unterm 18. marz 1806 erfd)ien ein öefeij, weld)es ben Rat ber 6ewerbeoerrtanbigen ("conseil be prub' l}ommes") zu fyon Ins feben rief. Diefes 6iefett wurbe erganzt burd) l)as Dekret oom 3. Juli 1806. Der Rat wa1r eingefeijt, zunad)ft um im Wege bes Vergleld)s ble kleinen 3wifte beizulegen, weld)e OdJ taglid) zwlfd)en ben Fabrikanten unb flrbeitern ober zwifd)en ben fjanb· werksmelftern unb 6efellen ober re~rlingen er~eben. Der Rat, ber aus 9 e~renamtlid) Wirkenben ffiitgliebern, 5 Kauf= leuten•fabrikanten unb 4 1Derkftattmeiftem beftanb, zernel in ein befonberes unb ein allgemeines ober fjauptbureau. Das befonbere, aus einem Fabrikanten unb einem 1Derk~melfter zufammengefelfte, war bas Vergleld)sbureau (bureau partlculfer), oor weld)em lldJ ble ftreitenben Parteien perronlld) elnzunnben !gatten. 6etang eine Ver· mittlung nid}t, fo oerwies bas Vergleid)sbureau, Infofern ber ftreitlge Betrag 60 francs nld)t überftleg, bie Sad~e oor bas fjauptbureau • 4 .

(bureau g~n~ral), roeld)es bis zu blefer Summe ol:me form unb Koften in letfter tn(tanz zu entfd)eiben )Jatte. Jebe Sad)e, beren Streitgegen= (tanb bie Summe von 60 francs fiber(tieg, mufite, roenn Oe nid)t burd) Uergleid) gefd)lid)tet werben konnte, vor bas ljanbelsgerid)t ober bie ronrt zurtanbigen 6erid)te gebrad)t werben. fluijerbem fielen bem 6erid)te folgenbe Hufgaben zu: t. es )Jatte bie Obertretungen gegen bas 6efetJ vom 12. ftpril 1&30, ferner bie zum ßad)teile von fabrikanten an Urftoffen verübten entroenbungen ber ftrbeiter unb bie von ben färbern begangenen Veruntreuungen fertzurtellen, 2. es roar berufen, bas eigenturn ber "De(Ons" zu fid)ern; zu biefem 3roecke muijte, bamit eine Klage auf 3uerkennung bes eigentums an einem "DefOn" er)Joben werben konnte, ein murter (ftbbruck, ftb= bilbung unb bergt.) im ftrd)iv bes Rats )Jinterlegt werben. es follte 3. eine Kontrolle Ober bie Quittungs= unb ftrbeitsbfid)er ffii:Jren, 4. ein genaues Uerzeid)nis ber befte)Jenben IDebftfi)Jle unb ber flrbeiter, bie in ber fabrik befd)clftigt werben, anlegen, unb biefe ßad)rid)ten, ro oft es barum erfud)t rofirbe, ber ljanbelskammer mitteilen. 3ur einzielJung ber nötigen erkunbigungen waren bie 6eroerbe"' treibeoben ermädJtigt, in ben fabriken unb lDerkrtatten jäi:JrlldJ eine ober zroei BeOdJtigungen vorzune)Jmen. lDir fe)Jen aifo, baij llem Rate ller 6eroerbeverrtanbigen neben feiner teils zivil=, teils rtrafrid)teriid)en Tatigkeit, aud) eine verroaltenbe, insbefonbere zum Sd)uije bes inbuftriellen eigentums, zugeroteren roar. Se)Jr bezeid)nenb für llie bamalige ftuffarrung ber Tatigkeit lles Conseils Onb einzelne Stellen aus ber Rebe, bie bei ber Ueröffentiid)ung bes 6efetfes im corps l~glslative am 1t. marz 1806 ge)Jalten rourbe; Oe fei bes)Jalb )Jier im fluszuge rotellergegeben: "Diq IDad)famkqlt, mqJd)q l)tnpd)tlld) bH BqaurPd)tlgung bqr ffianu• fakturqn unb 6qmqrbq auszuübqn, blq 3umlbqrl)anblungqn, blq zu untqr.. brüdtqn pnb, qrforbern nod) anbqrq mittel als blq bqr allgemeinen l)qr• maltung bes Reld)s unb felbft blq bqr befonbqren StabtDermaltung, aud) anberq 'Rgenten, als ble bH gemlll)nJid)qn PoJizql. Die zu ll!fqnbqn 'Rufgabqn qrl)elfd)qn Kqnntnlffq, mqld)q nur fabrl• kantqn obqr tl)qrkmqlftqr in Pd) pqrqJnlgqn kllnnqn. Slq forbqrn nqbqn unbqugfamqr Strqngq aud) qinll 'Rrt Don D3tqrJid)qr 6ütq, mqld)q blq Strqngq bqs Rld)tqrs mJibqrt, zumqJiqn aud) ßad)pd)t qrJaubt, ftds 3u· trauqn ermqdtt. . 5 .

Uor bvm Ja~rv 1789 wurbcm blqfq Uvrrld)tungvn burd) bqfonbczrq Sd)au•Rid)tqr obvr Synblkvn bqr 6vmczlnfd)aftvn ausgvObt. Sqlne~ JßaJqrtat ~abqn qs fOr gut bczfunbvn, pq be~n 6qwqrbqoqr[tanblgvn ZU Obqrtragq·n, we~td)cz tczlls untqr bvn fabrlkantczn, tdts untczr bczn Wqrkmvlftqrn zu wl!~lczn Pnb. Dlcz errld)tung qJnczr ßrt oon famiJiqngvrld)t Im Slnnv bczr Bfirgvr oon Cyon 1ft czs, worum es pd) ~anbczlt. es wirb l~m czlnq bczlna~q ~ausJid)q unb bqnnod) fqJqrJid)cz Jßaglftratur anoqrtraut. Siq fq~qn, baft bas 6qfqiJ, bas Iei) l~nqn oorlvgq, qJnq nqucz ein• rld)tung fd)afft, bqffqr als blq bqr Sd)lqbsrld)tczr unb Synblkqn, qbqnfo oortczll~aft als blqfq unb mit kczlnqm l~rczr nad)tcziJq bq~aftczt. Dlczfcz mmq elnrld)tung wirb nfiiJlld)cz entwfirfcz oczrwlrklld)czn, nqucz oorbe~rczltczn; ncz wirb in bqr 6qgvnwart bczrqlts 6utqs Ins (qbqn trqtqn laffczn unb für ble 3ukunft nod) mq~rqrqs bqgrünbqn."

nid)t bi~ Ort~, wo ~in Rat b~r 6~w~rb~= ins (~b~n g~ruf~n w~rb~n follt~. ronb~rn ~s b~ftimmt~. bafi kOnftig in all~n fabrikftilbt~n. wo ~s b~r R~gi~rung zw~ckmilfiig ~rfd)~in~n w~rb~. ~in Rat b~r 6~w~rb~v~rftilnbig~n im lD~g~ b~r Das

6~f~1J b~z~idm~t~

v~rftilnbig~n

U~rorbnung ~rrid)t~t w~rb~n kOnn~. ein~ erw~it~rung ~rl)i~lt b~r

b~m 6~f~~

von 1806 zugrunb~ ti~g~nb~ 6~bank~ burd) bi~ D~kr~t~ vom 11. Juli 1809 unb 2. ftuguft 1810. Tlad) bl~f~n foltt~ b~r Rat b~r 6~w~rb~P~rftilnbig~n nur aus mard)anbs= fabricants (Kaufl~ut~n=fabrikanten), d)efs b'atellers (lDerkmeiftern), contr~·maitres (6~g~nm~ift~rn), t~inturi~rs (filrb~rn), ouPri~rs pat~nt~s

(g~werbeft~u~rpntd}tlg~n kant~n l)att~n imm~r ~in

ftrbeitern) b~ftel)~n. Die Kaufl~ute=fabri= ffiitgtieb m~l)r im Rat~ als bi~ lD~rkm~ift~r.

6eg~nm~ift~r. filrb~r ob~r pat~nti~rt~n ftrbeit~r.

Unt~r b~r B~n~nnung

Kaufmann=fabrikant v~rrtel)t man b~nj~nig~n. b~r ~ntw~b~r Stoff~ l)~r= fteltt, P~rarb~it~t Ober 0~ Perarb~it~n Jllfif. um 0~ umg~ftaltet ZU P~r= kauf~n. D~r Klaffe b~r g~wOI)nlid)~n ftrb~iter war k~in~ Vertretung ~ing~raumt, bag~g~n war~n ID~rkm~ift~r ufw. b~ruf~n. w~il Oe als ffiltt~lsp~rron~n zwifd)~n ftrbelt~rn unb fabrikant~n g~eign~t erfd)i~n~n. in ~lnz~ln~n Str~itfillt~n. b~i b~n~n ll)re St~ttung zu ~in~m ~inz~lnen Fabrikanten nid)t in Betrad)t kam, bie lnt~r~rren b~ib~r Klaff~n zu Pertr~t~n. lDal)lb~r~d)tigt waren nur bi~j~nig~n Kaufleut~=fabrikanten, lD~rkftattm~ift~r. 6egenmeift~r. filrb~r unb ftrb~iter, bie OdJ in ~in auf b~m Stabtl)aufe ausg~l~gt~s R~gift~r ~infd)reib~n ll~fi~n. Di~ eintragung ~rfolgt~ nur g~g~n Uorz~igung bes 16~w~rb~fd)~ln~s (pat~nte). Di~ falli~rt~n war~n ausgefd)loff~n. ljinOd)tlid) b~r Be= . 6 •

f3bigung warqn nid)t wiffqn[d)aftJid)q ftusbilbung, ronbqrn tabqllo[qr urd) !>as 6eroerbegerid)t geroabtt un!> bebarf !>er Be[tätigung !>urd) !>en Regierungspräfjbenten; !>er §54 bes Reid)sge[el}es fättt roeg, bagegen errid)tung von Uergleid)skammern unb ßufbringung ber Ko[ten !>urd) bie Gewerbetreibenben [tatt burd) !>ie 6emeinben, bie nur !>ie 6e[d)3ftsräume zu [fetten IJaben. . 27 .

Dem IDunfd)e, es bezüglid) ber IDa~l bes VorOffenben beim alten zu tarren, war alfo nid)t entrprod)en worben unb es regte bas Gewerbe= gerid)t Cöln nad) trlafi bes fanbesgefeijes bei ben übrigen r~einHd)en 6ewerbegerid)ten an, jeijt nod) bie trrid)tung von 6ewerbegerid)ten auf 6runb bes Reid)sgefeijes anzuftreben: bas fanbesgefeff ~abe ben fjauptwunfct:J, auf IDa~l bes Uorßl}enben aus ber ffiitte bes 6erid)ts, be= feitigt, baburd) werbe eine bewa~rte C~araktereigentümlid)keit von i~m ganz in frage geftellt, bas Reicnsgefeff tarre in § 54 bie Hb~altung eines Uergleid)stermins burct:J ben VorOffenben zu, bas verbürge ein gutes frgebnis, bie Koftenfrage fei aud) von Bebeutung. Diefer Stanb= punkt wurbe von ben übrigen 6ewerbegerid)ten nid)t geteilt, es würben ßd) aud) in 3ukunft manner Onben, weld)e i~ren Gewerbebetrieb auf= gegeben ~atten, aus biefen könnten Uorßijenbe berufen werben, bie bie zur feitung ber Uer~anblungen erwünfd)ten fad)kenntnirre befi!fien, wid)tiger fei, baij bas fanbesgefeff bie ro fegensreid)e tinrid)tung ber Uergleid)skammern ~abe befte~en tarren, biefe Beibe~altung ber Uer= gleid)skammern fei wid)tiger als bie frage ber Hufbringung ber Koften burd) bie 6ewerbetreibenben, bie ja aud) ben ßuffen von ber tin= rid)tung Mtten. Uom 6ewerbegerid)t Cöln wurben barauf keine weiteren Sd)ritte zu einer ftnberung unternommen. Das 6efe1f vom 11. Juli 1&91 Onbet nur auf ble 6ewerbegerid)te in Barmen, Cöln, Crefelb, Dürretborf, tlberfelb, m. 6labbad), fennep, ffiül~eim a. R~ .• Remfd)eib unb Solingen Jlnwenbung. Das König!. 6ewerbegerid)t in Jlad)en wurbe, weil es bie burd) ben § &0 geftellten Bebingungen nid)t erfüllte, am 1. Jlpril 1&92 aufge~oben, an feine Stelle wurbe mit biefem 3eitpunkte ein 6emeinbe=6ewerbegerid)t errid)tet. Die Jlngabe in ber Denkfd)rift zum 100 ja~rigen Befte~en bes König= lld)en 6ewerbegerid)ts Crefelb, bas König!. 6ewerbegerid)t Jlad)en fei me~rere Ja~re vor bem 1. Jlpril 1&92 aufge~oben worben, ift nict:Jt zutreffenb. Die Benennung "Königlid)es 6ewerbegerid)t" Ht ein Sonber= red)t ber genannten ze~n r~einHd)en 6ewerbegerld)te, berren ßd) in Preuijen bie auf 6runb bes Reid)sgefeijes ins feben gerufenen 6e.. werbegerid)te nid)t erfreuen. Obfd)on Oe "im ßamen bes KOnigs" red)tfpred)en, ift i~nen unterfagt, ßd) als "KOniglid)e 6ewerbegerid)te" zu bezeid)nen. (trlaij bes preuijifd)en ffiinifters für fjanbel unb Gewerbe unb bes Jurtizminifters vom 31. Oktober 1&92.) Jluf 6runb ber fanbes= • 28 •

gefet}e befteben neben ben 10 Königl. Geroerbegerid)ten in ber Rb ein= prooinz nod) 5 Kaiferl. Geroerbegerid)te in ben bereits genannten elfafi•lotbringifd)en Stallten, ferner 3 Geroerbegerid)te in ben ljanfa .. ft3bten unb einige Berggeroerbegerid)te. Die übrigen Geroerbegerid)te im Deutrd)en Reid)e finb oon ben Gemeinben errid)tet. für Cöln rourbe oor crlafi bes burd) § 13 bes (anbesgefeffes oor.. gefd)riebenen Regulatios oon ber Regierung bie Pr{jfung ber frage angeregt, ob bie örtlid)e flbgrenzung bes Bezirks bes l}iefjgen Gerid)ts ben Verbaltniffen entfpred)e, namentlid) ob ber flnfd)Jufi anftofienber Gemeinben an biefen Bezirk roünfd)ensroert erfd)eine. Das Gewerbe= gerid)t bat bamals empfol}len, bie 3uftänbigkeit bes Geroerbegerid)ts nur auf ben Stalltbezirk Cöln zu erftrecken, unb bie Stabtoerorbneten= VerrammJung bat fid) ben IDünfd)en bes Geroerbegerid)ts angefd)loffen. für bie Befd)ränkung bes örtlid)en Bezirks roar befonbers geltenb ge= mad)t roorben, bafi ber Stabtgemeinbebezirk für Iid) allein eine fo grofie flusbel}nung l}abe unb ro oiele geroerblid)e flrbeitsrtatten einfd)liefie, bafi bas Gerid)t bei ber ol}nebin beoorftebenben erroeiterung bes Kreifes ber Pnid)ten unb Befugniffe mit flrbeiten zu fel}r überlaftet fein roürbe, roenn eine flufnabme anftofienber Gemeinben ftattfjnbe. Der bamalige Präfjbent bes Geroerbegerid)ts, Stabtoerorbneter lj. Rings, fül}rte in ber Stabtoerorbnetenfjffung nod) aus, bas Geroerbegerid)t babe fid) mit Kalk oerrtanbigt, bafi es beffer roäre, roenn Kalk oon Cöln abgetrennt roerbe, entfd)eibenb fei bie bem Geroerbegerid)te zugeroiefene Tatigkeit als cinigungsamt geroefen. ßad) bem am 21. februar 1S92 erlaffenen Regulatio umfafite bas Geroerbegerid)t Cöln nur ben Gemeinbebezirk ber Stabt Cöln; Kalk rourbe bem Geroerbegerid)t ffiüll}eim zugeteilt, bie übrigen Bürger= meiftereien bes fanbkrelfes Cöln gebörten keinem Geroerbegerid)t mebr an. Das Geroerbegerid)t beftanb aus einem Vorfiffenben unb einem Stelloertr~ter, ferner aus 20 flrbeitgeber= unb 20 flrbeitnebmer=Belfiffern, ble ben oerfd)lebenften Berufsgruppen angebOren mufiten. faft ol}ne Unterbred)ung ging im flpril 1S92 bie tatigkeit bes Gerid)ts oon bem alten auf bas neue Kollegium Ober. ßeue Saffungen für bas Geroerbegerid)t traten am t. flpril tS99 burd) Regulatio oom 22. Juni 1S9S in Kraft. Durd) blefe rourbe bie 3abl ber Beififfer oon 40 auf 52 eriJObt, ferner bie bisber oorgefd)riebene • 29 .

tinteilung ber IDabler in zebn Berufsgruppen aufgeboben unb ftatt berren bas einfad)e mebrbeits=IDabloerfabren eingefübrt. flud) erfubr bie erlangung ber IDablbefd)einigung für bie flrbeitnebmer baburd) eine Dereinfad)ung, balf bie Teilnabme an ber IDabl nur oon ber Bei= bringung einer flrbeitsbefd)einigung bes flrbeitgebers ober ber PoUzei= bel}örbe abbl!ngig gemad)t wurbe, wl!brenb bisber eine Befd)einigung l>er Polizeibebt;rbe zur tintragung in bie IDl!l}lerlifte erforberlid) ge= wefen war. ferner fiel bie flufftellung oon IDablerliften fort, aud} wurben l>ie IDablen, bie bis babin an einer einzigen IDal}lftelle ftatt= 'finben mufften, l>urd) bie Bilbung oon IDablbezirken wefentlid) erleid)tert. 1m Jabre 1898 wurbe bie flusbebnung bes Gewerbegerid)ts Cöln auf ben fanbkreis Cöln angeregt; für bie flrbeiter babe fid:J bas Bebürfnis .l}erausgeftellt, Streitigkeiten, weld)e zur 3uftl!nbigkeit bes Gewerbe= gerid)ts gel}örten, aud) oon einem fold)en oerbanbeln zu larren. Durd} bie flusbebnung werbe aud) bie IDirkfamkeit bes Gewerbegerid)ts als einigungsamt unb zur flbgabe oon Gutad)ten geförbert. Durd) Regulatio oom 14. Dezember 1900 wurbe bierauf ber Bezirk bes Gerid)ts oom 1. flpril1901 ab auf ben fanbkreis Cöln mit flusnabme ber Stabt Kalk unb ber Gemeinbe Vingft ausgebebnt; zugleid) wurbe bie 3al}l ber Bei= fl!fer um 4 oermel}rt unb bie flmtsbauer ller Beiflijer oon 4 auf 6 Jabre erMbt, oon llenen alle 3 Jabre bie ljalfte ausfd)ieb. Von grunbfl!!flid}er Bebeutung für bas Gewerbegerid)t war ferner l>ie am 1. Januar 1902 in Kraft getretene Gewerbegerid)tsnooelle oom 30. Junl1901. Vonben neuen gefeijlid)en Heftimmungen feien folgenbe l}eroorgeboben: 1. l>ie obligatorifd}e errid}tung oon Gewerbegerld)ten in Gemeinben mit mel}r als 20000 tinwol}nern ; 2. ble erweiterung ber fad)lid)en 3uftl!nbigkeit; 3. bie flufftellung befonberer trforberniffe für llie IDirkfamkeit oon Sd)iebsoertrl!gen; 4. l>ie Verberrerung bes IDabloerfabrens, namentlid:J bei ber flufftellung ber IDai}Jiiften unb burd:J 3ulaffung ber Derbl!ltniswabl mittels ftatu= tarifd)er Beftimmung; 5. bie erweiterung ber örtlid}en 3uftl!nbigkeit; 6. ble 3ufammenfeijung bes tinlguAgsamtes aus bem Vorflt,enben unb aus jewetlig zu ernennenl>en Vertrauensmannern an Stelle ftl!nbiger . 30 .

BdOffer, ferner t>ie Uerftärkung ber Befugnlffe t>es VorOffenben zur finleitung oon finigungsoer~ant>lungen, zur ftnftellung, oon fr= mittlungen, insbefonbere bun:tJ fin(O~rung ibes frfd)einungszroanges; 7. t>fe erroelterung ber Befugniffe bes Gewerbegerid)ts bei ber ftbgabe oon 6utad)ten unt> Stellung oon ftntragent. Die burd) rafd)e fntfd)eibungen unb meiift gOtlid)e frlet>igung ber Streit(alle ausgezeid)nete Red)tfpred)ung ber ljeroerbegerid)te ~atte feit Jal)ren bas fe~len gleid)er Sonbergerid)te f'Or ben Kaufmannsftanb fd}merzlid) empfinben laffen. Durd) bas am 1. Januar t905 in Kraft getretene Reid)sgefeff betr. t>ie Kaufmannsgl!rid)te oom 6. Juli 1904 rourben fold)e fOr t>le Red)tsftreitigkeiten aus t>em kaufmännjfd)en Dfertftoertrag eingefO~rt. Das Gefeff ift ben Heftimmungen Ober bas Gewerbegerid)tsgefeff nad)gebilbet. fs ~at ibie frrid)tung ber Kauf= mannsgerid)te in erfter (inie t>en Gemeint1en, bann ben weiteren Kommunaloerbanben unt> unter beftimmt1m Vorausrettungen ber fartbeszentralbeMrbe Oberlaffen. fs entl)lllt Heftimmungen Ober t>ie wefentlid)en Grunblagen ber Organjfation untt> erklart t>ie Uorfd)riften bes Gewerbegerid)tsgefel}es Ober bas Uerfal)tren fOr entfpred)enb an= ment>bar. Die Koften t>er finrid)tung unt> Untergattung t>er Kauf= mannsgerid)te tragen bie betr. Gemeinben unb weiteren Kommunal= oerbanbe. Die Kaufmannsgerid)te Onb abetr trofftlern ftaatlid)e Ge= rfd)te, bie im ßamen t>es (anbesijerrn Red)t fpred)en. Sie ftelJen t>en ort>entlid)en Gerid)ten als befonbere im Sin111e bes § 14 bes G. U. G. gegenaber. Gemäfi Uerortlnung ber ffiinifter tles lnmern unt> ffir fjanbel unb 6ewerbe oom 5. Oktober 1904 fintlen in ber Rl)'einprooinz auf t>lejenigen Kau(mannsgerid)te, t>eren Bezirk nid)t Ober tl1m Bezirk eines auf Grunb t>es Ge fettes oom 11. Juli 1891 beftel)enben Kt:lniglid)en Gewerbegerid)ts 1Jinausreid)t, t>ie oon tlen Uergleid)skammem ijanbelnben Uorfd)ri(ten ber §§ 9 untl 10 t>iefes Gefeffes flnwent>ung. Dies trifft ffir t>as Kauf= mannsgeridJt Ct:lln, t>as tlem Gewerbegerid)t angegliebert lft, zu. Dlefe ftnglieberung mad)te t>en frlafi eines ßad}ttrages zu t>em Regulatio l>es Gewerbegerid)ts erforberlidJ. Bei t>iefetr Gelegen~eit wurbe bie 3al)l t>er ftelloertretenben UorOffentlen oon 2 atUf 3, bfe t>er BeiOtter oon 52 auf 80 eri)OI)t. ftudJ fft t>urdJ t>lefen ßadhtrag bie Uerl}altnlswal)l eingefO~rt unt> t>le ftmtst>auer tler BeiOtter auf 5 Jal)re feftgefettt worben. . 31 •

Die am 1. Jtpril1910 erfolgte eingemeinllung ller Stallt Kalk unll ller 6emeinlle Vingrt batte nad) einer Verfugung lles minirters fur fjanllel unll 6eroerbe unll lles Jurtlzminirters vom 8. Dezember 1910 llie Vereinigung lliefer 6emeinllen mit ller Stallt COin binOd)tlid) ller 6e= rid)tsbarkeit lles 6eroerbegerid)ts zur folge, unll es errtreckt OdJ nunmebr llie Ortlid)e 3urtanlligkeit lles KOniglid)en 6eroerbegerid)ts auf llen Stallt• unll fanllkreis COin. Damit irt llie 3abl ller einroobner lles 6e= rid)tsbezirkes von 46 042 im Jabre 1811 auf Ober 582000 angeroad)fen. Das 6eroerbegerid)t COin bat alfo im raufe feines 100jl'lbrigen Be= ftebens mannigfad)e lDanlllungen llurd)gemad)t: Der Wirkungskreis lles 6erid)ts bat OdJ geanllert, fein Bezirk erweitert; erweitert ift vor allen Dingen ller Kreis ller Perfonen, aus !lern ibm llie BefOijer erwad)fen. Durd) llie Verleibung lles lDablred)ts an llie Jtrbeiter ift llie frObere teilnabmloOgkeit bei llen lDablen gefd)rounllen, beftige lDablkampfe Onll feitllem in COin um llie BeiO~erftellen entbrannt; rol'lbrenll bis 1892 OdJ nur roenige Perfonen an ller lDabl beteiligten, fd)ritten bei ller leijten lDabl im Jabre 1906 2426 Jtrbeitgeber unll 23839 Jtrbelt.. nebmer zur lDabiume. es bellarf nun nod) eines eingebens auf llie tatigkeit unferes 6erid)ts: Die Durd)Od)t ller Jtkten, namentlid) aus llen erften Jabrzebnten, fOrllerte einen fo umfangreid)en Stoff zutage, llafi ller Verfud), ibn erfd)Opfenll zu verarbeiten, Ober llen Rabmen lliefer fd)lid)ten Sd)rift, llie vorneb mlid) llazu beftimmt irt, llen BeiOffern ein mOglidJrt klares Billl von ller entroicklung lles 6eroerbegerid)ts zu bieten, roeit binaus fubren rourlle. ßud) erforllert llie Sid)tung lles aus llen erften 25 Jabren nod) völlig ungeorllnet vorliegenllen Stoffes ein fold)es IDafi von 3eit, roie es mir bei meinen fonrtigen llienrtlid)en Obliegenbeiten leiller nid)t zu 6ebote rtebt. Dod) kann id) es 'mir nid)t verfagen, meinen vontebenllen Überblick llurd) einige kurze HusfObrungen zu erganzen; aus !liefen roirll beroorgeben, llafi !las 6eroerbegerid)t COin nid)t nur ller Red)t= fpred)ung unll llen ibm fonrt zugeroiefenen Hufgaben reine volle Kraft geroillmet, fonllern llarOber binaus OdJ zu ller Vertretung ller allgemeinen lotereffen ller fabrl.kanten, fjanllroerker, 6efellen unll ßrbeiter berufen gefublt bat unll als tatfl'ld)lid) llazu berufen von llen Beb(lrllen an.. erkannt roorllen irt. . 32 •

Seiner er[ten Pnid:Jt, ble Streitigkelten ;!IDirct:Jen flrbeitgebem unb auf mOglld:Jft rct:Jnelle Weife zu fd:Jiid:Jten, ~at un[er 6erld:Jt in ooiHtem ma~e genagt; !Denn aud:J bie 3a~len bis zum Ja~re 1842 nur unooll[tanbig oorf}anben Onl~. ro ergibt Od:J bod:J aus ben Regi[tem unb flkten, ba~ ber Rat aufbie[em 6eblete eine umfang= reid:Je unb IDirkungsoolle Tatigkelt entfaltet ~at. (BezOgt. bes enten Ja~res oergl. Seite 11.) mit be[onberer entrd:Jieben~eit Obte ber Rat [eine [trafrid:Jterlid:Je tatigkeit aus; Dertragsbrud:J unb Derfe~lung1en ber flrbelter unb fe~r= Iinge gegen i~re meirter belegte er mit 6efangnls[trafen bis zu brei Tagen. Daburd:J IDurbe, !Die in Berid:Jten eniDa~nt i[t, ber Unorbnung in vielen fallen vorgebeugt unb IDO bie[e ein!Jetreten !Dar, ble Orbnung auf bas rct:Jnellfte .fDieber ~erge[tellt. Um ben IDO~Itatlgen finOu~ ber Be[trebungen bes Rats zu zeigen, [ei folgeober fall ~eroorge~oben: Die im Jal~re 1824 am neubau bes Ju[tlzgebaubes berct:Jaftigten maurer ~atten !Degen fo~n[treitigkeiten bie ftrbeit o~ne Kunbigung oerlaffen; auf bie flnzeige bes Bauunter= ne~mers begaben Od:J ziDel mitglleber bes Rates unb ber Sekretar zur Bau[telle, [teilten ben Tatbe[tanb feft unb mact:Jten einigen IDeiter arbeiteoben Gerellen bie Strafen Ober bas D'!rgeben !Degen ein[eitiger einrtellung ber flrbeit bekannt, IDorauf Od:J am folgeoben morgen alle ftrbeiter mit flusna~me ziDeler, bie bie Stahlt verlaffen ~atten, lVieber elnfanben unb bie ftrbeit fortrettten. Der Rat [a~ von einer Bertrafung ab, IDeil bie ftrbeiter Od:J freiiDillig lVieber eingefunben ~atten. ebenro entrd:Jieben trat ber Rat aber aud:J ft1r ble Red:Jte ber ftrbeiter ein, !Die ein Beirpiel bartun roll. Dem Rat !Dar es bekannt geiDorben, ba~ 13 nagelrd:Jmlebemei[ter Od:J verrammelt unb ben Be= fd:Jiu~ gefafit ~atten, ben fo~n i~rer 6e[ellen ~erunter zu retten. Der Rat erftattete rofort Strafanzeige, in ber er biere ljerabrettung bes ftrbeitslo~nes als ungered:Jt, Obertrieben un1b bie DerrammJung ber ftrbeitgeber nad:J bem 6e[etje vom 12. flpril 18CI3 als [trafbar bezeid:Jnete. flus Sct:Jreiben bes PolizeipraObenten unb tles Unterruct:Jungsrid:Jters ge~t ~eroor, ba~ bas Strafoerfa~ren eingeleiltet IDurbe. 3a~lreid:J IDaren bie ljinterlegungen DOn murtern zum Sd:Juije bes flgentums, namentlid:J fanben Od:J viele Tapet,mmu[ter unb Tabakbaten mit flbbilbungen. flrbeitne~mem

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Ober 30 Jat)re berid)tete ber Rat aulf 6runb ber oon feinen mitgllebern ocrgenommenen ReoiPonen an bie fjanbelskammer ein• get)enb Ober ben Stanb ber fabriken unb merkftellen, Ober bie 3at)l ber ftrbeiter unb Ober alles, was PdJ in be2:ug auf bie lnbuftrie unb bas fabrikwefen ber Stabt COin merkwOrbiges zugetragen t)atte. ebenfo erftattete ber Rat auf erfud)en ber fj~mbelskammer, bes Ober.. bOrgermeifters, ber Polizeibet)Orbe ober ber Hegierung oiele 6utad)ten unb ftellte, um bies zu können, umfangrefd]le ermfttelungen an. Der Rat wurbe zugezogen bei ben Berat~mgen Ober bie errid)tung oon Sd)ulen fOr bie in t)iePgen fabriken arbeiteoben Kinber: er forberte bei biefer 6elegent)eft oon ben fabrikanten ein genaues Verzeid)nis ber in ben IJiePgen manufakturen unb fabriken befd)3ftfgten Kinber, weld)e bas 15. Jat)r nod) nid)t erreid)t t)atten. ftus ben efngerefd)ten Verzefd)nfffen get)t t)eroor, ba~ bamals (1815) ftellenweife eine ftus= nutJung jugenblld)er ftrbeitskrafte ftattfanb, bie man kaum fOr mOglid:J t)alten follte. Kinber oon 8-9 Jat)ren als fabrikarbeiteT waren keine Seltent)eft, ja vereinzelt wurben fold)e oon 5, 61 unb 7 Jat)ren befd)3ftlgt. Bet)Orben unb fabrikanten wanbten O'd:J an ben Rat, um fa= brikate burd) feine fflftglieber prOfen ZU laff1en. Den fflitgllebern wurbe ferner bie ftufndl)t Ober bie fet)rlinge an= oertraut, weld)e bie ftrmenoerwaltung in ble fet)re gab. fjierburd) ift Dermutlid) bie 6runbung bes lDot)Jtatigkeits:. uereins "Pt)ilantt)ropia" Deranla~t worben (1846), benn ber Uorftanlb biefes Vereins beftanb bamals grO~tenteils aus fflitglfebern bes 6ea,erbegerid)ts. Die "PIJi= lantt)ropfa" t)at u. a. ben 3weck, arme Knaben ot)ne Unterfd)ieb ber Konfef(ion wat)renb ber fet)rzeft zu unterftOfJen unb burd) it)re Vor= ftanbsmitglieber beaufPdJtigen zu laffen. Diie VorftanbsPffungen bes Vereins werben t)eute nod) Im Siijungsfaal·e bes 6ewerbegerid)ts ab= get)alten, unb fprid)t aud) biefer umrtanb bafiir, ba~ biefe fegensreid)e einrid)tung aus· bem 6ewerbegerid)t t)eroorg1egangen 1ft. ßod) einer wid)tigen Obliegent)eit bes Rates 1ft zu gebenken; nad) bem 6efeije oom 12. ftpril 1803 burften ftrbeiter unb fet)r= Iinge bei Strafe bes Sd)abenerfaffes nid)t ang11mommen werben, wenn Oe nid)t ein ftrbeitsbud) vorlegten, aus bem t)eroorging, ba~ fie it)re Verbinblid)keiten ge~enOber bem frut)eren ftrbeitgeber erfüllt t)atten. Diefe Beftimmung wurbe oielfad) nid)t bead)tet, bes~alb orbnete ber . 34 •

PraOilent unb kommiffarifd)e Oberburgermeifter frl). von ffiylius, mit 6enel)migungbes 6eneral=6ouvemements=Kommiffairs im Roer=Depar= g~m~nt B~lilng llurd) Befd)lu~ vom 5. Februar ts:t6 an, lla~ jeDer 6ewerbe· treiber.be, Fabrikant oller fjanllwerker, Der füJr Die folge einen Hrbeiter aufnel)me, ol)ne OdJ von llemfelben bas vorgefd)riebene Büd)lein vor= zeigen zu laffen, ebenfo jeDer Hrbeiter, Der, t,IJne lnl)aber eines Bad) .. Ieins zu fein, auf einer Fabrik oller IDerkftatte arbeite, nad) ben 6e= fetJen beftraft werDe. Die Büd)er wurDen nur fold)en Hrbeitern ausge.. ftellt, Die eine Befd)einigung bes Rates beibraqr Bel)Orben, fo war er, bank namentlid) ber ftnregungen bes rOI)rigen Sekretars 6ottliqb, unablarrtg bqmfil)t, nque '[Dqgq zum lDol)le ber 6ewerbetrql benbqn unb bqr arbeiteoben ßqoOikqrung zu finben. flus ber 3qit bis 1830 feien l)eroorgel)oben: flntragq betr. bas fjerbqrgswqfqn, elnfül)rung freier arztlld)er Bel)anblung erkranktqr fjanbwqrksgefellqn, errid)tung elnqr allgqmeinen Untqrftütyungs.. unb UerpOegungska[[q fOr bie in ad)t oerfd)iebenqn fabrlk.. unb Gewerbe= zwelgen befd)aftigten 6efellen unb flrbqiter, einfOl)rung einqr Bau= gqwerbeorbnung unb Untqr[tfityungskarrq fOr Baugqwerbqtreibenbe, Uorfd)lage zu elnqr öewerbqorbnung, Plane zu qlner UnterftOtyungs.. karre fOr fjanbwerksgqfellen, zu ber jeber 6qfqJie beltragqn foll, unb zur errfd)tung qJnes flrbeltsnad)welfes. 3ur Begrünbung biqfqs, ben Bel)Orben Im Ja l)re 1824 oorgelqgtqn flntragqs wurbe ausgefOl)rt, bie erfal)rung l)abq gezqigt, baR öq[qllen unb fabrikarbqlter fld:J oft [ql)r langq .3elt in ben l)ieflgen fjerbergqn aufl)alten mOfiten, el)e rte in • 36 •

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bes flrbeiters zu benulfen. Die Beweggrünbe kOnnten nur rein, neben ber flrbeitslelftung aud} nod} einen unerlaubten 6ewinn in bem Derkaufe ber Waren zu l)aben, bas verrto~e gegen bie guten Sitten, unb ein rold}er Dertrag kOnne nid}t als verbinblid} erad}tet werben. Im Jal)re 1840 unterftülfte ber Rat Bertrebungen auf 6ewal)rung eines Sonberred}ts für ben rückrtanbigen (ol)n ber flrbeiter bei frOff= nung bes falliments, ferner auf 6ewai:Jrung eines Pfanbred}ts an ben ben flrbeitem anvertrauten Stoffen. Um über bie rid}terlid}e Tatigkeit bes 6ewerbegerid}ts aus ber rpateren 3eit einen Überblick zu berdJaffen, Onb zwei Tabellen beigefügt, aus benen Iid} bie 3al)l ber in ber 3eit von 1&42 bis 1910 anl}angig ge= mad}ten Klagen unb bie flrt il)rer frlebigung errei:Jen la~t. Die 3al)len ber frul)eren Jai:Jre waren, wie bereits erwal)nt, nur unvollftanbig vor= IJanben, ro bafi bavon abgerei:Jen werben mufite, eine vollrtanbige Ober= OdJt über bie Klagen bes ganzen 3eitraumes von 100 Jal)ren zu geben. Die 3iffern ber überOdJten 1arren nidJt nur ble grofie InanrprudJ· nal)me unb flrbeitsleirtung bes 6erid}ts erkennen, ronbem fül)ren aud} bie grofie foziale unb wirtrdJaftlid}e Bebeutung bes ·6ewerbegerid}ts vor flugen. flbgereiJen von ber Sd}nelligkeit bes Derfal)rens, bie OdJ aus ben 31ffem ber Tabelle 2 ergibt, wonad} in ben Jal)ren 1896 bis 1910 von 52045 Klagen 38153, alro mei:Jr wie 71 °/0, in weniger als einer Wod}e er= lebigt wurben, unb abgereiJen von ber Billigkeit bes Derfal)rens, kommt fein rozialer Wert aud} beronbers baburd} zum flusbruck, bafi weitaus ber gröfite Teil ber Klagen oi:Jne Urteil im Dergleid}swege zur frlebigung gelangte. Don ben 37098 in ben Jal)ren 1&42 bis 1891 anl}angig ge= mad}ten Klagen finb 30529, alro über 820fo, von ben in ber 3eit von 1892 bis 1910 erl)obenen 57941 Klagen 44862, alfo über 770/o, burd} 3u= rucknai:Jme, Dergleid} ober aufiergerid}tlid}en Dergleid} erlebigt worben. flls Beweis fur bie rad}gemafie Red}trpred}ung bes 6ewerbegerid}ts barfwol)l angeful)rt werben, bafi von 1896 bis 1910 761 Urteile ergingen, in benen Berufung zulafOg war. fingelegt wurbe bie Berufung nur in 152 f allen, von bieren Berufungen wurben 83 burd} Verwerfung ber Be= rufung, 39 burd} 3urOcknal)me ber Berufung ober Dergleid} erlebigt; nur 29 fanben burd} teilweire flbanberung (10) unb burd) flufi:Jebung bes gewerbegerid}tlid}en Urteils (19) il)re frlebigung. Das 6ewerbegerid}t 1ft reit 1896 26mal als fiillgungsamt tiitig geweren, in 16 fallen kam eine Vereinbarung zurtanbe, aufierbem wurben . 38 .

4 Sd)iebsfprOd)e abgegeben. ln weiteren 40 fällen, in benen bas Gewerbe· gerid)t feine vermittelnbe ratlgkeit angeboten ~atte, ober bie flnrufung nur von einer Seite erfolgt war, kam es nid)t zur Uer~anblung, weil bebauerlid)erweife in 39 fallen bie flrbeitgeber, in einem falle bie flrbeit= ne~mer bie(e able~nten. Seit 1&92 Onb 15 Gutad)ten abgegeben unb &flnträge ge(tellt worben. Die wid)tigften betrafen 3a~lung bes von ffiinberjä~rigen verbienten fo~nes an eitern ober UormOnber, Heftimmungen Ober Sonntagsrul)e, Uorfd)h'fge zur Organifation bes fjanbwerks, einfO~rung ber Uerl)altnis" wa~l, flusbel)nung ber 3uft3nbigkeit ber Gewerbegerid)te, errid)tung von flrbeits= ober flrbeiterkammern, flnfd)lu~ ber Kaufmannsgerid)te an bie Gewerbegerid)te. Uon IDid)tigkeit ift bie gutad)tlid)e fleu~erung bes Gewerbegerid)ts, ob ber errid)tung eines ·sd)iebsgerid)ts zur ent• fd)eibung von Streitigkeiten zwifd)en ben ber Cölner Bäckerinnung (3wangsinnung) angeb()rigen ffiei(tern unb il)ren Gefellen Bebenken entgegen(tänben. Jlad) ber allgemeinen UerfOgung bes ffiini(ters für fjanbel unb Gewerbe unb ber flnweifung zur flusfOI)rung bes Gefeffes vom 1. marz 1&9& l)aben bie 6emeinbevorrtanbe, weld)e bei ber errid)tung von Jlebenftatuten zu bOren Onb, ein Gutad)ten bes Gewerbegerid)ts ein= zul)olen unb il)rer gutad)tlid)en 1\ufferung beizufügen, insbefonbere kommt es barauf an, zu prüfen, ob burd) bie beabOd)tigte einfOI)rung ber Be(tanb bes Gewerbegerid)ts gefäl)rbet wirb. Das Gewerbegerid)t gab fein Gutad)ten bal)in ab, ba~ ber Genel)migung besStatuts erl)eblid)e Bebenken entgegenfti!nben; ber Beftanb bes Gewerbegerid)ts könne burd) bie errid)tung eines Sd)iebsgerid)ts fOr eine einzelne lnnung nid)t in frage kommen, es werbe aber zu erwagen fein, ob nid)t anbere Innungen ebenfalls bie errid)tung beantragten; wenn bas Statut ge= nel)migt werbe, bann könne eine fold)e Gefilbrbung eintreten. flls wei= terer GeOd)tspunkt ber flblel)nung komrne l)inzu, ba~ ber Gefellenausfd)u~ einftimmig gegen bie errid)tung geftimmt l)abe. es bebOrfekeiner weitern flusfOI)rung, bafflnnungsfd)lebsgerid)te gegenOber ben Gewerbegerid)ten einen ungel)euren ROckfd)ritt bebeuten, ba bas Uerfal)ren bei ben Sd)iebs= gerid)ten umftänblid) unb Iangfarn fei unb ba gegen bie entfd)eibungen ber Sd)iebsgerid)te binnen einer Jlotfrift von einem monate Klage bei bem orbentlld)en Gerid)te erboben werben könne. es empfel)le OdJ nid)t, an Orten, wo ein allen gered)ten flnforberungen genOgenbes 6ewerbegerid)t 0

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beftebe, biefes für einen Teil ber Gewerbetreibenben unb ibre öebülfen burd) ein fo unoollkommenes Sd)iebsgerid)t zu erfelfen. man könne aud) nld)t einwenben, ba~ es ben Innungen nad) bem öefelfe zuftebe, Sd)iebs= gerid)te zu errid)ten, basfelbe Red)t babe ben Innungen nad) ben früberen gefelflid)en Heftimmungen zugeftanben, trolfbem fel es in oerfd)iebenen Stabten, in benen einzelne Innungen oerfud)t batten, oon jener Befugnis öebraud) zu mad)en, beim Uerfud) geblieben. Das Unternebmen fei baran gefd)eitert, ba~ fowobl bie untere als bie bObere Uerwaltungsbe= bOrbe bie betreffenben Innungen auf bie Bebenken bingewiefen batten, bie gegen bie errid)tung oon lnnungsfd)iebsgerid)ten fprild)en. So in feipzig gegenüber ber Hackerinnung unb ber Bud)bruckerinnung, fo burd) ben Bezirksausfd)u~ zu Wiesbaben gegenüber ber ölaferinnung zu frank= furt a. m. Ober bie 3weckma~igkeit ber errid)tung fold)er Sd)iebsgerid)te babe im Reid)stage gro~e ffieinungsoerfd)iebenbeit beftanben. es fei namentlid) auf bie Beeintrild)tigung ber Wirkfamkeit ber öewerbegerid)te bingewiefen worben, aud) fei bie Red)tsungleid)beit zu bebauern, bie in einer Stabt eintreten werbe, in ber gleid)zeitig ein lnnungsfd}iebsgerid}t unb ein öewerbegerid)t beftebe. In einer Streitfad}e, beren Wert 50 m. betrage, erbalte berjenige, ber oor bem lnnungsfd)lebsgerid}t Red}t zu fud}en babe, zunad}ft eine entfd)eibung biefes öerid)ts, gegen weld)e er Klage an bas orbenttid}e öerid}t (Jlmtsgerid}t) unb bie Berufung gegen beffen Urteil an bas fanbgerid}t babe, wabrenb ber bem lnnungsfd)iebs= gerid}te nid}t, aber bem 6ewerbegerid)t Unterftebenbe, ba nad} bem 6efelfe bei einem Streitwerte bis zu 100 m. überbaupt kein Red)tsmittel gegen bie entfd}eibung bes 6ewerbegerid}ts gegeben fei, nur biefe eine lnftanz babe. (Reid)stagsoerbanblung 1897 S. 01 79.) Die Innung babe keine 6rünbe angegeben, weld)e bie ffiitglieber zu bem entfd)lu~ be= wogen batten. Der Umftanb, ba~ bie Red}tfpred)ung bes 6ewerbegerid)ts etwa bem einen ober anberen ber Beteiligten unbequem fei, könne kein 6runb für eine 1lnberung geben, bas lnnungsfd)iebsgerid}t könne bod} aud) nur nad) Red)t unb 6efelf urteilen. § 91 6. 0. beftimme, ba~ bie Jlnberaumung bes 1. Termins innerbalb 8 Tagen nad) eingang ber Klage erfolge unb bie entfd)eibung nad) ffiöglid)keit befd)leunigt werben folle. Werbe bie ad)ttagige frift nid)t innegebalten, fo könne ber Klager oer= langen, ba~ ftatt bes lnnungsfd)lebsgerid)ts an ben Orten, wo 6ewerbe= gerid}te befteben, biefe unb, wo fold)e nid)t befteben, bie orbentlid}en • 40 .

6erid)te entfd)eiben. 1m Jabre 1902 feien 100, im Jagre 1903 105 Klagen oon Backern anl)angig gemad)t worben, bei blef•en wenigen Sad)en kGnne bie erforberlid)e Sd)nelllgkelt nid)t erreid)t werrben, es kGnne bod) nld)t f(lr jebe Sad)e eine Slffung anberaumt werben. Dabei fei bie ganze ftrbeit umronrt, wenn eine Partei binnen ber ßotfrirt IDOn einem monate Klage bei bem orbentlid)en 6erid)t erbebe. Der BezirksausrdJuH oerfagte ble nad)gl!fud)te 6ene1Jmigung mit folgenber Begrunbung: "ßad) § 95 bu JtusfO~rungs•Jtnm~lfung DOfin 1. mal 1904 lrt barfib~r, ob ~in lnnungsfdJI~bsg~rldJt zug~laff~n lft, nadJ frl!i~m ermeffen zu bePnben, IDObl!( insb~fonb~r~ ZU prfif~n frt, Ob burd) bf~ bt~abpd)tfgt~ etnrld)tung b~r B~ftanb lll}nlld)er an bemf~lb~n Ort oorl}anbenu Organtratlon~n g~fll~rb~t mlrb. flne foldJ~ 6~fll~rbung trt Im oorllegenben falle g:eg~b~n, b~nn bas l}lerfelbft b~rte~enbe 6~merb~g~rld)t mürbe burd) ble flnrld)tung bes geplanten Sd)lebs• gerld)ts, abgefe~en oon ber fntzle~ung bllr fonpt oor l~m Red)t fud)enb~n Partel~n, ein~ etnbufje Infofern ~rlelben, als ~in gleldJ georbnetes 6erld)t neben l~m ermlld)ft unb baburd) bll! fln~eltlld)kelt ber RQ:d)tfpr~d)ung gefpalten mlrb. Die etnrld)tung blef~s Sd)lebsgerld)ts mürb~ bl~ flnrld)tung anberer nad) PdJ zlel}en unb baburd) ben ~~roorg~ruf~nen 3mlefpalt oergr6fjern. es kommt ~lnzu, bafj ber 6efell~nausfd)ufj als U~rtreter ber ljauptb~telllgten g~fd)loffen gegen ben Hntrag geftlmmt unb baburd) oon octrn~ereln feinen mange! an Uertrau~n zu ber beabpdJtlgten flnrld)tung gegenrüber ber bls~u b~mll~rt~n R~d)tfpr~d)ung bes 6emerbegerld)ts offenbart ~at.'·'

Der ffiinifter für fjanbel unb 6ewerbe ~rat burct) Verfügung oom 23. Dezember 1904 - 111 a 9935 - bie erbobQ~ne Berd)werbe zuriickge= wiefen unb bie entrd)eibung bes Bezirksausfmurres bertatigt mit ber Begriinbung, bie erwagungen, aus benen ber BezirksausrdJuH bie 6enel)migung oerragt l)abe, feien zutreffent>. t;s i[t bann nod) folgent>es ausgef(lbrt: "Durd) bas in C61n b~rt~~~~nb~ K6nlglld)~ 6~merb~g~rld)t lft ln aus• 1Delfe fOr ble Jtustragung ber Str~ltlg~:~lt~n g~forgt, bl~ zur 3u· rtllnblgk~lt bes lnnungsfd)lebsgerld)ts g~~Oren mürb~n, unb g~rab~ all~ ble• j~nlg~n Vorzug~, m~ld)e bas Uerfa~r~n oor bem lnmlngsfd)l~bsg~rld)t g~genfib~r benjenlgen oor b~n orbentlld)en 6ertd)ten aufmelifen mfirb~, pnb aud) bem U~rfa~ren oor b~m 6emerbegerld)t ~lgentümlldJ. Dazu kommt, bafj b~l un~ln• gefd)rllnkter 3uftllnblgkelt bi!S 6emerbllgllrid)ts bll~ etn~eltlld)kllit bllr Red)t· fpred)ung beffer bemal}rt mlrb, als menn ble Streltf