1968 und die »68er«: Ereignisse, Wirkungen und Kontroversen in der Bundesrepublik 9783412215767, 9783412210168

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1968 und die »68er«: Ereignisse, Wirkungen und Kontroversen in der Bundesrepublik
 9783412215767, 9783412210168

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Gerrit Dworok Christoph Weißmann (Hg.)

1968 und die

68er

Ereignisse, Wirkungen und Kontroversen in der Bundesrepublik

2013 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Guido Klütsch Redaktion: Julia Kaup Satz: Sebastian Steinmetz Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-21016-8

Vorwort der Herausgeber Dieser Band geht zurück auf eine Tagung des Lehrstuhls für Neueste Geschichte der Universität Würzburg zum Thema 1968 und die „68er“ – Ereignisse, Wirkungen und Kontroversen in der Bundesrepublik, die am 14. und 15. Oktober 2011 in den Räumlichkeiten der Neuen Universität in Würzburg stattfand. Dabei lag der Tagungskonzeption die These zu Grunde, dass die 68er-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland, trotz weltweiter Vernetzungen des 68erProtestes, aus verschiedenen Gründen auch gesondert, das heißt mit dezidiert bundesrepublikanischem Fokus, betrachtet werden muss: aufgrund der schwierigen Auseinandersetzung der Bundesdeutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der in den Jahren der Teilung prekären Situation deutscher Staatlichkeit und, nicht zuletzt, der bemerkenswerten Geschichte deutscher Theorien zum Sozialismus/Kommunismus. Den inhaltlichen Schwerpunkt der Tagung bildeten Ereignisse, Wirkungen und Kontroversen, die mit der außerparlamentarischen Protestbewegung des Jahres 1968 in der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind. In diesem Kontext sollten Diskurse, Medien und Begriffsprägungen der 68er analysiert werden, für die „außerparlamentarische Opposition“ entscheidende Ereignisse der achtundsechziger Jahre in Bezug auf ihre Wirkungen interpretiert sowie ideologische Positionen und Einflüsse der Bewegung herausgearbeitet werden. An dieser Stelle sind aber zunächst diejenigen Personen, Institutionen und Unternehmen zu nennen, die die Durchführung einer solchen wissenschaftlichen Tagung durch ihre großzügige Hilfe überhaupt erst möglich gemacht haben. Zuvorderst danken wir unserem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Altgeld, der uns nicht nur bei der Vorbereitung stets hilfreich zur Seite stand und als Moderator durch die Tagung führte, sondern der uns durch die Bereitstellung materieller und personeller Ressourcen seines Lehrstuhls die Planung und Durchführung der Veranstaltung überhaupt erst ermöglichte. Trotz der Unterstützung durch die Philosophische Fakultät I der Universität wäre in Zeiten schon notorisch klammer Kassen – gerade in den Geisteswissenschaften – weder die Tagung noch die Drucklegung dieses Buches ohne weitere finanzielle Hilfe möglich gewesen. Dafür möchten wir der Firma Beuschlein, der Sparkasse Mainfranken, der Wissenschaftlichen Buchhandlung Schöningh sowie Herrn Dr. Eckehard Dworok danken. Ferner gilt unser Dank auch Sebastian Steinmetz, der mit unermüdlicher Akribie den Satz des Bandes

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vorangetrieben hat. Nicht unerwähnt bleiben soll auch die bereitwillige Mitarbeit der Hilfskräfte des Lehrstuhls für Neueste Geschichte, ohne die die zahlreichen organisatorischen Arbeiten nicht zu bewältigen gewesen wären. Unser Bestreben war es, mit dieser Tagung ausgewiesene Fachwissenschaftler und Nachwuchshistoriker, die in dem seit Jahren intensiv diskutierten Themenkomplex 68er-Bewegung arbeiten, zusammenzubringen und dabei aktuelle Forschungsergebnisse der Würzburger Studentenschaft sowie, unterstützt durch mehrere begleitende Artikel in der Mainpost, einer breiteren interessierten Öffentlichkeit nahezubringen und damit auch einen kleinen Beitrag zur Versachlichung von mitunter hitzig geführten und emotional aufgeladenen Debatten zu leisten. Daher freut es uns sehr, dass wir Experten gewinnen konnten, die alle nicht nur durch engagierte Vorträge, sondern auch durch zahlreiche konstruktive Diskussionsbeiträge in den an die Referate anschließenden Debatten zum Gelingen der Tagung wesentlich beigetragen haben. Prof. Dr. Gerd Langguth gab unter Berücksichtigung der Forschung einen pointierten, thesenorientierten Überblick über zentrale Themen zu „68“, während Rolf Stolz sehr reflektiert aus der Perspektive des aktiv beteiligten Zeitzeugen zwölf für den SDS in den Jahren 67/68 grundsätzliche Problemkreise in den Blick nahm. Prof. Dr. Philipp Gassert zeichnete, gestützt auf eigene aktuelle Forschungen, ein differenziertes Bild des tatsächlichen oder vermeintlichen Antiamerikanismus der 68er. Mit einem nur auf den ersten Blick in diesem Zusammenhang randständigen Thema, das bislang in der Forschung kaum Berücksichtigung fand, beschäftigte sich Prof. Dr. Matthias Stickler beispielhaft auf Basis neuer Quellenstudien: den Wechselwirkungen zwischen dem heterogenen Studentischen Verbindungswesen und der 68er-Bewegung. In drei weiteren Vorträgen präsentierten Doktoranden Ergebnisse aus gerade abgeschlossenen oder noch laufenden Forschungsprojekten. Begriffsgeschichtlich orientiert ging Matthias Stangel, wesentlich konzentriert auf die Person Rudi Dutschkes, auf das Verhältnis der 68er zur Nation und zum Nationsbegriff ein. Gerrit Dworok zeigte die Bedeutung und Funktion des bis heute allgemein auch für die historische Forschung problematischen Faschismusbegriffs in seinen Facetten für die 68er unter verschiedenen Perspektiven auf. Schließlich fragte Kristof Niese nach Bedeutung und Einfluss des Kursbuches und seines Herausgebers Hans-Magnus Enzensberger im direkten Umfeld von „68“.

Würzburg, im September 2012 Gerrit Dworok

Christoph Weißmann M.A.

Inhalt Gerrit Dworok Einleitung .................................................................................................................

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Rolf Stolz Innensichten des SDS in den Achtundsechziger Jahren .......................................... 21 Kristof Niese Das Kursbuch und 1968. Ein Fahrplan für die außerparlamentarische Opposition? .............................................................................................................. 41 Matthias Stickler „Wir sind doch nicht die SA der Professoren!“ – Das studentische Verbindungswesen und die Achtundsechzigerbewegung ............................................................. 69 Gerrit Dworok Faschismusbegriffe und -deutungen der „68er“ zwischen Wissenschaft und Klassenkampf............................................................................................................ 101 Matthias Stangel Positionen der „68er“ zur nationalen Frage in Deutschland ................................... 125 Philipp Gassert Antiamerikanismus und Antiimperialismus um 1968: Proteste gegen die USAußenpolitik............................................................................................................. 153 Gerd Langguth Die „68er“-Bewegung und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik – Motor, Katalysator oder Profiteur?.......................................................................... 171 Archive, Internetressourcen und Literatur in Auswahl........................................... 193 Ortsregister............................................................................................................... 219 Personenregister........................................................................................................ 223 Autorenverzeichnis................................................................................................... 229

Einleitung Gerrit Dworok

In einem Schreiben vom 27. April 1968 unterrichtete Johannes Praß, damals Leiter der Abteilung II des Bundeskanzleramts, Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger über die Ursachen und Motive der westdeutschen Studentenproteste.1 Diese hatten sich in der Bundesrepublik seit dem Tode Benno Ohnesorgs (2. Juni 1967) enorm ausgeweitet und waren nach dem Attentat auf Rudi Dutschke (11. April 1968) an den Ostertagen des Jahres 1968 eskaliert. In mehreren westdeutschen Städten, vor allem aber in West-Berlin, war es zu gewaltsamen Unruhen gekommen, Gebäude und Fahrzeuge des Springer-Konzerns wurden massiven Attacken ausgesetzt und in den Straßen hatten sich aufgebrachte Studenten und Polizeieinheiten regelrechte Schlachten geliefert. Das Schreiben beinhaltete eine systematisch angelegte Materialsammlung zu den Osterunruhen und war mit der Intention verfasst worden, den Chef der Großen Koalition auf eine parlamentarische Stellungnahme vorzubereiten, mit der er in einer Sondersitzung des Bundestages (30. April 1968) auf die angespannte und für die Bundesrepublik ungewohnte innenpolitische Situation reagieren sollte. Praß empfahl dem Bundeskanzler, den Schwerpunkt seiner Rede „auf den ernstzunehmenden Kern des Unbehagens der Studenten und eines Teils der Bevölkerung [zu] legen, sich zur Demokratie als ,Politik der permanenten Reform‘ zu bekennen und im Zusammenhang damit die von der Bundesregierung in Angriff genommenen Reformen besonders herauszustellen.“2 In der dem Schreiben beigefügten Analyse der studentischen Unruhen wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei den Studentenprotesten des Jahres 1968 um ein internationales Phänomen handelte, das dem Unbehagen „an der wissenschaftlichtechnologisch-industriell geformten Welt“, dem Protest gegen das erstarrte „Establishment“ sowie der Auflehnung gegen eine vermeintlich autoritäre Herrschaft und

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Vgl. Schreiben vom Leiter der Abteilung II des Bundeskanzleramts, Johannes Praß, an Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger vom 27. April 1968. Betreff: Sondersitzung des Bundestages über die innenpolitische Situation am 30. April 1968, in: BArch B 136/ 3781. Ebd., S. 2.

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die Manipulierung des Menschen Ausdruck geben würde.3 Für die Bundesrepublik wurden darüber hinaus spezifisch westdeutsche Protestursachen ausgemacht. Darunter vor allem die als unbefriedigend wahrgenommene Situation an den westdeutschen Universitäten, die ob der deutschen NS-Vergangenheit äußerst strittige innenpolitische Frage der Notstandsgesetzgebung sowie die außenpolitischen Themenfelder der Deutschlandpolitik und der Haltung der Bundesregierung zum Vietnamkrieg.4 Bei der Bestimmung der Träger der Protest-Bewegung wurde ähnlich differenziert geurteilt. Neben „radikalliberalen Reformern“ und „radikalen Linken“, die zusammen weniger als 10 Prozent der westdeutschen Studentenschaft repräsentiert hätten, wurde von einer studentischen „Mittelgruppe“ von ca. 40 Prozent ausgegangen, die sich problembezogen entweder der reformorientierten oder aber der revolutionären Parteiung anschloss, um ihre Interessen durchzusetzen. Gemeinsam, so die Analyse aus dem Bundeskanzleramt, hatten diese Gruppen vor allem eines: den „Wille[n] zur Veränderung bestehender Verhältnisse und Institutionen.“5 Problematisch war diese Tatsache aus Sicht der Regierung besonders in Bezug auf den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der, wie Bundesinnenminister Ernst Benda in seinen schriftlichen Vorbereitungen für die parlamentarische Auseinandersetzung mit den Studentenunruhen feststellte, mehrheitlich „für die Ablehnung und Abschaffung der parlamentarischen Demokratie“ eintrete.6 Dies, so Benda weiter, sei erstens eine Form der „antiparlamentarischen Opposition“, die ein parlamentarischer Verfassungsstaat nicht dulden dürfe. Und zweitens müssten radikale Aktionen des SDS von den legitimen Bemühungen der „außerparlamentarischen Opposition“, Protest kundzutun und auf Veränderungen zu drängen, unterschieden werden.7 Reagieren müsse die Bundesregierung letztlich auf zweierlei Wegen: Einerseits müssten gewaltsame Aktionen – ganz gleich, welcher politischen Couleur sie entstammten – verurteilt und strafrechtlich geahndet werden. Andererseits dürfte man jedoch den „gesunden

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Vgl. den dem oben genannten Schreiben beigefügten Materialbeitrag: Die Studentische Unruhe. Analyse – politische Wertung – Empfehlungen, gefertigt vom Planungsstab am 26. April 1968, in: BArch B136/ 3781, S. 1f. Vgl. Anlage zu Studentische Unruhe. Analyse – politische Wertung – Empfehlungen. Studentische Unruhe. Analyse – politische Wertung – Empfehlungen, S. 5f. Ernst Benda, Rohentwurf einer Ministerialrede aus Anlaß der Sondersitzung des Deutschen Bundestages am 30. April 1968 zum Thema Bericht der Bundesregierung zur innenpolitischen Situation, in: BArch B136/ 3781, S. 18. Vgl. ebd., S. 25f. Der Begriff der „antiparlamentarischen Opposition“ geht auf Bundeskanzler Kiesinger zurück, konnte sich jedoch in der Debatte um die Protest-Bewegung nicht durchsetzen. Vgl. 120. Sitzung des Bundeskabinetts am 17. April 1968, in: Christine Fabian und Uta Rössel (Bearb.), Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 21, 1968, München 2011, S. 161–172, hier S. 172.

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Instinkt gerade junger Menschen“ nicht vernachlässigen und müsste sich der Themen der Bewegung ernsthaft annehmen. „In der Erfüllung beider Aufgaben“, so Benda abschließend, „sehe ich die Bewährung unserer Demokratie.“8 Rückblickend lässt sich eindeutig feststellen, dass sich das duale Konzept der Bundesregierung sowie die Strukturen des parlamentarischen Verfassungsstaats in den konfliktreichen Jahren 1967 bis 1969 bewährt haben. Weder konnte die radikal rechte NPD im Jahre 1969 in den Bundestag einziehen, noch vermochte es der radikal linke SDS über das Jahr 1968 hinaus friedliche Protestbewegungen für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Ihren Höhepunkt erreichte die sogenannte außerparlamentarische Opposition (APO) am 11. Mai 1968, als mehrere 10.000 Menschen auf einem Sternmarsch in Bonn den parlamentarischen Beschluss einer das Grundgesetzt ergänzenden Notstandsgesetzgebung zu verhindern suchten. Das Scheitern dieses Vorhabens, das sich im Beschluss der Notstandsgesetze sowie deren Inkrafttreten am 28. Juni 1968 manifestierte, führte zur Auflösung der bundesweiten Protestbewegung und wurde gleichzeitig auch zum Anfang vom Ende des SDS. Das einstige Zugpferd der APO verstrickte sich immer tiefer in ordnungswidrige Störungsaktionen an westdeutschen Universitäten und provozierte mehrfach, so etwa bei der „Schlacht am Tegeler Weg“ (4. November 1968) gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt.9 Schließlich löste sich der SDS nach einem schleichenden Prozess der Aufsplitterung am 21. März 1970 selbst auf.10 Manche Mitstreiter der APO gingen in den 70er Jahren den Weg in politisch isolierte Splittergruppen, teilweise auch in den Terrorismus. Der Großteil jedoch integrierte sich in das System der Bundesrepublik.11 Aus Dutschkes Konzept vom Marsch durch die Institutionen wurde ein Marsch in die Institutionen.12 Die einst geforderten revolutionären Umwälzungen blieben aus. Stattdessen konnten sich schrittweise gesellschaftliche und politische Veränderungen beobachten lassen, so etwa die Etablierung der Wohngemeinschaft als städtische Form des Zusammenlebens oder aber die Erweiterung des Parteiensystems durch die Grünen.13 Obschon die integrativen Prozesse im Nachgang von 1968 die 68er, wie die Protestbewegung seit den 80er Jahren gemeinhin vereinfachend genannt wird, mit dem politischen System und der Gesellschaftsform der Bundesrepublik langfristig versöhnten, 8 9 10 11 12 13

Rohentwurf einer Ministerialrede, S. 26. Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, Deutsche Geschichte 1933–1990, Bonn 2005, S. 252. Vgl. Tilman P. Fichter/Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, Bonn 2008, S. 202–208. Vgl. Julia Angster, Die Bundesrepublik Deutschland. 1963–1982, Darmstadt 2012, S. 67f. Vgl. Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, S. 87. Vgl. Abgeschieden wie im Kloster, in: Die Zeit, 16. August 1974; Manfred G. Schmidt, Das politische System Deutschlands, München 2007, S. 94f.

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konnten auf dem Feld der Kultur- und insbesondere der Erinnerungspolitik bis heute die Polarisierungen von einst nicht vollends überwunden werden.14 So nehmen ehemalige 68er wie Jürgen Trittin für die Protestbewegung in Anspruch, die „erstickte Gesellschaft“ der Bundesrepublik kulturell entscheidend liberalisiert und politisch überhaupt erst demokratisiert zu haben.15 Gegner der 68er werfen der ProtestBewegung dagegen vor, dass sie „den Boden für einen immer noch andauernden Erosionsprozess unserer Gesellschaft“ bereitet hätte.16 Hinzu kommen vereinzelte Stimmen von Alt-68ern, die der einst mitgetragenen Bewegung nun äußerst kritisch gegenüberstehen, wie etwa der Stern-Chefredakteur Hans-Ulrich Jörges, der behauptet, dass die 68er-Bewegung in Deutschland nicht der Liberalisierung gedient, sondern vor allem repressive Auswirkungen gehabt habe.17 Den ersten großen Höhepunkt dieser Art der erinnerungspolitischen Polarisierung erreichte die öffentliche Debatte im Jahre 2001, als der damalige Außenminister Joseph Fischer mit Gewaltdelikten konfrontiert wurde, die er in den 70er Jahren als Anhänger einer Nachfolgebewegung der APO begangen hatte.18 Ausgelöst wurde die sogenannte Fischer-Debatte, die auch das Thema 1968 und die 68er verstärkt in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit brachte, durch pikante Fotografien und Informationen, die Bettina Röhl, Tochter der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, im Januar 2001 über die publizistischen Organe Stern und Bild veröffentlichen ließ.19 Die von staatsfeindlicher Straßengewalt geprägte Vergangenheit Fischers wurde daraufhin in nahezu allen bundesdeutschen Medien thematisiert und führte schließlich sogar dazu, dass im Bundestag am 17. Januar 2001 eine Aktuelle Stunde zur militanten Vergangenheit des Außenministers abgehalten wurde.20 Die Darstellungen der Medien 14 15

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Vgl. Adelbert Reif im Gespräch mit dem Historiker Professor Dr. Norbert Frei, in: Universitas 63, 2008, S. 518–528, hier S. 518. Jürgen Trittin, 68 hat das Land demokratisiert, 10. Januar 2008, digitalisiert in: http://www.stern.de /politik/geschichte/durchbruch-68-hat-das-land-demokratisiert-607169.html (abgerufen am 15. Juni 2012). Jörg Schönbohm, Selbstbetrug einer Generation, 9. März 2008, digitalisiert in: http://www. tagesspiegel.de/meinung/kommentare/1968-selbstbetrug-einer-generation/1184058.html (abgerufen am 15. Juni 2012). Vgl. Hans-Ulrich Jörges, Schluss mit den Mythen von 68!, 8. Januar 2008, digitalisiert in: http:// www.stern.de/politik/geschichte/irrweg-schluss-mit-den-mythen-von-68-607173.html (abgerufen am 15. Juni 2012). Fischer hatte der antiautoritär-militanten Gruppe „Revolutionärer Kampf“ in Frankfurt am Main angehört, in der er als einer der führenden Köpfe agierte. Vgl. Felix Kurz u.a., Gefährliche Erinnerungen, in: Der Spiegel, 15. Januar 2001, S. 70–75, hier S. 70. Wolfgang Kraushaar hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Fischers militante Vergangenheit bereits vor 2001 zu thematisieren versucht wurde. Vgl. Wolfgang Kraushaar, Zur Historisierung der 68er-Bewegung, in: Forschungsjournal NSB, Jg. 14, Heft 2, 2001, S. 13–22, hier S. 13. Vgl. Bernadette Schweda, Aktuelle Stunde zur militanten Vergangenheit des Außenministers Joseph Fischer, in: Das Parlament 5, 26. Januar 2001, S. 11.

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konzentrierten sich in den Folgemonaten sehr stark auf den Zusammenhang zwischen dem 68er-Protest und dem Phänomen der Gewalt. Prügeltrupps, wie sie von Fischer und anderen in den 70er Jahren durch die Straßen Frankfurts geführt wurden, aber auch der mörderische Terrorismus der RAF wurden vielfach als radikalste Folgeentwicklung der 68er-Bewegung benannt. So betitelte beispielsweise Jochen Bölsche einen Spiegel-Artikel vom 29. Januar 2001 mit den Worten: „Die verlorene Ehre der Apo. Die linksradikale Vergangenheit der grünen Minister Joschka Fischer und Jürgen Trittin hat die halb vergessenen sechziger und siebziger Jahre der Republik plötzlich zum Politikum gemacht.“21 Auf der anderen Seite meldeten sich ehemalige 68er zu Wort, um die damalige Protestgeneration in Schutz zu nehmen und außerdem auch Gewalt zu rechtfertigen, die als Reaktion auf die Staatsgewalt von Nöten gewesen sei. In einem neben vielen anderen von den Universitätsprofessoren Georg Fülberth, Wolfgang Fritz Haug und Arno Klönne unterzeichneten Bekennerbrief hieß es am 16. Februar 2001 dementsprechend: „Ich bekenne: Ich habe mich gewehrt, habe protestiert und demonstriert [. . . ] bin gegen die Polizeigewalt auf die Straße gegangen. Als in Vietnam Menschen verbrannten, als die Notstandsgesetze durchgepeitscht wurden [. . . ] als die Pogromhetze der Springerpresse gegen die aufbegehrenden Studenten im Mordanschlag auf Rudi Dutschke gipfelte, habe ich mich auch von Polizeiknüppeln, Hunden und Wasserwerfern nicht davon abhalten lassen, mein Demonstrationsrecht wahrzunehmen [. . . ]. Heute lasse ich mir nicht den Mund verbieten gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, auch wenn sie von Staats wegen gefördert werden.“22 Das mit der Debatte um Joseph Fischer schlagartig aufkommende öffentliche Interesse an den 68ern war also von Anfang an durch verhärtete Fronten geprägt, wie die Journalistin Bernadette Schweda treffend analysierte: „Die einen wollen in der Studentenrevolte einen Beitrag zur Demokratisierung der jungen Bundesrepublik sehen, die ,autokratische‘, ja ,totalitäre‘ Züge gehabt haben soll; die anderen lehnen diese Sichtweise strikt ab, wollen eine ,Mythologisierung‘ des ersten Bruchs in der Geschichte Westdeutschlands verhindern und berufen sich auf das Gewaltmonopol des Staates als Grundlage für demokratische Entscheidungen.“23 21 22

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Jochen Bölsche, Die verlorene Ehre der Apo, in: Der Spiegel, 29. Januar 2001, S. 68–85, hier S. 68. Jürgen Harrer, Ich bekenne: Ich habe mich gewehrt, habe protestiert und demonstriert, in: Der Freitag 8, 16. Februar 2001. HIS-Archiv: Presseausschnitt-Sammlung zu Protest und Politik. 68er, RAF, Dutschke 2001. Schweda, Aktuelle Stunde zur militanten Vergangenheit des Außenministers, S. 11.

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Interessant ist dabei, dass sich die beiden erinnerungspolitischen Pole in einem Punkt sehr ähnlich waren. Beide Seiten gingen davon aus, dass sie anhand von persönlichen Erfahrungen sowie aufgrund von politisch-ideologischen Grundeinstellungen die Folgewirkungen des Studentenprotestes für die Entwicklung der Bundesrepublik hätten benennen können. Dabei lag der 68er-Protest mit seinen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ausläufern im Jahre 2001 kaum 30 Jahre zurück. Eine seriöse und vor allem derart umfassende historische Erforschung der 68er-Bewegung, welche eine Einschätzung ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Bundesrepublik ermöglicht hätte, war zu diesem Zeitpunkt wohl kaum möglich. Denn erst mit dem Jahr 1998 endete die 30-Jahres-Sperrfrist der Archive, was den ohnehin schwierigen Pfad der Historisierung der 68er abseits der Erinnerungen ihrer Akteure, Befürworter und Gegner überhaupt erst gangbar machte.24 Es verwundert daher nicht, dass pünktlich zum 30. Jubiläum des Jahres 1968, nachdem zuvor nur vereinzelt wissenschaftliche Arbeiten erschienen waren, Ingrid Gilcher-Holtey 1998 die Studie 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft publizierte, welche, zusammen mit dem ebenfalls 1998 erschienenen Band 48 der Westfälischen Forschungen zum Themenschwerpunkt Der gesellschaftliche Ort der 68er-Bewegung, als erste große Wegmarke der Historisierung des 68er-Protests gelten darf.25 Nur zwei Jahre später waren es dann Thomas P. Becher und Ute Schröder, die einen Archivführer mit dem Titel Die Studentenproteste der 60er Jahre herausgaben, in dessen Einleitung es heißt, dass „Phänomene des studentischen Protests [. . . ] ein herausragendes Thema der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte der ,Bonner Republik‘“ seien. Erst der gezielte Zugang zu den Archiven mache jedoch eine wissenschaftliche Historisierung möglich.26

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An dieser Stelle ist Wolfgang Kraushaar zu widersprechen, der 2001 in seinen Gedanken zur Historisierung der 68er die Bedeutung des mit dem Ende der Sperrfrist ermöglichten Aktenzugangs als relativ gering einschätzte. Kraushaar hielt es damals für „fraglich, ob es – von Zeitungen und Flugblättern mal abgesehen – überhaupt jemals schriftliche Dokumente“ geben würde, die zur Erforschung des 68er-Protest beitragen könnten. Die reichhaltigen Bestände etwa des APO-Archivs in Berlin, des HIS-Archivs in Hamburg, aber auch des Bundesarchivs in Koblenz stehen dieser Aussage entgegen, wenngleich Kraushaars Hinweis, die Zuordnung der jeweiligen Schriftstücke zu konkreten Verbänden und Personen sei äußerst schwierig, zutreffend ist. Vgl. Wolfgang Kraushaar, Zur Historisierung der 68er-Bewegung, S. 18. Ingrid Gilcher-Holtey, 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998; Karl Teppe/Bernard Korzus (Hg.), Westfälische Forschungen. Zeitschrift des westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 48, 1998. Für die Zeit vor 1998 sind vor allem politikwissenschaftliche Arbeiten zu nennen. Vgl. beispielsweise Gerd Langguth, Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance – Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983. Vgl. Thomas P. Becher/Ute Schröder (Hg.), Die Studentenproteste der 60er Jahre. Archivführer – Chronik – Bibliographie, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 11.

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Seither sind diverse Aufsätze, Bildbände und Monographien zum Thema 68 erschienen,27 die sich überblicksartig in drei große, interdependente Forschungsrichtungen einteilen lassen: Zum ersten ist untersucht worden, auf welchen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Ursachen der 68er-Protest beruhte. Dabei konnte in Sammelbänden wie Coping with the Nazi Past, herausgegeben von Philipp Gassert und Alan E. Steinweis, Wandlungsprozesse in Westdeutschland, herausgegeben von Ulrich Herbert sowie Wo „1968“ liegt, herausgegeben von Christina von Hodenberg und Detlef Siegfried, gezeigt werden, dass der Protest der 68er nicht aus sich heraus entstanden ist, seine Wurzeln dagegen vielmehr in den von Dynamik sowie Konflikten geprägten politischen und gesellschaftlichen Prozessen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre zu finden sind.28 Die zweite große Forschungsrichtung befasst sich mit der Frage nach internationalen Zusammenhängen des 68er-Protests. Bereits 2001 hatte Ingrid Gilcher-Holtey diesen Zusammenhang in ihrer Studie Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA aufgegriffen und Wechselwirkungen zwischen dem 68er-Protest vor allem in den USA, Frankreich, Italien und der Bundesrepublik herausgearbeitet.29 Die internationale Dimension von 1968 wurde daraufhin kontinuierlich aufgefächert, so dass weitere Zusammenhangsarbeiten, etwa zu den 68erProtesten in Westdeutschland und Schweden (2005), oder gar in Westdeutschland und der Türkei (2009) entstanden.30 Im Jahre 2008 legte Norbert Frei mit 1968. Jugendrevolte und globaler Protest eine Arbeit vor, die den internationalen Aspekt des Themas detailliert und facettenreich behandelt und besonders durch die Berücksichtigung der Bewegungen jenseits des Eisernen Vorhangs hervorsticht.31 Als dritte Forschungsrichtung sind schließlich Fragestellungen zu nennen, die sich konkret mit den Ereignissen der Jahre 1967–1969 sowie mit den Akteuren und Strukturen der Protestbewegung

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In diesem Zusammenhang ist das Jahr 2008 hervorzuheben, in dem sich der globale Protest des Jahres 1968 zum 40. Mal jährte. Vgl. den ausführlichen Forschungsbericht von Philipp Gassert, Das kurze „1968“ zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur: Neuere Forschungen zur Protestgeschichte der 1960er-Jahre, in: H-Soz-u-Kult, 30. April 2010, http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/forum/2010-04-001 (abgerufen am 16. Juni 2012). Philipp Gassert/Alan E. Steinweis (Hg.), Coping with the Nazi Past. West German Debates on Nazism and Generational Conflict, 1955–1975, New York/Oxford 2006; Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002; Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hg.), Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006. Vgl. außerdem Axel Schildt/Detlef Sieg fried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000. Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001. Vgl. Ayhan Bilgin, Die 68er Bewegung in der Türkei und BRD im Vergleich: Ein theoretischer Vergleich der 68er Bewegung. Saarbrücken 2009; Thomas Etzemüller, Ein Riss in der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden, Konstanz 2005. Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008.

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in der Bundesrepublik Deutschland befassen. Auf diesem weitläufigen Forschungsfeld sind beispielsweise Arbeiten zur Kulturgeschichte der Revolte zu verorten, so etwa Martin Klimkes und Joachim Scharloths Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung.32 Ferner sind auch die wissenschaftlich-erinnernden Beschreibungen des Protests, so vor allem die Arbeiten Götz Alys, Wolfgang Kraushaars, Gerd Koenens, Tilman P. Fichters und Siegward Lönnendonkers, zu nennen.33 Der besondere Reiz dieser Beschreibungen liegt in der Tatsache, dass ihre Autoren viele Informationen und Quellen aus erster Hand kennen und somit bestimmte Mechanismen sowie Zusammenhänge des 68er-Protests anschaulich erklären können.34 Ebenso aufschlussreich sind darüber hinaus Regionalgeschichten zu 68, wofür Katja Nagels Betrachtung der Studentenunruhen in Heidelberg oder Michael Kißeners Perspektive auf „1968“ in Rheinland-Pfalz als Beispiele dienen können.35 Schließlich darf in der Forschung zu den 68ern in der Bundesrepublik ein wesentliches Element des Protests nicht verschwiegen werden: die zeitgenössischen Gegner der 68er. Da diese oftmals nur am Rande Erwähnung finden bzw. vielfach außen vor gelassen werden, ist es begrüßenswert, dass Hartmuth Becker, Felix Dirsch und Stefan Winckler 2003 einen Sammelband vorgelegt haben, der sich mit den konservativen wie auch liberalen Gegnern der 68er-Bewegung auseinandersetzt.36 Dieser kurze, die große Anzahl an Publikationen und Fragestellungen mitnichten vollends erfassende Forschungsüberblick macht deutlich, dass die wissenschaftliche Historisierung der 68er-Bewegung seit 1998 enorme Fortschritte gemacht hat. Gleichwohl bleibt mit den Worten Cordula Obergassels festzuhalten, dass die „empirische Forschung, die eine fundierte Bewertung der Ereignisse jenseits von Mythenbildung und Widerspiegelung der alten ,Kampflinien‘ erst ermöglicht,“ noch lange nicht erledigt ist.37 Der nun vorliegende Band greift diese Feststellungen auf und möchte die 32 33

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Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Bonn 2008. Vgl. Götz Aly, Unser Kampf, Frankfurt am Main 2008; Tilman P. Fichter/Siegward Lönnendonker, Dutschkes Deutschland, Essen 2011; Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, Köln 2001; Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos. Natürlich ist dies ein zweischneidiger Umstand für die Geschichtswissenschaft, da Zeitzeugenberichte höchst subjektive Färbungen und Wahrnehmungen beinhalten und deshalb stets mit der nötigen Kritik zu bewerten sind. Michael Kißener, „1968“ in Rheinland-Pfalz. Probleme und Erträge einer historischen Spurensuche, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 35, 2009, S. 559–608; Katja Nagel, Die Provinz in Bewegung. Studentenunruhen in Heidelberg. 1967–1973, Heidelberg 2009. Vgl. Hartmuth Becker/Felix Dirsch/Stefan Winckler (Hg.), Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution, Graz 2003. Cordula Obergassels Urteil zur 68-Forschung in: Cordula Obergassel, Rezension zu: Manfred Kittel, Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt am Main nach 1968, München 2011, in: H-Soz-u-Kult, 6. April 2012, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/20122-018 (abgerufen am 18. Juni 2012).

Einleitung

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68er-Forschung im Rahmen seiner Möglichkeiten ein Stück weit voranbringen. Der Titel 1968 und die 68er. Ereignisse, Wirkungen und Kontroversen in der Bundesrepublik ist dabei schon ein Hinweis auf seine geschichtswissenschaftliche Ausrichtung. Es handelt sich um einen Band, der sich gezielt mit den 68er Jahren in Westdeutschland auseinandersetzt und somit der spezifisch auf die Bundesrepublik bezogenen Forschungsrichtung zuzurechnen ist. Dies ist der Überzeugung der Herausgeber geschuldet, dass das internationale Phänomen des 68er-Protests in der Bundesrepublik einen spezifisch deutschen Charakter hatte. Das heißt, dass neben globalen Einflüssen vor allem deutsche Erfahrungshorizonte seinen Verlauf in der Bonner Republik, im Einzelnen etwa die Osterunruhen oder den Sternmarsch auf Bonn, prägten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vier Aspekte: Erstens das problematische Verhältnis vieler Westdeutscher zu ihrer NSVergangenheit, das in Margarete und Alexander Mitscherlichs 1967 veröffentlichtem Buch Die Unfähigkeit zu trauern aus einem psychoanalytischen Blickwinkel thematisiert wurde und in der Auseinandersetzung der 68er mit der Elterngeneration sowie der Staatsgewalt von entscheidender Bedeutung war.38 Zweitens die 1968 noch recht kurze und, generationell bedingt, individuell sehr unterschiedliche Erfahrung der Bundesrepublikaner mit der Demokratie. Das politische System, das in Frankreich und den USA mit all seinen Vorzügen und Leistungen, aber auch Spannungen und Konflikten schon über einen langen Zeitraum hinweg Tradition hatte, war in Deutschland für viele ein Novum, ein System, das nach der Erfahrung mit der nationalsozialistischen Diktatur im Zuge der totalen Kriegsniederlage von 1945 und der Spaltung Deutschlands im Kalten Krieg erschaffen wurde. Für andere Deutsche stellte die Bundesrepublik den zweiten Anlauf der deutschen Demokratisierung dar, nachdem die Weimarer Republik nach nur 14 Jahren ihrer Existenz (1919–1933) an den schwerwiegenden politischen und ökonomischen Problemen der Zeit gescheitert und der nationalsozialistischen Versuchung erlegen war. Schließlich gab es diejenigen Deutschen, die weder Weimar noch die NS-Diktatur erlebt hatten – eine Generation, die in der Stimmung des Ost-West-Gegensatzes und der deutschen Teilung aufwuchs, die erlebte, wie sich die Bundesrepublik aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges zu einer angesehenen Wirtschaftsmacht im westlichen Bündnis hervorarbeitete. 1968 trafen nun zwei Sichtweisen von Demokratie aufeinander: Einerseits die Perspektive derer, die erfahren hatten, dass die Bundesrepublik im Gegensatz zu Weimar und dem „Dritten Reich“ drei wesentliche Aufgaben des modernen Staates, so nämlich die

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Vgl. Jürgen Kaube, Der diskrete Charme der Psychoanalyse, in: FAZ, 15. Juni 2012; Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.

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verfassungsmäßige Gewährleistung der politischen Partizipation seiner Bürger, die Garantie von Wohlstand sowie die Wahrung innen- und außenpolitischen Friedens, kontinuierlich erfüllt hatte. Eine Perspektive also, in der Partizipation, Wohlstand und Friede als Kernelemente der Demokratie galten. Und andererseits die Perspektive vor allem jüngerer Deutscher, für die Wohlstand und Friede den Normalzustand darstellte, die sich jedoch unter Partizipation und Demokratie etwas völlig anderes vorstellten als das politische System der Bundesrepublik Deutschland. In diesem Zusammenhang ist drittens auf die historische Entwicklung des deutschen Sozialismus zu verweisen, dessen dualer Charakter sich mit der Aufsplitterung des parteipolitischen Sozialismus in MSPD und USPD während des Ersten Weltkrieges und den tiefen politischen Gräben zwischen Sozialdemokratie und Kommunistischer Partei zu Zeiten der Weimarer Republik langfristig etabliert hatte. Dieser Dualismus trat 1961, als sich die SPD vom SDS trennte, wieder zutage und spielte für die Skepsis, mit der große Teile der Neuen Linken der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere ihren politischen Parteien begegneten, eine bedeutende Rolle. Abschließend sei viertens das seit 1945 grundsätzlich ablehnende Verhältnis vieler Deutscher zum Krieg genannt. Im Angesicht des massiven Ausmaßes des Zweiten Weltkrieges und der Leiden, die er unter maßgeblichem Einfluss der Deutschen vor allem in Europa bereitet hatte, waren große Teile der bundesdeutschen Bevölkerung davon beseelt, dem Krieg als Möglichkeit der machtpolitischen Auseinandersetzung ein für alle Mal abzuschwören. Dies ging bisweilen soweit, dass die Landesverteidigung der Bundesrepublik durch die Bundeswehr als schwerwiegender moralischer und politischer Fehler eingestuft und in Folge dessen rigoros abgelehnt wurde. Es verwundert daher kaum, dass die Kritik der US-amerikanischen Friedensbewegung am Einsatz der USAmerikaner in Vietnam auch für die 68er in Deutschland zu einem zentralen Thema avancierte und sich mit anderen Aspekten des Protests ansatzlos verband. Die vier oben angeführten Erfahrungshorizonte der Westdeutschen machen eine dezidiert bundesrepublikanische Perspektivierung der 68er-Bewegung besonders interessant. Diese unternimmt der vorliegende Band, indem er nach wesentlichen Ereignissen der Protest-Jahre fragt, Akteure der Bewegung sowie deren ideologische Grundpositionen und politische Zielsetzungen beschreibt, politische und gesellschaftliche Kontroversen der 68er Jahre analysiert und schließlich auch, auf der Basis von nun mehr als zehn Jahren geschichtswissenschaftlicher 68er-Forschung, die Wirkung der 68er-Bewegung auf die Entwicklung der Bonner Republik auszuloten versucht. Die Tatsache, dass Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Antrittsrede vom 23. März 2012 die Behauptung tätigte, erst die 68er hätten die historische Schuld der Deutschen „ins kollektive Bewusstsein gerückt“, die Aufarbeitung der NS-Geschichte sei

Einleitung

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also als eine Leistung der Protest-Bewegung zu würdigen, verdeutlicht einmal mehr, dass die historiographischen Erkenntnisse der 68er-Forschung im politischen Alltag bislang kaum Beachtung finden.39 Dies ist wohl den Gesetzen der Politik geschuldet und sollte deshalb nicht entmutigen, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den 68ern fortzusetzen. Schließlich ist es gerade diese Auseinandersetzung, die den 68er-Protest für den heutigen Betrachter anschaulich werden lässt. Und erst auf ihrem Fundament lassen sich schlüssige Aussagen darüber treffen, welche Rolle 1968 für die Geschichte der Bonner Republik gespielt hat.

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Vgl. Joachim Gauck, Unser Land, in: FAZ, 24. März 2012.

Innensichten des SDS in den Achtundsechziger Jahren Rolf Stolz Tempora mutantur et nos mutamur in illis, die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen – das ist ein Kernbestand menschlicher Erfahrung, der aber zugleich die Verlässlichkeit von Aussagen über die Vergangenheit begrenzt, selbst und erst recht wenn diese von Protagonisten stammen, die die jeweilige Epoche unmittelbar miterlebt haben. Daher können meine eigenen Eindrücke und Einschätzungen des SDS, dem ich in Köln, in Tübingen und wieder in Köln vom Herbst 1967 bis zum bitteren Ende im März 1970 angehörte,1 beim Versuch einer Verallgemeinerung in aller Bescheidenheit nur die aus der Soziologie bekannte ,mittlere Reichweite‘ beanspruchen. Andererseits ist die Bedeutung und der Erklärungswert von Analysen, die allein auf der Auswertung von Papieren und Archivalien fußen, ebenfalls ausgesprochen begrenzt. Wissenschaftler, die die späten sechziger und die siebziger Jahre nur als Kinder erlebt haben, erst recht die mit EDV und Internet aufgewachsenen Nachgeborenen, haben größte Schwierigkeiten, sich hineinzudenken in eine Zeit vor den historischen Umbrüchen der achtziger und neunziger Jahre. 1968 grassierte unter der jüngeren Generation im Nahbereich vieler Familien und in der Gesellschaft eine heute kaum vorstellbare hoch emotionale und zugleich schematisch-selbstgerechte ,Vergangenheitsbewältigung‘. Kommuniziert wurde per Briefpost, per Festnetzanschluss oder aus gelben Telefonzellen, Flugblätter wurden mit Schreibmaschine auf Wachsmatrizen getippt und von Hand herausgekurbelt. Draußen vor der Tür herrschte der eingefrorene Kalte Krieg mit einer scheinbar ewigen Spaltung Deutschlands und Europas, mit der Sowjetunion als scheinbar vordringender und technologisch den USA zumindest in naher Zukunft gleichwertiger Supermacht und als Kontrapunkt dazu in unseren Augen eine Welt hoffnungsvoll sich erhebender Völker und Befreiungsbewegungen. 1967, am Anfang des Aufbruchs, war der SDS durch den Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD von 1961 eindeutig positioniert außerhalb des parlamentarischen Parteienspektrums und gehörte zu der diffusen außerparlamentarischen Opposition, die von Kleinparteien wie der 1965 gegründeten AUD (Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger 1

In Köln firmierte die antirevisionistische SDS-Gruppe nach dem März 1970 noch weiter als SDS, fraktionierte sich aber in verschiedene Basis- und Arbeitsgruppen. Im Februar 1971 kam es zur endgültigen Spaltung: Die Mehrheit schloss sich dem KSV der KPD/AO an, die Minderheit ging als „Kommunistische Gruppe“ später im KBW auf.

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Deutscher) bis zu eher spontanen bis spontaneistischen Aktionsgruppen reichte und ein weites Feld von halbrechts bis linksaußen umspannte. Innerhalb des SDS gab es lediglich eine Richtung, die sich mehr oder weniger offen auf eine Partei bezog, nämlich die „Traditionalisten“, die über verschiedene Einzelpersonen und Kanäle Verbindung zu den Kadern der illegalen KPD bzw. ab deren Gründung am 25. September 1968 zur als „Neukonstituierung der kommunistischen Partei“ deklarierten DKP hielten, aber schon Anfang 1968 im SDS zunehmend in die Minderheit gerieten. Als die 23. Bundesdelegiertenkonferenz im September 1968 fünf Traditionalisten, denen vorgeworfen wurde, bei den Weltjugendfestspielen in Sofia „eine nicht bloß politische[,] sondern handgreifliche Infragestellung der Aktionseinheit im SDS“2 praktiziert zu haben, die Mitgliedschaft entzog, spalteten sich die Traditionalisten ab. Zunächst versuchten sie es noch mit Strukturen eines ,wahren SDS‘, gründeten aber schon 1969 die „Assoziation Marxistischer Studenten“ und 1971 den bis 1990 existierenden „Marxistischen Studentenbund Spartakus“. Die antiautoritäre Richtung im SDS, der auch ich mich zurechnete, war teils generell parteifeindlich gesonnen, teils allenfalls an einem Bündnis mit einer damals so wenig wie heute vorhandenen unabhängig-linksozialistischen Revolutionspartei interessiert. Rosa Luxemburg als Gegenpol zu Lenin, die Säulenheiligen des unorthodoxen, kritischen Marxismus wie Karl Korsch (1886–1961), der Rätekommunist Anton Pannekoek (1873–1960), Anarchisten wie Rudolf Rocker (1873–1958) oder Augustin Souchy (1892–1984) und die Weltrevolutionäre Che Guevara, Ho Chi Minh oder Mao begeisterten eine Generation, deren grob strukturiertes Weltbild sich aus Raubdruck-Lektüre und Begeisterungsgefühlen speiste und gerade nicht aus praktiziertem Marxismus, also einer dialektischen Analyse der geschichtlichen Faktoren wie der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse und Klassenkräfte.3 Für eine Einschätzung des SDS ist es zentral, seinen dezentralen Charakter zu verstehen. Die Gruppen an den einzelnen Hochschulorten agierten weitgehend autonom, die Arbeitskonferenzen auf Bundesebene waren eher Diskussionsforum 2

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So der SDS-Bundesvorstand in der Entschließung seiner Vorstandssitzung vom 10. August 1968, in Facit aktuell 3, SDS in Sofia. Dokumentation über die IX. Weltfestspiele der Jugend Studenten in Sofia vom 28. Juli bis zum 6. August 1968, Köln 1968, S. 111. „Das ,antiautoritäre Lager‘, wie die Selbstbenennung lautet, will den Kampf gegen jegliche Autorität führen und rechnet alle gesellschaftlichen Abhängigen zu seinen potentiellen Verbündeten. Diese Gruppe lehnt Arbeit in herkömmlichen Institutionen ab und versucht sich selbst als bürokratieund organisationsfeindliche ,Bewegung’ zu definieren, die sich jeweils an bestimmten Projekten kristallisiert. Das erhaltende Element dieser Gruppierung ist die politische Praxis, die allerdings Gefahr läuft, in theorielosen Aktivismus umzuschlagen, zumal sich Anleihen bei Provo-Gruppen oder Hippie-Bewegungen nicht werden vermeiden lassen. Gerade dies hat dem SDS in letzter Zeit einen starken Zuwachs an jungen Mitgliedern gebracht.“ Zit. nach Jens Hager, Die Rebellen von Berlin. Studentenpolitik an der Freien Universität. Eine Dokumentation, hg. von Hartmut Häußermann/Niels Kadritzke/Knut Nevermann, Köln 1967, S. 51.

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als Entscheidungsorgan. Der SDS-Bundesvorstand schrieb in seinem SDS-Info4 , das Info solle dazu beitragen, „den Partikularismus der Gruppen aufheben zu helfen“, was bis zum Ende des SDS ein frommer Wunsch blieb. In Köln etwa dominierten im Sommer 1967 noch wie in München und Marburg die Traditionalisten, ein Jahr später gerieten sie in die Minderheit und der Kölner SDS spaltete sich, was sich etwa nach der von uns Antiautoritären getragenen Rektoratsbesetzung im November 1968 massiv auswirkte. In seinem Antrag auf Ausschluss der fünf zunächst suspendierten SDS-Mitglieder, die bei den Weltjugendfestspielen in Sofia sich auf die Seite der staatssozialistischen Repression geschlagen hatten, benennt der Bundesvorstand das als Gefahr, was oft genug längst Alltag war: „Den SDS bloß noch als organisatorische Hülle mit gemeinsamen Abziehmaschinen zu begreifen, vernachlässigt den grundlegenden Anspruch sozialistischer Organisation.“5 Ich will versuchen, zwölf grundsätzliche Problemkreise und die mit ihnen verbundenen Haltungs- und Handlungsalternativen zu beschreiben, die im SDS 1967/68 eine Rolle spielten, ohne dass sich dafür Verteilungsprozente angeben lassen. Es geht hier um die großen Linien und groben Konturen, nicht um filigrane Details. Natürlich gab es auch im SDS Einzelpersonen, die ihre Positionen wechselten und andere, die zeitweise in entschlussloser Neutralität verharrten. Zu diesen möglichen Standpunkten muss man wie üblich die Variante totaler opportunistischer Haltlosigkeit mitdenken.

1 Deutschland Seit 2000 Jahren, seit dem Vorstoß der Römer nach Germanien, wie auch in den 1000 Jahren vom nachkarolingischen Ostreich bis zum heutigen Restdeutschland hat es dem großen Mittelland des Kontinents nie an äußeren Feinden und nie an heimischen Verrätern und potentiellen Quislingen gefehlt. Auch im SDS gab es schon deutsche Antideutsche. Aber ihre Zahl war gering und Wahnvorstellungen, wie die fixe Idee Joschka Fischers von der Teilung Deutschlands als verdiente Strafe für Auschwitz, schlummerten noch im Dämmer abseitiger Bauchgefühle. Selbst die Traditionalisten bezogen sich – trotz all ihrer Servilität gegenüber den Sowjetgenossen – positiv auf die deutsche Arbeiterbewegung und sehnten sich 4 5

SDS-Info Nr. 1, Jg. 1, 4. November 1968, vermutlich in Wirklichkeit 8. Dezember 1968. In: Facit aktuell 3, SDS in SOFIA. Dokumentation über die IX. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Sofia vom 28. Juli bis zum 6. August 1968, Köln 1968, S. 111. Diese Propagandaschrift der prosowjetischen Traditionalisten zeigt auf der Titelseite ein Foto, auf dem bulgarische Geheimdienst-Schläger Karl Dietrich Wolff zu Boden werfen – darunter die zynische Erläuterung „Begeisterte Festivalteilnehmer versuchen den Bundesvorsitzenden des SDS auf die Schultern zu heben. Der Vorsitzende lehnt bescheiden ab.“

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insgeheim nach einem sozialistischen Gesamtdeutschland. Offiziell galt ja immer noch – bis 1976 – das Programm der SED vom Januar 1963 mit den Sätzen: „Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hält unverrückbar an ihrem Ziel der Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands, an der Überwindung der von den imperialistischen Westmächten im Komplott mit dem westdeutschen Monopolkapital vollzogenen Spaltung fest. Auch der Kampf für ein einheitliches, demokratisches und friedliches Deutschland gehört zu den guten Traditionen der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung.“6 In der Tat hatte sich das Elend der Spaltung und die Sehnsucht nach neuer Einheit „tief ins kollektive Unterbewusstsein einer ganzen Generation eingesenkt“7 und blieb wirksam, „solange die Deutschen mit ihrer eigenen Staatlichkeit nicht ins Reine gekommen sind.“8 Eine Minderheit führender SDS-Mitglieder entwickelte Mitte der sechziger Jahre Ansätze zu einer Verbindung von Internationalismus und Patriotismus. Bernd Rabehl etwa bezog sich 1967 in einer internen Stellungnahme positiv auf den „Befreiungsnationalismus“ Frantz Fanons, sprach dabei allerdings sehr unpräzise und missverständlich von „Nationalismus“, wo er Selbstbestimmung meinte: „Die marxistische Linke muss Ansätze des Nationalismus weitertreiben, gerade auf den neuralgischen Punkt, dass Deutschland geteilt wurde durch den Bundesgenossen USA, der diese Teilung ab Teheran sanktionierte. [. . . ] Der Nationalismus in dieser Form ist eine Art Sammlung, schafft ein Bündnis zwischen den einzelnen Sozialisten, die dadurch politisch wirksam werden können.“9 1947 schrieb Johannes R. Becher, der Dichter und spätere Kulturminister der DDR:10 „Ein Revolutionär ist, wer seine deutsche Heimat nicht verleugnet und gerade in dieser schweren Notzeit unseres Volkes sich in seiner Liebe zu Deutschland nicht beirren lässt. Ein Revolutionär ist, der dem Namen Deutschland einen neuen, freiheitlichen Sinn gibt und einen echten Klang. Das ist unsere Auffassung eines Revolutionärs, und wir lassen uns in dieser Auffassung auch nicht irremachen dadurch, dass nach berüchtigtem Muster reaktionäre Ansichten in revolutionärer Maskierung auftreten und uns der Bürgerlichkeit bezichtigen.“11 Nur wenige SDSler entsprachen diesen Kriterien. Nur eine Minderheit hatte sich die Erkenntnis

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In: Peter Brandt/Herbert Ammon (Hg.), Die Linke und die deutsche Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 226. Hans-Peter Schwarz, Die Legende von der verpassten Gelegenheit. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 (= Rhöndorfer Gespräche, Bd. 5), Stuttgart/Zürich 1982, S. 13. Arnulf Baring, Diskussionsbeitrag in: Ebd., S. 82. In: Günter Bartsch, Revolution von rechts?, Freiburg 1975, S. 124. Von 1954 bis 1958. Johannes R. Becher, Wir, Volk der Deutschen. Rede auf der 1. Bundeskonferenz des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands (21. Mai 1947), Berlin 1947, S. 81.

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erarbeitet, dass „die Spaltung Deutschlands als das nationale Hauptproblem“ und „die Wiedervereinigung als die vordringlichste Aufgabe aller, denen an der Einheit der Nation wahrhaft gelegen ist“ anzusehen seien und deshalb gelte: „Wenn Europa die Spaltung überwinden will, muss die Trennung der Deutschen in Ost und West überwunden werden.“12 Unklar und umstritten blieb im SDS, ob den zwei deutschen Staaten Dauer beschieden sein werde. Der innere Zusammenhang der beiden Separatstaaten aber war den meisten bewusst. Rudi Dutschke sagte dazu: „Die beiden deutschen Staaten waren nie Alternative füreinander. Sie bedingten und bedingen einander in den verschiedensten Formen, um die Beleidigten, Unterdrückten und Ausgebeuteten nicht zu ihrem Recht kommen zu lassen.“13 Die meisten Antiautoritären entwickelten zwar angesichts der Übermacht des rheinisch-bajuwarischen Westpartikularismus keine positiv besetzte nationale Identität und kein gesamtdeutsches Bewusstsein, aber auch ihnen ging es um das, was sie für des Landes Bestes hielten und auch ihnen war Deutschland Basis und Zielpunkt ihres Veränderungswillens. Eine spezielle separatistische Weststaatsbegeisterung gab es im SDS eher selten: Das Hauptstädtchen Bonn erschien uns ohnehin mit einem Bon(n)mot des Botschafters a. D. Paul Kurbjuhn als „Micropole am Rhein“. Und was Josef Joffe 1992 auf 1949 zurückblickend schrieb, empfanden die meisten von uns 1968 ähnlich: „Den Deutschen ist die Demokratie halb geschenkt, halb auferlegt worden – unter den geladenen Gewehren der westlichen Sieger.“14 Willy Brandt konnte 1971 Jacques Duclos (1896–1975), den Vorsitzenden der Senatsfraktion der Kommunistischen Partei Frankreichs und Präsidentschaftskandidaten, mit folgendem Bekenntnis zitieren: „Wir sind Patrioten und Internationalisten zugleich. [. . . ] Das bedeutet, dass wir entschlossene Gegner dessen sind, was man den nationalen Nihilismus nennen kann.“15 Selbsthass, Selbstverneinung und Nationalallergie waren 1968 noch seltene Krankheiten und eher verbreitet bei gewissen protestantischen Sühnefanatikern und den staatlich geförderten Kleineuropa-Propagandisten. Die simplen schwarzen Legenden über einen durchgängigen „Herrenmenschendünkel und Untertanengeist“ Preußens und der bürgerlichen Schichten des Kaiserreichs, der angeblich direkt den Faschismus vorbereitete,16 12 13 14 15 16

Herbert Wehner im Interview mit dem Vorwärts vom 14. Dezember 1966, in: Otto Blessing (Hg.), Deutsche Friedenspolitik. Dokumente und Kommentar, Troisdorf 1967, S. 56. Zur nationalen Frage, in: das da/avanti 10, 10. Oktober 1978. SZ, 5./6. Dezember 1992. Bericht zur Lage der Nation vor dem Bundestag am 28. Januar 1971, in: Peter Brandt/Herbert Ammon (Hg.), Die Linke und die deutsche Frage, S. 316. So Reinhard Kühnl, Nation – Nationalismus – nationale Frage. Was ist das und was soll das?, Köln 1986, S. 93.

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hatten erst Jahre später Konjunktur. Auch das missglückte Orakel des Dichters Dieter Wellershoff von 1979 ist schon geprägt vom Geist jener Restaurationsperiode, die als Eiszeit auf die Revolutionshoffnungen und die Entspannungsversprechungen der frühen siebziger Jahre folgte: „Es gibt die Bundesrepublik und die DDR, es gibt die ehemaligen deutschen Ostprovinzen, die jetzt zu Polen oder der Sowjetunion gehören, aber es gibt nicht mehr Deutschland, und es wird es nie mehr geben [. . . ]. Und das heißt, dass auch die deutsche Nation dabei ist zu verschwinden.“17 Noch radikaler äußerte sich Arno Klönne 1978 in seinem Artikel Vorsicht, nationale Sozialisten, das Andreotti-Verdikt über Deutschland vorwegnehmend: „Den Nachbarländern fällt es schwer genug, zwei solcher Nachfolgestaaten zu verkraften, würde wieder einer daraus, wär’s zuviel für sie.“18

2 Antifaschismus Es gab im SDS einen antifaschistischen Grundkonsens quer durch alle Lager und Fraktionen. Natürlich war er stärker von Gefühlen des Abscheus und der Wut gegenüber den Verbrechen und gegenüber all den nachträglichen Rechtfertigungsund Vertuschungsversuchen geprägt als von einer kritischen Analyse der Ursachen und Verlaufsformen des europäischen Faschismus und der Spezifika des deutschen Nationalsozialismus. Dennoch gab es damals durchgängig zwei Erkenntnisse: Der Faschismus entstand aus Vorbelastungen (ideologische Vorarbeiten, ungelöste soziale und nationale Konflikte usw.), aus dem kriegserzeugenden chauvinistischimperialistischen Raubfrieden von Versailles (so Lenin) und aus der Weltwirtschaftskrise. Die seltsame Vorstellung, den deutschen Nationalsozialismus vom fast schon guten nicht-deutschen Faschismus abzutrennen, die Glorifizierung der westlichen Imperialisten von Clemenceau bis zu Churchill und Roosevelt als friedliche Demokraten, die Alleinschuld-Konstruktionen, die Verengung der Perspektive auf den europäischen Kriegsschauplatz und auf das Geschehen nach Kriegsbeginn fanden im damaligen SDS so gut wie keinen Widerhall. In keinem Land gab es ein monolithisch faschistisches Volk. Für kein Land traf die Kollektivschuld-These zu, stets war sie eine gezielte Fiktion zur Entschuldung der Täter und zur Lähmung des Volkswiderstands. Das „Andere Deutschland“ des Widerstands, zu dem Linke und Rechte, Sozialisten und Monarchisten, Zentralstaatsverfechter und Föderalisten, Adlige und klassenbewusste Proletarier, konsequent

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Dieter Wellershoff , Deutschland – ein Schwebezustand, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, Bd. 1, Nation und Republik, Frankfurt am Main 1979, S. 77. In: das da/avanti 11, November 1978.

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demokratische Bürger und humanistisch gesonnene Unternehmer gehörten, war eine Realität, auch wenn es weder 1933 noch nach 1945 stark genug war, um die Macht zu erobern. Wir SDSler standen zum antifaschistischen Kampf der Arbeiterbewegung wie zu den Widerstandskräften in den Kirchen und im Militär. Die ahistorischbesserwisserische Hetze gegen die Männer des 20. Juli 1944, der Mißbrauch von Auschwitz zu psychologischer Kriegsführung und Schuldhysterieproduktion steckte damals erst in den Kinderschuhen. Rudi Dutschke hatte vollkommen recht mit seiner von Peter Schneider berichteten Einschätzung: „Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen. Wir müssen erst einmal etwas Positives gegen diese Vergangenheit setzen.“19 Dies war eben keine Verdrängung der Geschichte, sondern Ergebnis der nüchternen Einsicht, dass in der Politik wie in der Pädagogik nur durch das positive Beispiel und Erfolgserlebnisse, nicht aber durch Verdammung und Verneinung Fortschritte erreicht werden können. Dass die schwarze Pädagogik, die schon den Kindergartenkindern Deutschland als Land der Henker und als Wurzel allen Übels nahe bringt, ungewollt eher bewusste wie unbewusste Neonazis heranbildet als Jungdemokraten, beweist die Richtigkeit dieser Maxime.

3 Die Eltern und Großeltern Jede Jugendbewegung protestiert gegen die ältere Generation, will ihrem Selbstverständnis nach alles anders und viel besser machen. Auch im SDS gab es dieses Gefühl und natürlich gab es etliche, die spätbürgerliche Kleinkriege mit ihren eigenen Eltern austrugen. Aus dieser Kategorie stammten jene Mitläufer des 68er Protests, die nach vierzig Jahren im Spiegel auf ihre glorreiche Jugend zurückblickten, und sich dann zu erinnern meinten, damals hätten alle jungen Linken gegen ihre autoritären Eltern rebelliert. Das traf nicht zu. Meine Eltern entsprachen sicher nicht dem 08/15-Standard, aber etliche Genossen hatten ähnliche Eltern und wie ich ein von Herzlichkeit und Respekt geprägtes Verhältnis. Es gab nun einmal Eltern und Großeltern, die im „Dritten Reich“ nicht zu den Tätern, sondern zu den faktischen oder potentiellen Opfern gehört hatten und die weder faschistoid, noch militaristisch, noch obrigkeitshörig waren, ihre Kinder weder missbrauchten noch verprügelten und auch dann, wenn sie deren politische und private Eskapaden nicht teilten und nicht immer nachvollziehen konnten, mit Toleranz und Wohlwollen reagierten.

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In: Tilman P. Fichter/Siegward Lönnendonker, Dutschkes Deutschland. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund, die nationale Frage und die DDR-Kritik von links, Essen 2011, S. 73.

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4 Die Familie Gewisse vom Feuilleton und vom Boulevard hochgeschriebene und aufgeblasene Oberflächenphänomene à la „Kommune 1“ verführen den, der diese Zeit nicht bewusst bzw. nicht innerhalb des SDS erlebt hat, dazu, die Gender-Fixiertheit unserer Gegenwart oder die sexuelle Libertinage der späten siebziger und frühen achtziger Jahre, also der Vor-AIDS-Epoche, bruchlos zu übertragen auf das Ende der sechziger Jahre. Das ist alles andere als sachgerecht. Der fröhliche Wunsch, nicht zweimal mit derselben zu pennen, Orgien und Gruppensex fanden sich nur ganz am Rande des SDS und wahrscheinlich nicht häufiger als zu dieser Zeit in einer beliebigen Vorstadtsiedlung. Der erste Kuss erst am zweiten oder dritten Abend, eine offizielle Verlobung, eine Eheschließung mitten im Studium und ohne dass ein Kind unterwegs war (ich heiratete in solch einer Konstellation mit dreiundzwanzig20 ) – das war damals alles andere als eine Ausnahme. Natürlich kannte man im SDS die einschlägigen Aufrufe der Krupskaja zur Abschaffung der Familie und der Kollontai zur freien Liebe, aber mir und vielen anderen Genossen erschienen diese eher als ein privater Spleen denn als eine allgemeingültige Handlungsmaxime.

5 Das Kollektiv, die einfachen Genossen, die Führer Die Erklärung, die der SDS fünf Tage nach dem Tod Benno Ohnesorgs in 80.000 Exemplaren drucken ließ, stieß auf eine gewaltige Resonanz. Von diesem Moment an bewegte sich die Organisation als einflussreichste Kraft im Strom einer realen Massenbewegung der Jugend und der Intellektuellen. In Hannover etwa, wo noch keine SDS-Gruppe existierte, wollten sogleich fünfzig Studenten Mitglied werden. In etlichen SDS-Gruppen wurde sogar ein zeitweiliger Aufnahmestopp verhängt, wurden Kandidatenzeiten und Mitgliedschaftskriterien fixiert. Ab dem Sommer 1967 war der SDS treibende und führende Kraft einer breiten Bewegung.21

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Das durchschnittliche Erstheiratsalter betrug 1970 bei Männern in Westdeutschland 25,6 Jahre – es erhöhte sich bis 1993 auf 29,3 Jahre. Während in den fünfziger und sechziger Jahren die Heiratshäufigkeit hoch lag – unter den zwischen 1930 und 1949 Geborenen heirateten über 90 Prozent, werden von den nach 1960 Geborenen wohl 40 Prozent bis 50 Prozent lebenslang unverheiratet bleiben. Vgl. Bernhard Schäfers/Wolfgang Zapf (Hg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Bonn 1998, S. 77. Der Spiegel bestätigte in seiner Nr. 7 vom 12. Februar 1968, gestützt auf eine Umfrage von Emnid, dass der ständige Hinweis auf eine ‚winzige unzufriedene Minderheit‘ nicht stimmt. „Es ist sicher eine winzige Minderheit, die Steine wirft; aber es ist die Mehrheit der Studenten, die unzufrieden ist. Nach dieser Umfrage billigen 67 von 100 Jugendlichen und 74 von 100 Studenten Proteste und Demonstrationen. 58 Prozent und 67 Prozent sind jeweils auch bereit, selbst mitzuprotestieren.“ In: Otto Wilfert, Lästige Linke, Mainz 1968, S. 60.

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Das Kollektiv, die örtliche SDS-Gruppe, der eigene Fraktions- und Diskussionskreis spielte für mich wie für die meisten anderen Genossen eine zentrale Rolle, was aber dennoch viel Raum für persönliche Anarchie und individuelle Sonderwelten (bei mir vor allem die Wort-Kunst) ließ, denn zumindest wir Antiautoritäre lehnten es ab, uns von Vorständen dirigieren zu lassen. Wir hatten eine ebenso rudimentäre wie rigorose Vorstellung von Basisdemokratie, ohne dass wir diesen Primärbegriff der achtziger Jahre in nennenswertem Umfang benutzten: Alle Entscheidungen im SDS sollten von der örtlichen Mitgliederversammlung ausgehen, die örtlichen Vorstände nur begrenzte Mandate für Propaganda und Organisatorisches haben. Der Bundesebene billigten wir nur das Recht zu, provisorische Proklamationen zu verkünden, die dann vor Ort nachvollzogen wurden oder auch nicht. Der hohe emotionale Stellenwert des Kollektivs erklärt auch, warum so viele SDSler sich nach 1969 recht bruchlos einfügten in Parteien einerseits der ML-Bewegung, andererseits in die DKP und in trotzkistische Gruppen. Die gruppendynamischen Mechanismen und persönlichen Sehnsüchte nach Aufgehobenheit und Geborgenheit waren im Regelfall stärker als die antiautoritäre Ideologie. Verstärkt wurde dies durch ein Verdrängen und Verleugnen politischer Führung. Günter Amendt etwa erklärte apodiktisch: „Eine antiautoritäre Bewegung bedarf keines Führers, hat sie eine, dann ist sie nicht antiautoritär.“22 In Richtung auf eine Unterwerfung unter die Parteidisziplin wirkte auch die Tatsache, dass trotz aller verbalisierten Gleichheitstheoreme es in allen SDS-Gruppen ein beträchtliches Gefälle gab zwischen den einfachen Mitgliedern (sozusagen den praxelnden, flugblattverteilenden „Fratres“) und den schriftgelehrten Führern (also den allein in die Arkana des Marxismus eingeweihten „Patres“). Besonders spürbar war dies im Kölner SDS des Herbstes 1967, als noch eine Traditionalisten-Riege älterer Buchstabendeuter um Herbert Lederer23 und Bernd Hartmann24 die Szene beherrschte und wir als Kandidaten schüchtern-sprachlos deren Geplänkeln mit der damals noch recht einflusslosen antiautoritären Minderheit folgten. Im Frühjahr/Sommer 1968 lernte ich dann im Tübinger SDS eine ähnliche, aber nun von antiautoritären Kleinkönigen dominierte Zwei-Klassen-Gesellschaft kennen – was ich dann vergleichbar im Herbst 1968 bei meiner Rückkehr nach Köln vorfand, wo sich

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Günter Amendt, Über die trostlose Generation, in: Günter Amendt u.a., Kinderkreuzzug oder Beginnt die Revolution in den Schulen?, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 14. Mitglied des SDS-Bundesvorstandes 1967/68 und Mitglied des Parteivorstandes der DKP ab 1969, später Rechtsanwalt in Essen. „Bernd Hartmann (ehemals SDS-Vorsitzender in Köln, aus diesem als ‚Traditionalist‘ und Revi rausgeschmissen; heute Mitglied des ZK der DKP und persönlicher Sekretär des DKP-Vorsitzenden Bachmann)“, Heinz Schneider (SDS Köln): in: Apo press Köln 5, 1. Juni 1970.

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inzwischen der SDS gespalten hatte und in der offiziellen SDS-Gruppe die Antiautoritären das Wort führten. Es hatte sich eine informelle Leitung herausgebildet, in der zunächst einmal eine Gruppe theorieloser bis theoriefeindlicher Anarcho-Aktivisten um das Triumvirat Otto Kellner, Lothar Gothe25 und Rainer Kippe26 an der Spitze stand. (Die Traditionalisten hatten sich zurückgezogen in einen Separatverein, in dem die Gründung des MSB Spartakus als DKP-Studentenorganisation vorbereitet wurde.) Als sich 1969 eine eher marxistisch ausgebildete und argumentierende Richtung um Kurt Holl und Heinz Schneider durchsetzte, warfen sich Kippe und Gothe auf die außeruniversitäre Obdachlosenarbeit und die Organisierung der Deklassierten in ihrem Projekt SSK („Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln“). Otto Kellner verschwand im Orkus seelischer Probleme27 , während sich aus dem SDS heraus eine politisch zwischen Klassikerstudium und Betriebszellenarbeit („Kader in die Betriebe schicken“) und ideologisch zwischen Linkssozialismus und Maoismus oszillierende lokale Gruppe entwickelte.

6 Das deutsche Volk Der jüdische Philosoph und Politologe Ludwig Freund (1898–1970) hat 1965 festgestellt: „Wir müssen uns damit abfinden, dass der Deutschenhass einiger ,liberaler‘ Kreise im westlichen Ausland das darstellt, was ein englischer Autor einmal den ,Antisemitismus der modernen Liberalen’ genannt hat, das heißt: es ist aussichtslos, mit ihnen vernünftig zu diskutieren. ,To argue with such people is uphill work.’28 Während in England und Amerika der Rassismus von den liberalen und intellektuellen Kreisen allen Gruppen im In- und Ausland gegenüber verurteilt wird, halten nicht unbedeutende und im Gegenteil sehr einflussreiche Segmente derselben intellektuellen

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Lothar Gothe, Jahrgang 1943, heute Bio-Bauer im Oberbergischen, erläuterte zu Weihnachten 1968 in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger seine Haltung als religiöser Sozialist („Jesus, der erste 68er“). In der UdSSR sah er dabei „50 Jahre Konterrevolution“. Für Gothe war damals Stalin eine Art Paulus und damit in seinen Augen ein Verfälscher eines durch Lug und Trug übernommenen Erbes. Diplom-Sozialarbeiter, Jahrgang 1944, heute engagiert gegen eine Politik des Sozialabbaus und der Stadtzerstörung und in Sachen Transpersonaler Psychologie und Holotroper Atemarbeit. Siehe die dritte meiner „Drei episodischen Geschichten“, in: Rolf Stolz, Der unverminderte Schrecken, Frankfurt am Main 1991, S. 100ff. Constantine Fitzgibbon, in: The Observer, 18. Mai 1962, zit. nach Norbert Muhlen, The US-Image of Germany, 1962, as Reflected in American Books, New York 1962, S. 427.

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Schicht und zahlreiche ihnen folgende, nichtintellektuelle Bevölkerungsgruppen rassische Vorurteile gegenüber den ,unwandelbaren’ Deutschen für völlig legitim.“29 Wir jungen Deutschen begegneten Überlebenden des Nazi-Systems, die unendlich gelitten und oft auch Angehörige in den KZs verloren hatten. Nicht immer waren sie stark genug, um uns – also möglicherweise den Kindern von Mördern – vorbehaltlos die Hand zu reichen. Andererseits stießen wir in den sechziger Jahren schon im benachbarten Holland immer mal wieder auf einen primitiv-dummen Deutschenhass. Dessen Verbreiter, die fröhlich die holländischen Kollaborateure oder die Kolonialgräuel der eigenen Landsleute in Indonesien ausblendeten, wussten natürlich, dass wir aufgrund der Gnade der späten Geburt keine Kriegsverbrechen begangen haben konnten. In dieser Zeit war es verzeihbar und mehr als verständlich, dass nur die besonders Bewussten und Mutigen sich klar zum deutschen Volk bekannten. Ich habe in meinem Buch Der deutsche Komplex beschrieben, wie ich 1967 als Achtzehnjähriger mich „zum staatenlosen Freischärler erklärt“ habe, „bis ich merkte, dass dies nur eine Flucht vor sich selber ist.“30 Spätestens 1968 hatte ich – die intensive Lektüre der Schriften von Marx und Engels zur deutschen Arbeiterbewegung hatte diesen Klärungsprozess begleitet – meinen Frieden mit unserem Volk gemacht. Hilfreich war für mich dabei das Nachdenken über meine Familiengeschichte – meine Vorfahren hatten stets am Rande Deutschlands bzw. jenseits seiner Grenzen gelebt und als Minderheit in der Minderheit am eigenen Leibe erlebt, was es bedeutet, sich dazuzurechnen, ohne je ganz dazuzugehören. Auch wenn ich als patriotischer Internationalist im damaligen SDS nicht zur politischen Mehrheit gehörte, auch wenn bei vielen Genossen die Positionen der Wolff-Brüder,31 die eine Art leise, leichte Nationalallergie vertraten, vorherrschten – es gab damals im SDS keine nennenswerte Gruppe, die in Analogie zu der leicht umformulierten Traditionsparole aus den dreißiger Jahren „Deutschland verrecke!“ brüllte oder wie gewisse Antifaler heute aus Abscheu vor der deutschen Sprache ihre gesamte Propaganda nur noch auf Englisch verbreitete. In Ermangelung eines Nazi-Vaters geriet ich nicht in die seelischen Konflikte und psychopolitischen Abwege eines Jens Hagen (1944–2004), der als nicht ganz einfluss29 30 31

Ludwig Freund, Außenpolitische Grundsätze. Deutschland und die friedliche Koexistenz. Aus dem Göttinger Arbeitskreis, Würzburg 1965, S. 50f. Rolf Stolz, Der deutsche Komplex. Alternativen zur Selbstverleugnung, Erlangen 1990, S. 9. Der Musiker Frank Wolff (*1945) und sein Bruder, der Jurist und spätere Verleger Karl Dietrich Wolff (*1943), waren 1967/68 SDS-Bundesvorsitzende. Auch der dritte Bruder, der Soziologe und Erziehungswissenschaftler Reinhart Wolff (*1939), war im SDS aktiv.

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loser SDS-Traditionalist und DKP-naher Schriftsteller zeitlebens sich aufrieb an einer Mischung aus Hass und Bewunderung für seinen Vater, den SS-Sturmbannführer Herbert Hagen (1913–1999), als Kriegsverbrecher 1955 in Frankreich in Abwesenheit zu lebenslänglichem Arbeitslager und 1980 in Deutschland zu 12 Jahren Haft verurteilt32 und einst nach Klaus Barbie und Kurt Lischka der drittmächtigste Deutsche im besetzten Frankreich, zuvor 1937 als Leiter des SD-Judenreferats der Vorgesetzte Adolf Eichmanns. Diese Konstellation führte Jens Hagen nicht allein zu Krankheit und verfrühtem Tod, sondern auch zu so absurden Dingen wie seinem Mitte der neunziger Jahre gescheiterten Vorstoß, das (Un)Wort „deutsch“ aus dem Namen des VS, des „Verbandes Deutscher Schriftsteller“, zu streichen.

7 Das Establishment, die Herrschenden Der Philosoph Günther Anders antwortete 1963 auf eine Umfrage mehrerer Zeitschriften (u.a. Konkret) zum Thema „Warum sind Sie gegen ein deutsches Notstandsgesetz?“: „Ich bin gegen das deutsche Notstandsgesetz, weil durch dieses der schon bestehende Notstand der deutschen Demokratie legalisiert, besiegelt und verewigt werden soll.“33 Peter Brandt beschrieb Ende 1968 die Gegen-Bewegung, die auf diese politische Situation reagierte: „Zum ersten Mal seit der Machtergreifung Hitlers erlebt Westdeutschland das Phänomen einer radikalen Opposition gegen seine Gesellschaftsordnung. Diese Opposition begann als demokratischer Protest gegen den Vietnamkrieg, die Große Koalition und die Notstandsgesetze. Da die außerparlamentarische Bewegung zunächst fast ausschließlich von Studenten getragen wurde, spielte und spielt der Kampf um die Reform der Hochschulen eine sehr wichtige Rolle. Es gelang der Studentenbewegung weitgehend, die unmittelbaren Interessen an einer Veränderung mit der ,großen Politik‘ zu vermitteln.“34 Wir sahen uns als geistige Elite im Dienste des Volkes und der Menschheit, zugleich aber machtpolitisch als „die da unten“, als Erniedrigte und Beleidigte. Dass manche von uns aus den höheren Kreisen stammten (nicht zuletzt unter den ausländischen Genossen fanden sich Söhne chilenischer Großgrundbesitzer oder der panamesischen Oberschicht, die später durchaus Karriere machten als Diplomaten oder in 32 33

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Nach vier Jahren wurde er wieder freigelassen. Hans Heinz Holz/Paul Neuhöffer, Griff nach der Diktatur? Texte, Kommentare, Stellungnahmen zur geplanten Notstandsgesetzgebung, Köln 1965, S. 150. Über die Bedeutung einer sozialistischen Schülerorganisation – Für eine revolutionäre Organisation der Jugend, in: Günter Amendt u.a., Kinderkreuzzug, S. 90.

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der Hochfinanz), wurde eher nicht zum Thema gemacht und allenfalls vorbewusst wahrgenommen. Oder es wurde erledigt mit der schönen Geschichte des führenden Kölner SDSlers Heinz Schneider von seinem Vater, der als überzeugter Kommunist dennoch ein deutscher Direktor wurde und nun die Revolution unterstützte durch das Finanzieren seines vor allem die Klassiker studierenden Sohnes.35 Man kann schon sagen, dass bei uns ein falsches Bewusstsein, eine falsche Selbstsicherheit existierte, was die Aussichten betraf, wer denn von uns nach Ende des Studiums bei der roten Fahne der Revolution bleiben werde und wer sich auf den kurzen Marsch zur bürgerlichen Karriere begeben und als kapitalgläubiger Konvertit hinfort dem Maximalprofit sein Hosianna darbringen werde. Gerade dadurch, dass diese Frage verdrängt und nicht offen aufgearbeitet wurde, blieb es den einzelnen überlassen, was aus ihnen wurde. Die einen wurden vom Berufsverbot aus der Bahn geworfen, drifteten ab in Richtung Taxifahrer, andere wurden, statt sich als „Produktionskader“ zu behaupten, als Hilfsarbeiter im Betrieb verschlissen. Nur wenige schafften dort den Aufstieg zum auch in der Gewerkschaft einflussreichen Betriebesratsvorsitzenden, während gerade diejenigen, die in die in Zeiten des „Extremistenerlasses“ ein wenig freiere Wirtschaft gingen, häufig durchaus saturierte Stellungen erreichten. Meist wurden bei Neueinstellungen in den Großbetrieben nur die Arbeiter mit dem Verfassungsschutz abgeglichen, während man bei den Akademikern darauf in der Erwartung verzichtete, dass die politischen Jugendflausen sich unter der heißen Sonne des Profitstrebens schon bald auflösen würden. In der Tat endete für viele der Marsch durch die Institutionen dort, wo schon zahlreiche nicht ins Exil gegangene 1848er geendet waren: im Schoß der bürgerlichen Parteien und in diversen Amtssesseln. Manche derjenigen, die es nicht so weit brachten, lebten dafür ihre Frustrationen und Neidgefühle um so heftiger aus, indem etwa simple Verwaltungsangestellte in der Chemischen Industrie verantwortlich gemacht wurden für „Zyklon B“ und „Agent Orange“, für Auschwitz und My Lai.36

8 Die Rechten Durchgängig empfanden wir uns als Gegner der parteipolitischen Rechten – sprich der CDU/CSU, der FDP, der NPD. Konservative außerhalb der Parteien – nicht zuletzt die Burschenschaften – betrachteten wir mit Misstrauen und Aversion. Andererseits gab es manche Berührungspunkte mit Korporierten. Führende Köpfe

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Über seinem Schreibtisch hing einige Zeit eine Art Selbstinstruktion: „Jeden Tag 50 Seiten lesen!“ Das Massaker von My Lai (Son My) am 16. März 1968 war ein amerikanisches Kriegsverbrechen mit rund 500 ermordeten vietnamesischen Zivilisten.

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des SDS wie Hans-Jürgen Krahl (1943–1970) kamen schließlich von dort. Begeistert vom großen Aufbruch stellten etwa in Tübingen 1968 zwei mensurerprobte Burschenschafter den Antrag auf Aufnahme in den SDS, was zwar mit Überraschung, aber ohne aggressive Abwehr aufgenommen wurde, auch wenn es letztlich nicht dazu kam. In Köln verkaufte der Burschenschafter Stefan Kretschmar, ein Freund des Nationalneutralisten und Herausgebers der Neuen Politik Wolf Schenke, über Jahre hinweg unangefochten Mao-Literatur in der Mensa. Ein vages Bewusstsein, wie sehr der SDS und die gesamte 68er Bewegung trotz äußerlicher Übereinstimmung in Parolen und Kostümierungen mit dem französischen Mai und der amerikanischen Studentenbewegung letztlich doch ein spezifisch deutsches Phänomen war, existierte bei vielen SDS-Genossen, ohne dass es politisch produktiv wurde in einem Versuch der Einigung über die Lagergrenzen hinweg, wie er den Gründungsgrünen von Gruhl bis Dutschke im Herbst 1979 für kurze Zeit gelang. In der Tat stand der SDS in einer historischen Linie mit dem nationalen Aufbruch der Jahre 1813 und 1848, war im Radikalismus, in der Begeisterung für bewaffneten Umsturz und Tyrannenmord den Giessener „Schwarzen“ und der Geheimgesellschaft der „Unbedingten“ des Karl Follen (1796–1840) sehr viel näher als allen einstigen und gegenwärtigen Linksliberalen. Der staatsoffizielle „Kampf gegen Rechts“ andererseits, die Denk-, Veröffentlichungs- und Sprechverbote der Nachwendezeit können sich eher auf Metternichs Demagogenverfolgung, den katholischen Volkswartbund und Adolf Süsterhenns „Aktion Saubere Leinwand“ berufen als auf den SDS.

9 Europa Es ist nicht abzustreiten, dass die meisten von uns ihren Horizont auf ein westliches Klein-Europa bornierten. Die DDR als russischer Vorposten und faktische SBZ, erst recht das östliche und südöstliche Europa bis zum Ural war in aller Regel nur denen wichtig, die wie Rudi Dutschke und Bernd Rabehl aus der DDR kamen37 oder die wie ich in ihrer Familie von den Vertreibungen betroffen waren. Dennoch war fast allen von uns die bürgerlich-kapitalistische (West)Europa-Begeisterung fremd und mehr als verdächtig. Das freie und bunte Europa, das wir erträumten, war eher ein Kultur-Großraum und ein Bund souveräner Nationen als ein aus Brüssel betriebener kulturfeindlich-monokultureller Zentralstaat. So sehr wir seine konkrete Politik als

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Rudi Dutschke wurde 1940 in Schönefeld bei Luckenwalde geboren. Er ging 1961 nach Westberlin. Bernd Rabehl wurde 1938 in Rathenow geboren und begann 1960 sein Studium in Westberlin.

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Außenminister und später als Kanzler kritisierten – die generelle Zielsetzung Willy Brandts, die „gesprengte Brücke“ zwischen West- und Osteuropa neu zu bauen,38 teilten wir durchaus.

10 Der Trikont Paul M. Sweezy hat in seinem Essay Die Zukunft des Kapitalismus eine Sichtweise formuliert, die damals in der radikalen Linken Allgemeingut war: „Die Wahrheit ist, dass der Kapitalismus sich in seinen Ursprungsländern von Anfang an durch Unterwerfung, Plünderung, Ausbeutung und Umformung der Mitwelt, in der er lebte, entfaltet hat. Folglich wurde der Reichtum von der Peripherie in die Metropole geschleust, folglich wurden die alten Gesellschaftssysteme an der Peripherie zerstört und zu abhängigen Satelliten umgestaltet.“39 So zutreffend diese historische Analyse war, so hatte gleichwohl unsere Begeisterung für die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt etwas abenteuerlich Naives, etwas irrational Gutgläubiges. Gerade in diesen Fragen zeigte sich, wie wenig wir tatsächlich Marx folgten. Nicht die nüchtern-scharf sezierende Untersuchung, sondern die moralisch-moralisierende Erhebung und die Selbstsuggestion, garantiert zu den Siegern der Geschichte zu gehören, bestimmten unser Denken. Dass ein Che Guevara aus Verzweiflung über Niedergang und absehbares Scheitern der kubanischen Revolution 1966 nach Bolivien ging, dass Leichen Fidel Castros Weg pflasterten (der mysteriöse Flugzeugabsturz Camilo Cienfuegos 1959, der Selbstmord von Osvaldo Dorticós 1983 usw.), dass Nord-Vietnam und der Vietcong viele Anhänger, aber auch viele Gegner unter den einfachen Menschen hatten, wussten wir damals nicht und wollten es auch nicht wissen. Dass wir den Weg des Robert Mugabe (Richard von Weizsäcker: ein „kluger, besonnener Politiker, der um Ausgleich bemüht ist"40 ) vom Freiheitshelden zum kleptokratischen Diktator so wenig vorhersahen wie die ähnliche Wandlung des angolanischen Präsidenten und Milliardärs José Eduardo dos Santos41 ergab sich geradezu zwangsläufig aus einem Übergewicht des idealistischen Sich-Wünschens, der Propaganda-Mythen, der emotionalen Trunkenheit. Allerdings hatte schon im September 1970 Karl Dietrich Wolff ernüchtert festgestellt: „Vom Diskussionspro38 39 40 41

Willy Brandt, Rede vor der Beratenden Versammlung des Europarats am 24. Januar 1967, in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung vom 26. Januar 1967. David Cooper u.a. (Hg.), Dialektik der Befreiung, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 82. Bartholomäus Grill, Oberhäuptling Comrade Bob, in: Die Zeit, 27. April 2000. Präsident Angolas seit dem Tod seines Vorgängers Agostinho Neto 1979, mit dessen Aufsatz „Angola: ein Volk im revolutionären Kampf“ eines der einflussreichsten Bücher der 68er-Bewegung beginnt: Karl Dietrich Wolff (Hg.), Tricontinental 1967–1970. Eine Auswahl, Frankfurt am Main 1970, S. 9.

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zess der antiimperialistischen Studentenbewegung, die vom SDS geführt wurde, ist heute höchstens noch übrig: ab und zu ein larmoyant-pazifistischer ,Hungermarsch‘ der kirchlichen Jugendverbände, und die stereotype Beteuerung der jeweiligen sozialistischen Gruppen, ihr jeweiliges Projekt als solches verwirkliche ,konkreten‘, möglichst sogar ,proletarischen Internationalismus‘.“42

11 Die Supermächte Im SDS gab es immer auch Kräfte, die die verheerende Nachkriegspolitik der USA – Hiroshima und Nagasaki, Kriegsgefangenenlager wie die berüchtigte „Goldene Meile“ bei Remagen, Verbot antifaschistischer Initiativen und der von Alfred Andersch herausgegebenen freiheitlich-sozialistischen Zeitschrift Der Ruf 1947 (Chefredakteur war Hans Werner Richter), Morde und oft tödliche Menschenversuche ab 1953 im CIA-Projekt „MKUltra“ unter Beteiligung deutscher KZ-Ärzte usw. – weder verdrängten noch beschönigten. Es gab aber auch die Gegenposition, die von einem positiven Amerika-(Wunsch)Bild aus argumentierte, um aus der amerikanischen Studentenbewegung und den Verfassungsversprechungen der Gründungsväter unzulässigerweise abzuleiten, die USA seien tatsächlich das Land der Freien. Letztlich bot der Widerstand gegen die amerikanische Rolle im Vietnam-Krieg für diese beiden Lager im SDS eine gemeinsame Basis: Wer 1968 bei der Demonstration zum Vietnam-Kongress in Berlin rief „USA – SA – SS“ dachte eher prinzipiell antiimperialistisch; wer „No more Ky,43 no more Johnson!“ ertönen ließ, hatte eher die aktuelle US-Regierung und ihre Kettenhunde im Blick. Kaum jemand im SDS glaubte, dass Stalin in seiner Botschaft vom 9. Mai 1945 von gutem Willen und dem Bemühen um Wahrhaftigkeit beherrscht war, als er proklamierte: „Von nun an wird das große Banner der Völkerfreiheit und des Völkerfriedens über Europa wehen.“ Die Sowjetunion wurde meist mit kritischer Distanz betrachtet, wobei das Spektrum von genereller Ablehnung (die Position der Anarchisten und Sozialrevolutionäre) bis zu Detailkritik etwa bei den Trotzkisten reichte, die alles Übel mit der Person Stalins und der Parteibürokratie verbunden sahen. Noch minimalistischer war die Kritik an der Sowjetunion und dem Ostblock innerhalb des traditionalistischen SDS-Lagers, wo man die Antiautoritären als „Bürger im Marxpelz“ diffamierte.44 Differenzen zur Parteilinie zeigten sich bei diesen 42 43 44

Ebd., S. 315. Nguyen Cao Ky (1930–2011) war Luftwaffengeneral und 1965–1967 Premierminister Südvietnams, nach weitgehender Entmachtung noch bis 1971 Vizepräsident. Vgl. Erich Eisner, Gegen die Bürger im Marxpelz. Die antiautoritären Linken in der Arbeiterbewegung, FAZIT-Reihe 2, Köln 1968 (hg. vom SDS Köln, presserechtlich verantwortlich der wegen

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Noch-Genossen eher im persönlichen Gespräch als in öffentlichen Bekundungen und auch dann ging es meist nicht um eine freiheitliche Kritik am Beton-Sozialismus, sondern etwa um das leise Eingeständnis, dass Mao seine Verdienste habe und der Verfasser einiger exzellenter Schriften sei, vor allem aber um eine klandestine Stalin-Verehrung, bei der dann Bonner SDSler zu später Stunde so hübsche Lieder sangen wie dieses: „Nach Workuta, nach Workuta / schickt die Lumpenbourgeoisie! / In dem Bleiberg, in dem Bleiberg / lasst sie schuften wie noch nie.“45

12 Die Revolution In der Resolution zur Politik des SDS Berlin vom 7. Januar 1967 hieß es, das „gegenwärtige Problem der Hochschulpolitik des SDS in Berlin“ sei, „aus den einzelnen Protestaktionen eine Politik der permanenten Universitätsrevolte zu machen.“46 Das erweiterte sich in verschiedenen Aufsätzen der Zeitschrift Neue Kritik vom Frühjahr 1967 zur Wunschvorstellung politisch-syndikalistischer Aktionen im Betrieb – jenseits der alten Organisationsformen. Den „Sinn unserer Provokationen“ sah Daniel Cohn-Bendit damals darin, dass sie „darauf abzielten, durch die Praxis das wirkliche Wesen des Systems zu demaskieren und nicht mehr nur durch rein theoretische Analyse und Kritik, die vom System integriert werden.“47 Auf dieser Linie lag auch Johannes Agnolis apodiktische Feststellung: „Nur Fundamentalopposition ist daran interessiert, politische und gesellschaftliche Missstände schonungslos aufzudecken.“48 Schon 1965 hatte der holländische Provo-Protagonist Roel van Duyn49 (*1943) proklamiert: „Die Polizei, das Heer, der gesamte Staatsapparat weg! Die Arbeiter nehmen ihre eigenen Fabriken in Beschlag, der Produktionsapparat arbeitet in den Händen

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der Ereignisse in Sofia im Sommer 1968 aus dem SDS ausgeschlossene Peter Bubenberger). Das in Anm. 4 genannte Facit stammt trotz der anderen Schreibweise von demselben Herausgeberkreis. „Eine Idiotie war meine halbherzige und winkelzügige Hinnahme Stalins als Kopf unter den Köpfen – auch wenn ich niemals die ungeteilte, anhimmelnde Begeisterung für den georgischen Moskowiter empfand, mit der einige ihre Bereitschaft offenbarten, über die Leichen der Gegner und gewesener Kampfgefährten fortzuschreiten. Aber auch ich erlag dem Effekt, zu glauben, derjenige, der von unseren Feinden verdammt werde, müsse, wenn schon kein Heiliger, dann doch ein Gerechter der Völker sein. Ein klarer Fall von Selbstbetrug – es brauchte Jahre, bis sich die notwendig schmerzliche Erkenntnis Bahn brach, dass nicht aus der Verneinung des landläufig Bejahten, sondern nur aus eigener Reflektion jene Handvoll von Einsichten stammt, auf die man hoffen kann.“ In: Rolf Stolz, Machtbestreitung. Politische Essays I, Norderstedt 2010, S. 227f. Zuerst in: Claus M. Wolfschlag (Hg.), Bye-bye ’68, Graz 1998, S. 215. Otto Wilfert, Lästige Linke. Ein Überblick über die außerparlamentarische Opposition der Intellektuellen, Studenten und Gewerkschafter, Mainz 1968, S. 52f. Gabriel und Daniel Cohn-Bendit, Linksradikalismus – Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 186. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967, S. 77. Auch „Roel van Duijn“ geschrieben.

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des Volks, und die Macht wird dezentralisiert. So geschah es teilweise in Spanien, ehe Franco das Land übernahm, so war es in der Ukraine, ehe die Kommunisten die Anarchisten vertrieben.“50 Im SDS-Flugblatt zum Tod Benno Ohnesorgs hieß es: „Der SDS fordert die Studenten zur Solidarität mit allen auf, die gegen die wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen des Kapitalismus protestieren und kämpfen. Rauchbomben, Eier und Pudding sind die Mittel einer ohnmächtigen Rebellion. Sie entsprechen der Übermacht der allgemeinen Repression und Manipulation. Zu politischen Erfolgen kann die oppositionelle Bewegung erst in dem Maße kommen, wie sich die verschiedenen oppositionellen Bewegungen koordinieren, sich zu gemeinsamen politischen Aktionen vereinen und eine einheitliche politische Perspektive entwickeln.“51 Solche Vorstöße hatten durchaus einen gewissen Widerhall im liberalen Lager. Liselotte Funcke (*1918), damals Präsidiumsmitglied der FDP und wenig später von 1969 bis 1979 Vizepräsidentin des Bundestags, erklärte am 7. Mai 1968 vor dem Bundestag, sie trete „statt falscher Harmonielehre“ für „Erziehung zum Konflikt und zur Toleranz“ ein und führte dann aus: „Es ist die Aufgabe aller politischen Parteien, über das Problem nachzudenken, ob die Schlagworte ,Keine Experimente!’ und ,Ruhe ist die erste Bürgerpflicht’ im staatspolitischen Sinne die richtigen Vokabeln sind oder ob es nicht sehr viel richtiger ist, unserem Volke, statt in Wahlanzeigen die Ruhe zu verkünden, die Unruhe zu predigen und ihm die Unruhe in echter demokratischer Auseinandersetzung lieber und werter zu machen.“52 Andererseits blieb der große Abstand zwischen der von schönen Worten à la „Mehr Demokratie wagen“ dekorierten Realpolitik der Liberalen und Sozialdemokraten und all dem, worauf die Achtundsechziger Revolte abzielte. 1970, kurz vor seinem Tod, hielt Hans Jürgen Krahl fest: „Der Verfall des bürgerlichen Individuums ist eine der wesentlichen Begründungen, aus denen die Studentenbewegung den antiautoritären Protest entwickelte. In Wirklichkeit bedeutet ihr antiautoritärer Anfang ein Trauern um den Tod des bürgerlichen Individuums, um den endgültigen Verlust der Ideologie liberaler Öffentlichkeit und herrschaftsfreier Kommunikation, die entstanden sind aus einem Solidaritätsbedürfnis, das die bürgerliche Klasse in ihren heroischen Perioden, etwa der Französischen 50 51 52

Warum heißt PROVO PROVO?, in: Oberbaum-Linkeck-Almanach 1965–1968, Berlin 1968, ohne Seitenzahlen (S. 23). Otto Wilfert, Lästige Linke, S. 52f. Liselotte Funcke, Wider den Provinzialismus. Erziehung zum Konflikt, zentrale Bildungspolitik, Weltinnenpolitik, Aktuelle Beiträge zur politischen Bildung, hg. von der Friedrich-NaumannStiftung, Heft 3, Mai 1968, S. 9 und S. 11.

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Revolution, der Menschheit versprochen hatte, das sie aber nie einzulösen vermochte [. . . ] – all diese emanzipativen Gehalte des Bürgertums sind längst zerfallen. Wir trauerten ihnen nach, wir meinten sogar, dass allein Randgruppen, Intellektuelle, privilegierte Randgruppen in Stellvertretung der Arbeiterklasse handeln und gewissermaßen eine Art Menschheitsrevolution ohne Unterschied der Klassen initiieren könnten.“53 Man kann uns im Rückblick alles Mögliche vorwerfen – Naivität, Unklarheit, Träumereien. Was man uns nicht vorwerfen kann: dass wir nicht gewaltbereit gewesen wären. Auch diejenigen, die wie ich den RAF-Terror von Anfang an offensiv bekämpften, setzten zumindest in der Gegenwehr eher auf die Faust als auf die Stimmbänder und das Papier. Karl Follens Leitsatz „Wir müssen die Volksfreiheit erlangen durch jedes Mittel, welches nur immer sich uns bietet“,54 hätten die meisten SDSler 1968 unbedingt unterschrieben. Wir gingen auf einem schmalen Grat – Opfer wie Benno Ohnesorg oder Straftäter wie die RAF-Leute zu werden war manchmal nicht allzu weit entfernt. Als ein führender SDS-Genosse während einer unangemeldeten schnellen Demonstration einen Pflasterstein in den Mercedes eines Obristen-Politikers warf, der vor dem griechischen Konsulat in Köln parkte, rannten dessen Anhänger mit gezückten Messern hinter uns her. Ich flüchtete wie alle anderen auch und wurde witzigerweise ausgerechnet von einer Gruppe Polizisten gerettet. Hätte ich ihnen sagen sollen, dass ich ein Stilett in der Tasche hatte, nur so zum Schutz? Einige, und ich gehörte dazu, hatten großes Glück oder einen kräftigen Schutzengel, der sie scharf am Abgrund entlang durch eine Zeit voller Versuchungen und Absturzmöglichkeiten lotste, und sie vor der größten aller Gefahren bewahrte, nämlich der, als Revolutionär nicht nur von der Revolution zu reden und zu träumen, sondern ihren Beginn erleben und überleben zu müssen.

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INFO 4/1970 (=Hannoversches Centralorgan der sozialistischen Basis- und Projektgruppen), S. 3ff., zit. nach Gerd Langguth, Protestbewegung am Ende. Die Neue Linke als Vorhut der DKP, Mainz 1971, S. 23. Erinnerung Friedrich Münchs, in: Hans Heinrich Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 19.), Göttingen 1976, S. 114.

Das Kursbuch und 1968. Ein Fahrplan für die außerparlamentarische Opposition? Kristof Niese

Ein typisch ‚linkes‘ Bücherregal der rebellischen 1960er Jahre will die neue Dauerausstellung im Haus der Geschichte in Bonn zeigen. Neben „Theorie“ von Marx und „Praxis“ zu Vietnam finden sich dort auch die ersten 20 Bände der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Zeitschrift Kursbuch, die in dieser Konstellation von 1965 bis 1970 im Suhrkamp Verlag erschien. Auch eine erste Studie1 von Henning Marmulla zum Periodikum rückt unmissverständlich den Fokus auf das Jahr 1968 und damit auf die ‚Chiffre 1968‘.2 Der Suhrkamp Verlag selbst legte im Jahre 2008, 40 Jahre danach, die fünf Kursbücher des Jahres 1968 unverändert in einem Band wieder auf.3 Enzensberger erklärte schon im zweiten Heft Europa zur „weltgeschichtliche[n] Peripherie“4 und die Artikel oder Dossiers informierten über Vietnam, Kuba, Lateinamerika, Iran oder China, jene Länder, die um das Jahr 1968 eine hohe Sogwirkung auf Studenten ausübten. Teils als Vorabdruck stellte das Kursbuch später als „Schlüsseltexte“5 identifizierte Beiträge vor und präsentierte Namen wie Frantz Fanon, Jean-Paul Sartre, Herbert Marcuse, Noam Chomsky, Roland Barthes oder Fidel Castro, die neben deutschen Autoren wie Uwe Johnson, Reinhard Lettau, Peter Weiss und Martin Walser Kursbuch-Beiträger waren. The year that rocked the world,6 1968, ließ die Startauflage von 8.000 auf knapp 40.000

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Henning Marmulla, Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68, Berlin 2011. Im Folgenden sollen unter der Bezeichnung „1968“ die Jahre 1967 bis 1969 verstanden werden. Diese ‚Chiffre‘ hat sich in der Forschung etabliert. Vgl. hierzu jüngst Axel Schildt, Überbewertet? Zur Macht objektiver Entwicklungen und zur Wirkungslosigkeit der „68er“, in: Udo Wengst (Hg.), Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik vor und nach 1968, München 2011, S. 89–102, hier S. 94; älter Detlev Claußen, Chiffre 1968, in: Dietrich Harth und Jan Assmann (Hg.), Revolution und Mythos, Frankfurt am Main 1992, S. 219–228. Hans Magnus Enzensberger (Hg.), Kursbuch 11–15, 1968, Frankfurt am Main 2008. Ebd., Europäische Peripherie, in: Kursbuch 2, 1965, S. 154–173, hier S. 171. Angelika Ebbinghaus (Hg.), Die 68er. Schlüsseltexte der globalen Revolte, Wien 2008. Das Kursbuch enthielt beispielsweise: Jacek Kuron und Karol Modzelewski, Offener Brief an die Polnische Arbeiterpartei, in: Kursbuch 9, 1967, S. 34–44 und Dossier I: Die amerikanische Opposition gegen den Krieg in Vietnam. Zusammengestellt von Georg Mohr, in: Kursbuch 6, 1966, S. 5–11, die Ebbinghaus zu den jeweiligen Schlüsseltexten rechnet. So Mark Kurlansky, 1968. The year that rocked the world, New York 2003, dt. München 2007.

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Exemplare klettern, was für eine Zeitschrift mit meist 200 Seiten, vielen Fußnoten sowie einem recht hohen Preis von 8 DM eher selten ist. Mit einem „Vexierbild“ hat Wolfgang Kraushaar das politische Engagement Hans Magnus Enzensbergers um die 1968er Jahre verglichen.7 Über sein damaliges Engagement sagte Enzensberger, er sei nur „teilnehmender Beobachter“ gewesen.8 Dieses Selbstbild kann um einige Posten ergänzt werden, die seine Auseinandersetzung mit der „revolutionären“ Situation um 1968 nicht nur beobachtend zeigen. Der Spur folgend, dass „das Kursbuch [. . . ] Hans Magnus Enzensberger [war]“,9 wie Karl Heinz Bohrer jüngst urteilte, will der Aufsatz nach Verbindungslinien des Kursbuches in Wirkung und Rezeption fragen, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Dabei werden biographisch einige Stationen Enzensbergers in die Analyse eingebettet, um jene „Collage“ von Einzelbildern, an die sich der Kursbuch-Herausgeber selbst um 1968 erinnerte, zu erhellen.10 Auffallend ist, dass es „überraschenderweise kaum eingehendere Darstellungen wichtiger Texte und Abhandlungen jener Zeit“ gibt.11 Die ikonographische Bilddeutung oder die Einordnung von Texten, Medien und Publikationen von Seiten der Geschichtswissenschaft steht noch weitgehend aus.12 Umso erstaunlicher scheint dies, da dem Kursbuch und anderen Zeitschriften wie Das Argument neben der Zuordnung, „theoretischer Überbau“ zu sein, auch die „dokumentarische Agitation“ zugewiesen wird.13 Stattdessen ist eine meist 7 8

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Wolfgang Kraushaar, Vexierbild. Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1968, in: Mittelweg 36, Nr. 5, 2009, S. 52–70. Hans Magnus Enzensberger im Gespräch mit Gilles Anquetil et François Armanet, Le plaisir de dire non, in: Nouvel Observateur, 20. September 2007. Der Begriff lehnt sich an die ethnologische Feldforschung an, die Bronislaw Malinowski an den Einwohnern der Trobiander-Inseln zu Zeiten des Ersten Weltkrieges entwickelte. Vgl. dazu Fritz Kramer (Hg.), Bronislaw Malinowski, Schriften zur Anthropologie (=Bronislaw Malinowski Schriften, Bd. 4/2), Frankfurt am Main 1985, S. 93f., S. 101ff. und S. 163 beschreiben die Methode. Karl Heinz Bohrer, Wenn keine Revolution herrscht, muss man sie eben herstellen. Buchvorstellung Henning Marmulla. Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68, Berlin 2011, in: FAZ, 26. November 2011. „Jeder Versuch, den Tumult intelligibel zu machen, endete notwendig im ideologischen Kauderwelsch. Die Erinnerung an das Jahr 1968 kann deshalb nur eine Form annehmen: die der Collage.“ Rede Hans Magnus Enzensberger anlässlich der Jiˇrí Koláˇr-Ausstellung in Nürnberg 1984, in: Rudolf Sievers (Hg.), 1968. Eine Enzyklopädie, Frankfurt am Main 2004, S. 23–26, hier: S. 25. Zu Enzensberger liegt biographisch nur die Studie des Journalisten Jörg Lau vor, die auf ungedruckten Quellen basiert: Jörg Lau, Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben, Berlin 1999. Thomas Hecken, 1968. Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik, Bielefeld 2008, S. 11. Vgl. hier besonders die eigene Darstellung von Akteuren in Bildern, etwa der Kommune I: Rainer Langhans/Christa Ritter, K1-Das Bilderbuch der Kommune, München 2008. Für Texte um 1968 und deren Wirkkraft gibt es wenig historische Einordnungsversuche, vgl. die „Schlüsseltexte“ oder Ingrid Gilcher-Holtey, 1968. Eine Zeitreise, Frankfurt am Main 2008, welches eine andere Perspektive auf die Akteure wählt. Stephan Füssel (Hg.), Die Politisierung des Buchmarkts. 1968 als Branchenereignis, Wiesbaden 2007, S. 7 (Vorwort des Herausgebers).

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selbstbewusste Eigendarstellung zu beobachten, die auch die sozialwissenschaftlichen Kursbuch-Texte unter dem Titel Bewegung in der Republik präsentiert.14 In fünf Abschnitten sollen die Zeitschrift und das Dreieck aus Herausgeber Enzensberger, Redakteur Karl Markus Michel und Suhrkamp-Verlagschef Siegfried Unseld untersucht werden. Dabei soll die Studentenbewegung als Teil der außerparlamentarischen Opposition ein zentraler Bezugspunkt sein. In einem ersten Teil soll nach dem Leserkreis gefragt werden und die sehr persönliche Rolle der Redaktion vorgestellt werden, die fast nur aus Enzensberger und Michel bestand. Die erste studentische Rezeption des Kursbuches stellt der zweite Teil vor und auch das Stilmittel der Dossiers, die auf eine anrührende Wirkung hin konzipiert wurden. Die biographische Auseinandersetzung des Herausgebers mit der intellektuellen Revolution, die auch einen längeren Kuba-Aufenthalt beinhaltete, soll in Teil drei untersucht werden und mit den Schilderungen im Kursbuch zur Dritten Revolution konfrontiert werden. Teil vier widmet sich den Heften 12 und 13, die sich thematisch mit den ‚Studenten‘ befassten. Gab es im Kursbuch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihren Zielen? Nach der Hochphase der Studentenbewegung verabschiedete sich das Kursbuch von einigen Sympathien, doch warf es auch neue Impulse in den Raum, die zur damaligen Zeit eine sehr mehrdeutige Rezeption auslösen konnten. Teil fünf betrachtet hierfür die Kursbögen und stellt die Rezeption vor.

1 Innere und äußere Voraussetzungen. Leserkreis und „Redaktion“ Die Zuschreibung des Kursbuches als „zentrale Zeitschrift für Akteure der deutschen Achtundsechziger-Bewegung“15 von Henning Marmulla wirft die Frage nach Rezeption und Leserkreis auf. Um die durchaus heterogene Leserschaft des Kursbuches besonders um 1968 genauer zu bestimmen, lohnt es sich, kurz bei den häufig synonym gebrauchten Begriffen 68er(-Bewegung), „außerparlamentarische Opposition“ und Studentenbewegung zu verweilen und diese in Relation zum Kursbuch zu setzen. Das Kursbuch selbst prägte nach Albrecht von Lucke die positive Selbstwahrnehmung als 68er durch einen Beitrag im Jahre 1978. Klaus Hartungs Beitrag ermöglichte ein „generationsspezifisches Echo“ (Wolfgang Kraushaar), das es den Beteiligten

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Ingrid Karsunke/Karl Markus Michel (Hg.), Bewegung in der Republik 1965 bis 1984. Eine Kursbuch-Chronik, 2 Bde., Frankfurt am Main u.a. 1985. Henning Marmulla, Das Kursbuch. Nationale Zeitschrift, internationale Kommunikation, transnationale Öffentlichkeit, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Handbuch zur Kulturund Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart 2007, S. 37–47, hier S. 37.

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ermöglichte, sich oftmals positiv an die Ereignisse um 1968 zu erinnern.16 Später wurde dieser Generationsbegriff oftmals bewusst von Teilnehmenden eingesetzt, um die eigene Beteiligung ins Nebulöse zu hüllen. Bahman Nirumand etwa blickte mit „leichtem Stolz und ein wenig Trauer“ zurück und Daniel Cohn-Bendit versuchte die Verhüllung: „An den 68ern, deren Vertreter inzwischen in höchsten Ämtern sitzen, scheiden sich bis heute die Geister.“17 Diese zeitgenössischen Selbstdeutungen riefen nicht nur die Historiker herbei, sondern ermöglichten auch die Konstruktion von „alternativen/konservativen“ 68ern.18 Die außerparlamentarische Opposition (APO) bezeichnet ein „ganzes Konglomerat linker Strömungen, Aktionsbündnisse und Gruppierungen.“19 Sie formierte sich mit den Ostermärschen und artikulierte in den 1960er Jahren klare Ziele, die sich, besonders durch die Große Koalition von 1966 bis 1969, in ihrem Selbstbild nicht mehr parlamentarisch artikulieren ließen, etwa die Verhinderung der Notstandsgesetze.20 Die Studentenbewegung richtete ihre Forderungen auf Reformen an den Hochschulen und in ihrem Verständnis auch auf eine gleichzeitige Gesellschaftsreform. Gemischt mit den oben genannten Strängen der APO kann festgehalten werden, dass die Studenten es medial schafften, alte Stränge zu überlagern, auch dank neu-importierter Protestformen (teach-in, sit-in) und der großen Berichterstattung im

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Vgl. Albrecht von Lucke, 68 oder neues Biedermeier, Berlin 2008; Klaus Hartung, Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen, in: Kursbuch 48, 1977, S. 14–43. Hartung formulierte: „Wir haben hundertmal, ohne Hoffnung und voller Verstocktheit, gerufen ‚Wir werden siegen‘. Wir werden trotzdem siegen“, hier S. 43; Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008, S. 62 (Zitat). Wie jeder Generationsbegriff ist auch der Begriff der „68er“ beladen, etwa was „handfeste generationelle Herrschaftsansprüche hinsichtlich der kulturellen Hegemonie in der Bundesrepublik“ betrifft, wie Riccardo Bavaj, „68er“ vs. „45er“. Anmerkungen zu einer Generationsrevolte, in: Heike Hartung u.a. (Hg.), Graue Theorie. Die Kategorien Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, Köln 2007, S. 53–78, hier S. 68 zeigt. Bahman Nirumand, Sehnsuchtsträume. Warum die Revolution ausblieb, in: Daniel CohnBendit/Rüdiger Dammann (Hg.), 1968. Die Revolte, Frankfurt am Main 2007, S. 223–234; Daniel Cohn-Bendit und Rüdiger Dammann, I can‘t get no satisfaction, in: Ebd., S. 18 (Vorwort der Herausgeber). Vgl. exemplarisch grob Ingrid Gilcher-Holtey, 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998; Norbert Frei, Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hg.), Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006. Zu den „alternativen 68ern“ vgl. Daniel Schmidt, Die geistige Führung verloren. Antworten der CDU auf die Herausforderung „1968“, in: Franz Werner Kersting u.a. (Hrsg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationenwechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010, S. 85–107, hier bes. S. 86ff. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 64. Zur außerparlamentarischen Opposition Pavel A. Richter, Die APO in der Bundesrepublik Deutschland 1966–1968, in: Gilcher-Holtey, 1968, S. 35–55; zur Genese: Karl A. Otto, Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960–1970, Frankfurt am Main 1977.

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öffentlich-rechtlichen Rundfunk.21 Die Studentenbewegung war jedoch nur ein Teil der APO, die ebenfalls, aber doch mit anderen Mitteln, gegen den Vietnam-Krieg opponierte. Die kurz angedeutete Parallelität zeigt, dass auch die Leserschaft des Kursbuches, welches 1965 erstmals erschien, alle diese Zielgruppen umfasste. Nicht zuletzt illustrierte Enzensberger selbst, Jahrgang 1929 und damit streng genommen kein 68er, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Denn der Kursbuch-Herausgeber lieh schon in den frühen 1960er Jahren – parteipolitisch ungebunden – der APO seine scharfen Worte, wenn er in Frankfurt die Bundesrepublik 1966 mit einer „Bananenrepublik“ verglich.22 Es ist zwar richtig, dass Enzensberger „seismographisch die Zeitenwende begleitete und kommentierte“,23 doch zeigte er sich auch sehr interessiert an der Studentenbewegung, war Mitbegründer des Republikanischen Clubs West-Berlin und pflegte Kontakte zum deutschen SDS, namentlich zu Rudi Dutschke, Gaston Salvatore oder Peter Schneider. Er wollte es „nicht verpassen“, dass „in Deutschland etwas im Gange ist“, berichtete er rückblickend.24 So wie sich der Herausgeber vielseitig engagierte, ist es seinem ungebundenem Temperament zuzurechnen, dass sich auch die Zielgruppe des Kursbuches nicht wasserfest bestimmen lässt. Schon der nüchterne Name Kursbuch übernahm von den Bahnkursbüchern den Plural der Verbindungen, die es angeben wollte: „Kursbücher schreiben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen.“25 Für die Rezeption bedeutete dies, dass das Kursbuch „kein Hausorgan der 68er Bewegung“26 war, sondern eher ein „Leitorgan der Nachwuchsintelligenz“,27 zu der auch die Studentenbewegung zählte. Internationalität und ein grenzenüberschreitendes Denken sind Bestandteil der „entnationalisierten“28 Biographie Hans Magnus Enzensbergers. Sich selbst sah 21

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Vgl. jüngst Meike Vogel, Unruhe im Fernsehen. Protestbewegung und öffentlich-rechtliche Berichterstattung in den 1960er Jahren, Göttingen 2010; Bernd Sösemann, Die 68er Bewegung und die Massenmedien, in: Jürgen Wilke (Hg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1999, S. 672–697, hier S. 686. Die Rede ist abgedruckt als: Hans Magnus Enzensberger, Notstand, in: Klaus Wagenbach u.a. (Hg.), Vaterland Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945, Berlin 2004, S. 238f. Gilcher-Holtey, Zeitreise, S. 9. „Deshalb bin ich nach Norwegen gegangen, wo es eine freiheitliche Gesellschaft gab, und bin mit Unterbrechungen dort geblieben, bis irgendein Solarplexus mir sagte, daß in Deutschland etwas im Gange ist, daß sich die Lage gewandelt hat. [. . . ] Ein Schriftsteller kann sich doch gar nichts Besseres wünschen als eine revolutionäre Bewegung. Sie können es auch Modernisierung nennen. So etwas geschieht nur alle fünfzig bis hundert Jahre. Ich wollte das nicht verpassen.“ Hans Magnus Enzensberger im Interview mit André Müller, Ich will nicht der Lappen sein, mit dem man die Welt putzt, in: Die Zeit, 20. Januar 1995. Ein Vorabdruck wurde als Probeheft verschickt, welches die Programmatik verdeutlichte, zitiert nach Dieter E. Zimmer, Enzensbergers Kursbuch, in: Die Zeit, 2. Juli 1965. Marmulla, Kursbuch, S. 121. Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, München 2009, S. 308. Marmulla, Kursbuch, S. 261.

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das Kursbuch in der Tradition einer französisch-deutsch-italienischen Revue, die von Maurice Blanchot Anfang der 1960er Jahre ersonnen wurde, um Probleme „europäisch“ und „über Grenzen hinweg“ lösen zu können. Es erschien nur eine Nullnummer des Projektes „Gulliver“, welches von deutscher Seite von Uwe Johnson unter Mitarbeit von Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger herausgegeben werden sollte.29 Enzensberger selbst schildert in seinen „Lieblingsflops“, dass er „aus Frustration“ über das Scheitern des Projektes das Kursbuch ersonnen hatte, an dessen Konzeption er seit Sommer 1964 mit dem Suhrkamp-Lektor Karl Markus Michel arbeitete.30 Die Zeit für eine internationale Zeitschrift schien günstig, wie auch die Zeitungsgründungen von New Left Review (1960), New York Review of Books (1963) und Nouvel Observateur (1964) verdeutlichen. 1965 hatte Enzensberger, der als Autor die „Bewußtseinsindustrie“ beschrieb, einen „eigenen kleinen Apparat“, wie Dieter E. Zimmer zum Kursbuch-Start beobachtete.31 Besonderen Wert legte der Herausgeber auf die absolute redaktionelle Autonomie seines Medienapparates,32 die er sich nach einer strittigen Auseinandersetzung vertraglich von Suhrkamp-Verlagschef Siegfried Unseld zusichern ließ. Frohlockte Enzensberger am Anfang noch über seine Freiheit: „[E]rlaubt ist also, was nicht verboten ist, das heißt quasi alles“, so blieb die Autonomie des Herausgebers fragil und ein Streitpunkt zwischen Enzensberger und Unseld, der sich eine literarische Zeitschrift wünschte.33 Schon 1966 beklagte Enzensberger, dass Unseld sich „außerordentlich geringschätzig“ über die Zeitschrift äußerte, worauf Unseld die Frage nach der Fortsetzung des 1968 auslaufenden Vertrages auf den Tisch legte.34 1970 folgte dann nach zwischenzeitlichen Eiszeiten

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Vgl. zum Projekt „Gulliver“ aktuell Marmulla, Kursbuch, S. 45–67 und Eberhard Fahlke/Raimund Fellinger (Hg.), Uwe Johnson – Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, Frankfurt am Main 1999, S. 1094–1136. Hans Magnus Enzensberger, Meine Lieblingsflops. Gefolgt von einem Ideenmagazin, Frankfurt am Main 2011, S. 120–127; Eintrag „Gulliver“. Vgl. Zimmer, Kursbuch; Hans Magnus Enzensberger, Bewußtseinsindustrie, Frankfurt am Main 1962. Marmulla, Kursbuch, S. 155–161, hier bes. S. 157. Der Verfasser hat die archivalischen Quellen im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar eingesehen. Der Einfachheit und der Zugänglichkeit wegen, wird hier im Folgenden auf die Publikation der Zitate zurückgegriffen. Zit. nach Marmulla, Kursbuch, S. 88. Enzensberger an Unseld, Brief vom 3. Oktober 1966, Unseld entgegnete: „Daß mir einiges nicht gefällt, z.B. die nach meinem Urteil ganz und gar unqualifizierte Kontroverse Weiss/Enzensberger brauche ich nicht zu sagen. Im übrigen weiß ich, daß der Kursbuch-Vertrag Ende 1968 endet. Jeder von uns hat die Möglichkeit, ein Ja oder ein Nein zu sprechen. Von heute aus gesehen habe ich keine Motive Nein zu sagen.“ Unseld an Enzensberger vom 6. Oktober 1966, beides zit. nach Marmulla, Kursbuch, S. 199ff.

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die Ausgliederung des profitablen Kursbuches in einen Eigenverlag unter Leitung von Klaus Wagenbach.35 Gegenüber anderen Zeitschriften mit einer späteren Auflagenhöhe von fast 40.000 Exemplaren fällt die „Redaktion“ auf, die fast nur aus Karl Markus Michel bestand. Der Redaktionsort Frankfurt am Main, oft als „radikaldemokratisches Zentrum“ oder als eines der „Epizentren der Revolte“ neben West-Berlin angesehen, spielte als Kontaktort keine große Rolle.36 Der Herausgeber zog eine norwegische FjordInsel als Wohnort der Bundesrepublik vor und die West-Berliner Adresse, die er ab Ende 1965 besaß, verließ er bei jeder Gelegenheit wieder für eine spannende Reisemöglichkeit. Diese geographische Ferne – Enzensberger bereiste die USA, Lateinamerika, Asien und die Sowjetunion – wirkte sich auch auf die Korrespondenz zwischen Herausgeber und Redakteur aus. Heftthemen wurden vorab besprochen und Manuskripte per Post verschickt. Enzensberger hatte sein ‚Büro‘ mit auf Reisen, auf denen er viele Kontakte zu potentiellen Autoren für das Kursbuch oder die edition suhrkamp knüpfte. Karl Markus Michel als Suhrkamp-Lektor und KursbuchRedakteur kam eine Scharnierfunktion zwischen Verlagschef Siegfried Unseld und Enzensberger zu.37 Obwohl anfangs nur vorläufig bestellt, blieb er fester Mitarbeiter und wurde nach Enzensbergers Rückzug Kursbuch-Herausgeber bis zu seinem Tod im Jahre 2000. Das 2-Mann-Team wurde später nur durch eine Sekretärin und eine Praktikantin unterstützt, so dass eine Interessenkongruenz zwischen Michel („introvertiert“) und Enzensberger („kommunikationswild“) vorausgesetzt werden kann.38 Dadurch konnte das Kursbuch flexibel agieren, ohne einer Redaktion ein starres Korsett auflegen zu müssen.

2 1965 bis 1967 – (Inter)nationale Dossiers und erste studentische Berührungspunkte Wie auch die Zeitschrift Kürbiskern, ebenfalls 1965 gegründet, fand das Kursbuch einen literarisch-politischen Zugang, der anrührend und bewegend zugleich aktuelle 35

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Vgl. zur Kursbuch-Ausgründung auch die Chronik Siegfried Unseld aus dem Jahre 1970, die hierüber Auskunft gibt: Raimund Fellinger (Hg.), Siegfried Unseld Chronik 1970, Frankfurt am Main 2010, S. 1 und S. 103f. Vgl. Manfred Kittel, Marsch durch die Institutionen? Politik und Kultur in Frankfurt nach 1968, München 2011, S. 3. Ebenso Sösemann, Massenmedien, S. 675. Sowohl Michel als auch Enzensberger zeigten sich durch das Frankfurter Institut für Sozialforschung intellektuell angezogen und waren mit dem Personal gut bekannt, emanzipierten sich jedoch bald auf eigenen Wegen. Zu Karl Markus Michel gibt es keine biographischen Annäherungen. Dieses Unterfangen stellt insofern eine Herausforderung dar, da er anordnete, seinen Nachlass nach seinem Tod zu vernichten. Zitate aus Ina Hartwig, Ein mondäner Einzelgänger, in: Frankfurter Rundschau, 17. November 2000.

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politische Vorgänge thematisierte. Das Mittel hierzu waren im Kursbuch die Dossiers, die durch „Realien“ und „Dokumente“ dem Leser zugespitzte Aussagen präsentierten.39 Mit den Dossiers löste Enzensberger die Forderung der literarischen „Dokumentation“ ein, die er in seiner Frankfurter Poetikvorlesung unter dem Titel Literatur als Geschichtsschreibung vorstellte.40 Die literarisch-politischen Dossiers fanden einen fruchtbaren Nährboden, wie die hohen Verkaufszahlen von politikkritischer Literatur als „außergewöhnliche Massenerscheinung“ der 1960er Jahre zeigten.41 Die Redaktion sorgte dafür, dass die Dossiers eine anrührende Wirkung hervorriefen. Das erste Kursbuch enthielt Dossiers über eine Sartre-Rezeption und ein Dossier über den „Auschwitz-Prozess“. Der Beitrag von Peter Weiss wurde so stark redigiert, dass er nicht mehr „poetisch“ klang, sondern in einem Gedächtnisprotokoll die „mehrfache brechung auschwitz/frankfurt 1964/bewusstsein des schriftstellers“ (Enzensberger) ausdrückte.42 Auch das vierte Deutschland-Kursbuch setzte auf die provokant berührende Wirkung durch das Kernstück des Katechismus zur deutschen Frage. In Unterrichtungsart, in Frage und ‚ja/nein‘-Antwort wollte der Artikel eine Diskussion über die Möglichkeit der Lösung der „deutschen Frage“ entfachen und beantwortete die Machbarkeit eingangs mit „ja“. Schon 1963 machte Enzensberger die bundesrepublikanische Politik als Hinderungsgrund für eine Lösung der „deutschen Frage“ aus.43 Drei Jahre später war im Kursbuch zu lesen, dass die Bundesrepublik „ihre politischen, juristischen und militärischen Doktrinen aufgeben, die DDR respektieren und auf ihre territorialen Forderungen verzichten“ müsse.44 Der mit den drei Politikwissenschaftlern Walter Euchner, Gert Schäfer und Dieter Senghaas erstellte Artikel sollte an 50 Adressaten verschickt werden, die zu dem Dossier Stellung beziehen sollten, darunter auch George Kennan, Henry 39

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Zur Neudefinition von ‚alten‘ Namen wie „Kursbuch“ oder „Dossier“ siehe Reinhold Grimm, Bildnis Hans Magnus Enzensberger. Struktur, Ideologie und Vorgeschichte eines Gesellschaftskritikers, in: Ders. (Hg.), Texturen. Essays und anderes zu Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1984, S. 44–96, hier S. 61. Hans Magnus Enzensberger, Frankfurter Poetikvorlesung 1964/65. Zweite Vorlesung. Literatur als Geschichtsschreibung), in: Rainer Barbey (Hg.), Hans Magnus Enzensberger. Scharmützel und Scholien. Über Literatur, Frankfurt am Main 2009, S. 26–44, hier S. 43f. Adelheid von Saldern, Markt für Marx. Literaturbetrieb und Lesebewegungen in der Bundesrepublik in den Sechziger- und Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44, 2004, S. 149–180, hier S. 150. Rainer Gerlach (Hg.), Siegfried Unseld – Peter Weiss. Der Briefwechsel, Frankfurt am Main 2008, Dok. 177c, S. 370f. (Michel), Dok. 181a, S. 378f., FN 2 (Enzensberger). Peter Weiss, Frankfurter Auszüge, in: Kursbuch 1, 1965, S. 152–188. Der Vorwurf an die Bundesregierung lautete, sie habe „[. . . ] eine Politik aktiv betrieben, von deren Scheitern die Steine reden [. . . ]“ und die Mauer schon „[. . . ] gegründet, ehe wir sie sahen.“ Lösungen zeigte der Redner wie schon in seinen Gedichten nicht auf. Hans Magnus Enzensberger, Darmstadt, am 19. Oktober 1963, in: Ders. (Hg.), Deutschland, Deutschland unter anderm. Äußerungen zur Politik, Frankfurt am Main 1967, S. 14–26, hier S. 20f. Katechismus zur deutschen Frage, in: Kursbuch 4, 1966, S. 1–55, hier S. 26.

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Kissinger oder Vertreter des Ministerrats der DDR. Die angedachte Diskussion blieb trotz der Aufmachung aus, ernüchtert formulierten die Redaktionsanmerkungen: „Wir verzeichnen dieses Echo, wir interpretieren es nicht.“45 Rudolf Augstein registrierte in seiner Stellungnahme das Designtalent Enzensbergers und kritisierte: „Kinkerlitzchen helfen nur dem, der ohnehin nicht zu Ende liest.“46 Auch Enzensberger sah ein, dass sich „kein windchen gerührt [habe] in der westdeutschen presse“. Nur weit links wurden in den Marxistischen Blättern „viele realistische Gedanken“ wahrgenommen.47 Eine Resonanz in die Kreise des SDS konnte nicht aufgespürt werden, war dieser doch auch darum bemüht, Kontakt nach Ostdeutschland zu pflegen und auch die spätere Debatte, die Peter Benders „Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR“ ausdrückte, beachtete den „Katechismus“ nicht.48 Jedoch schaffte es das Kursbuch schon durch die zweite Nummer zur Dritten Welt, in studentische Kreise vorzudringen. Gleich vier Dossiers informierten über Themen wie die Missstände im Iran oder Apartheid als Geschäft. Die Trennung der Welt in „wir“ und „die“, die der Herausgeber in seinem Beitrag feststellte, konnte direkt auf die literarische Solidarität durch die vorgestellten Texte von Fidel Castro und Frantz Fanon getestet werden.49 Zum Kalten Krieg bot das Kursbuch eine blockfreie Perspektive, was das studentische Interesse beförderte. Im Jahre 1966 fanden indirekte Zitate des Dossiers von Bo Gustaffson über Entwicklungshilfe oder Ausbeutung den Weg auf einen SDS-Flyer und das Kursbuch tauchte als erster Literaturhinweis eines Münchner SDS-Seminares zum Unterpunkt der „antiimperialistischen Bewegungen“ auf.50 Karl Markus Michel fragte in einem Vortrag 1991, ob nicht das Dossier Der Iran und sein Wohltäter die Anti-Schah-Proteste um den 2. Juni 1967 befeuerte, indem es aufklärend wirkte. Eine solche These ist eher abzulehnen, hier hatten die Texte und Hörsaalpräsenz von Bahman Nirumand und der stark vervielfältigte Offene Brief an Farah Diba von Ulrike Meinhof eine weitaus größere Wirkung.51 45 46 47 48

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Die Redaktion, Dossier 2: Kommentare zur deutschen Frage, in: Kursbuch 7, 1966, S. 147–189, hier S. 148. Rudolf Augstein, Antwort zum „Katechismus zur deutschen Frage“, in: Kursbuch 7, 1966, S. 149– 153. Brief Enzensbergers an Peter Weiss vom 25. August 1966, zit. nach Marmulla, Kursbuch, S. 133; Friedemann Schuster, Kursbuch zur Einheit?, in: Marxistische Blätter 4, 1966, S. 58f. Vgl. Peter Bender, Zehn Gründe für die Anerkennung der DDR, Frankfurt am Main 1968. Vgl. dazu auch Michael Lemke, Politische Phantasie statt Konfrontation. Peter Benders Annäherung an die deutsche Wirklichkeit, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 106–109. Hans Magnus Enzensberger, Europäische Peripherie, S. 154–173; Frantz Fanon, Von der Gewalt, S. 1–55; Fidel Castro, Rede vor den Vereinten Nationen, S. 72–82; alle in: Kursbuch 2, 1965. Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München/Berlin, ED 387/3–6 und ED 387/3–13. Aus Rücksicht auf den Schutz des Autors Nirumand wurde das Dossier ohne Namensnennung gedruckt. Karl Markus Michel, Druck-Erzeugnisse. Hat das Kursbuch etwas bewirkt?, in: Museum für Gestaltung Zürich (Hg.), Konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft um 1968, bearbeitet von

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Zögerlich wurde das Kursbuch von Seiten der Studenten aufgenommen. 1966 folgte die Besprechung in der regional größeren Frankfurter Studentenzeitschrift diskus der offiziellen Verlagsankündigung und hob hervor, dass Enzensberger nun ein „wirksames Publikationsmittel in der Hand“ habe.52 Die studentische ‚Leitfunktion‘, die darin anklingt, ergab sich aus der Bekanntheit von Enzensbergers Buch-Kolumne im Spiegel, die er bis 1964 verfasste und der Frankfurter Poetik-Vorlesung des Wintersemesters 1964/65. Aufmerksam verfolgt wurde auch die Anwesenheit Enzensbergers bei Protesten und seine spitze Wort- und Formulierkunst. Auch Karl Markus Michel war den Studierenden nicht unbekannt durch Teilnahme an SDS-Kongressen, Veröffentlichungen in der neuen kritik des Frankfurter SDS sowie durch Radiofeatures.

3 1967/68 und die intellektuelle „Revolution“ Zwei ‚Leidenschaften‘ Enzensbergers zeichneten das Jahr 1967 aus, mit dem die „Chiffre 68“ erhellt werden soll. Die erste ,Leidenschaft‘, die Mathematik,53 eröffnete als achtes Kursbuch das Jahr 1967. Die zweite ‚Leidenschaft‘ entflammte ebenfalls 1967, wenn es um die intellektuelle Möglichkeit einer Revolution ging beziehungsweise die Möglichkeit, revolutionäre Voraussetzungen zu schaffen. 232 Seiten thematisierten als Kursbuch neun Vermutungen über die Revolution/Kontroversen über den Protest. Mit der neunten Nummer wurde nach Günter C. Behrmann die „studentenbewegtrevolutionär[e]“ Hinwendung vollzogen. Dafür spreche auch das Erscheinungsdatum zwischen Adornos „Negativer Dialektik“ und Marcuses „Eindimensionalem Menschen“ sowie die geistige Verbundenheit von Enzensberger und Michel zum Frankfurter Institut für Sozialforschung.54 Der Schriftsteller Günter Herburger sagte im Spiegel einen heißen Sommer voraus: „Aber das Mißtrauen ist erwacht. Neue Kräfte leiten die dritte Revolution ein. Was heißt da also belletristische Sommerlektüre! Schüler, Studenten und Gewerkschafter, lest das Kursbuch, in dem ihr Beispiele und Mut findet!“55 Beispiele lieferten die Beiträge von Karl Markus Michel, Bahman Niru-

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Martin Heller, Zürich 1991, S. 5–23; Bahman Nirumand, Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder die Diktatur der Freien Welt. Mit einem Nachwort von Hans Magnus Enzensberger, Reinbek bei Hamburg 1967; Ulrike Meinhof, Offener Brief an Farah Diba, in: Konkret 6, 1967, S. 21f. Reimar Lenz, Kursbuch – Wohin geht die Reise, in: Diskus. Frankfurter Studentenzeitschrift 6, 1966, S. 4. Enzensbergers Einsatz für die Mathematik wurde 2006 von der Deutschen Mathematiker Vereinigung mit der Benennung des „Enzensberger Sterns“ gewürdigt. Günter C. Behrmann, Kapitel 11. Kulturrevolution. Zwei Monate im Sommer 1967, in: Clemens Albrecht u.a, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999, S. 312–386, hier S. 342. Günter Herburger, Eine Dritte Revolution, in: Der Spiegel, 31. Juli 1967.

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mand, aber auch die interviewartige Befragung Herbert Marcuses, die Möglichkeiten zur Änderung sahen, wenn die intellektuelle Isolation zugunsten einer „kollektiven“ Arbeit aufgegeben würde.56 Noam Chomsky informierte über die „Lügen“ der USRegierung in Bezug auf die angebliche Legalität des Vietnamkrieges. Günter Herburger formulierte: „Hat man das Kursbuch 9 [. . . ] gelesen, so kommt einem Belletristik völlig belanglos vor. Das Anschauungsmaterial des Buches überwältigt. Wir haben, diese Dokumentation in der Hand, keine Zeit mehr für Ästhetik. In Berlin wird geknüppelt, in Amerika mehren sich Rassenaufstände, in Vietnam herrscht Kolonialkrieg. Die Mächtigen glauben sich im Recht, reagieren mit Gewalt.“57 Was bot das Kursbuch und wie wurde es aufgenommen? Enzensberger beobachtete in seinem Beitrag über Kronstadt 1921, den er im Amsterdamer Internationalen Institut für Sozialgeschichte recherchierte, eine Möglichkeit der „dritten Revolution“.58 Denn das Beispiel Kronstadt zeige einen wahren Moment der Anarchie, indem es die sozialistische Revolution, die durch Bürokratie in Verwaltungsprozessen steckengeblieben war, infrage stellte und die Einlösung der weiterlaufenden ‚wahren‘ Revolution einforderte. Wer wollte, konnte dies und die Briefe an die polnische Arbeiterpartei von Karol Modzelewski und Jacek Kuron auf die Missstände in der Sowjetunion beziehen und als Kritik des Parteikommunismus sehen. Beide Beiträge sorgten wohl auch für die Beschlagnahme der Kursbücher auf der Leipziger Buchmesse, wie Enzensberger extra in die Anmerkungen des folgenden Heftes vermerken ließ.59 Der Artikel über Kronstadt 1921 sollte auf die Positionen der Studentenbewegung und der außerparlamentarischen Opposition eine anregende Wirkung haben. Obwohl diese Geschichte der Dritten Revolution „ferner denn je“ sei, wie Enzensberger kommentierte, so gehöre sie doch „in die Annalen der Zukunft“.60 Dies war keine Handlungsanweisung, doch konnte eine Darstellung einer ‚richtigen‘ revolutionären Situation im Gegenbild zur aktuellen Lage in der Sowjetunion anregend sein, wie die spätere Rezeption zeigt. 56

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Herbert Marcuse, Ist die Idee der Revolution eine Mystifikation?, S. 1–6 (Nachdruck in der New Left Review Nr. 45, 1967; A. A.: Zur Kritik der progressiven Intelligenz in Deutschland. Eine Stimme aus der Dritten Welt, S. 181–199; Karl Markus Michel, Die sprachlose Intelligenz III, S. 200–226; alle in: Kursbuch 9, 1967. Herburger, Dritte Revolution. Hans Magnus Enzensberger, Kronstadt 1921 oder die dritte Revolution, in: Kursbuch 9, 1967, S. 7–33. Anmerkungen der Redaktion, in: Kursbuch 10, 1967, S. 195. Enzensberger, Kronstadt 1921, S. 32. Vgl. auch den gewählten Titel des Dossiers. Enzensbergers persönliche Anmerkungen werden nur auf den Seiten 30–32 als „Erstes Postskriptum“ und „Zweites Postskriptum“ deutlich, der Rest orientiert sich an Quellen.

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Ein Zitat aus Kursbuch 9 aufführend, bemerkte die Göttinger Studentenzeitschrift die in ihrer Sicht damalige Nähe von Enzensberger zum Anarchismus: „Die dritte Revolution, die sie [die Matrosen aus Kronstadt, K.N.] meinten und die sie in Angriff nahmen, scheint heute ferner denn je. Aber solange das Verlangen nach realer Demokratie nicht ausgestorben ist, wird Kronstadt mehr sein und bleiben als eine Reminiszenz: Seine Geschichte gehört in die Annalen der Zukunft.“61 Günter Bartsch verwies ebenfalls darauf, dass sich die Kursbücher 9 und 14 „teilweise für den Anarchismus eingesetzt“ hatten und auf einen Kommentar Enzensbergers in Kursbuch 14, wonach „die vom Anarchismus aufgeworfenen Fragen noch keineswegs erledigt sind.“62 Auch das Anarchistische Syndikat Wilhelmshaven ließ sich von der Arbeit Enzensbergers inspirieren, als es 1971 eine Kronstadt-Broschüre veröffentlichte, die auf das Dossier zurückgriff. Sowohl die Kronstadt-Broschüre als auch ein Bericht in der Untergrundzeitung Agit 883 übernahmen weitgehend die Daten und die Aufmachung des Kursbuch-Dossiers.63 Für Enzensberger stellten die russischen Fälle hingegen nur „ein historisches Interesse oder eine Art von Träumerei“ dar, wie er sich 2005 erinnerte.64 Auch bot das Kursbuch 9 keine geschlossene Argumentation und bot dem „wenig“, der nach „konkreten Hinweisen“ suchte, wie Rudolf Augstein bemerkte.65 Uwe Johnson plädierte dafür, dass „die guten Leute das Maul halten“ sollten und Martin Walser schlug beinahe anachronistisch eine Vietnam-Petition im 61

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Politikon. Göttinger Studentenzeitschrift für Niedersachsen 30, 1970, S. 3. Der Beitrag verweist darauf, dass Enzensberger „dem individuellen Terror der Bombenwerfer um Boris Sawinkows“ in seinen „Politischen Kolportagen“ „Gerechtigkeit widerfahren“ habe lassen. Enzensberger selbst beschäftigte sich damals mit anarchistischen Idealen, wie Ders., Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod, Frankfurt am Main 1972, zeigt. Doch endete der Text mit „Aber was vorbei ist, ist vorbei. Man macht nicht zweimal dieselbe Revolution. Dazu ausgewogen Lau, Enzensberger, S. 290f. und nur ganz kurz auf die Nähe verweisend Horst Stowasser, Anarchie! Idee-Geschichte-Perspektiven, Hamburg 2007, S. 65 und S. 362–366 zu Kronstadt. Günter Bartsch, Anarchismus in Deutschland, Bd. II, 1965–1973, Hannover 1973, S. 110–113, hier S. 112 (Zitate). Bartsch verweist auch auf die Anmerkungen Enzensbergers zu einem Text von Friedrich Engels in Kursbuch 14: Friedrich Engels. Von der Autorität. Mit einer Glosse von H.M. Enzensberger, in: Kursbuch 14, 1968, S. 64–70. Vgl. Anarchistisches Syndicat Wilhelmshaven (Hg.), Dokumentation zum 50. Jahrestag. Der Aufstand der Kronstädter Matrosen. Vollendung und Liquidierung der Russischen Revolution, mit einem Vorwort von Fritz Teufel, [Wilhelmshaven, Berlin] 1971; Agit 883 verweist nicht auf das Kursbuch-Dossier, übernimmt aber weitgehend Layout und textliche Bausteine, Agit 883, Nr. 78, 4. April 1971, S. 3–6; vgl. auch Nr. 77, 19. März 1971. Zum Magazin mit Auflagen von 4.000–6.000 Exemplaren vgl. knapp Gerd Langguth, Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. 1968–1976, Köln 1976, S. 270. „Sie hatten nie eine politische Forderung. . . “ Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger über die Hintergründe der RAF. Wolfgang Kraushaar und Jan Philipp Reemtsma, München am 6. Dezember 2005, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Bd. 2, Hamburg 2006, S. 1392–1411, hier S. 1398. Rudolf Augstein, Die Revolution und ihr ABC, in: Der Spiegel, Nr. 32, 31. Juli 1967.

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Bundestag vor, doch stammte sein Beitrag aus dem Jahre 1966.66 Bahman Nirumand, noch anonym im Kursbuch publizierend, stellte fest: „Enzensberger gibt Kursbücher heraus, aber sie verzeichnen nur Züge für Erste-Klasse-Reisende. Der einfache Mensch versteht sie so wenig wie seine einfachsten Gedichte.“67 Biographisch lässt sich 1967/68 ein Wandel des Herausgebers feststellen. Im Herbst 1967 ließ er die Leser des Times Literary Supplement wissen: „Tatsächlich sind wir heute nicht mit dem Kommunismus konfrontiert, sondern der Revolution. Das politische System in der Bundesrepublik ist jenseits aller Reparatur. Man kann ihm zustimmen, oder man muss es durch ein neues ersetzten. Tertium non dabitur.“68 Bereits im April löste seine Preisrede zum Kulturpreis der Stadt Nürnberg eine Bundestagsdebatte aus mit der Behauptung, dass es in der Bundesrepublik „politisch verfolgte“ Personen gebe.69 Der Geehrte wollte das Preisgeld von 6000 DM in einen Fond zur Rechtshilfe für diese politisch Verfolgten geben, was auch die verdeckt operierende KPD in einem Tagungsordnungspunkt registrierte.70 Eine parteikommunistische Nähe kann Enzensberger nicht attestiert werden. Zwar zeigte er sich interessiert an den Idealen der spanischen Anarchisten oder den Vorgängen in Kronstadt 1921, doch lehnte er stets eine „Moskautreue“ und Parteikommunismus ab.71 Nähe zum Protest zeigte er 1967, als er nach einem Besuch bei seinem in der Kommune 1 lebenden Bruder Ulrich spontan beschloss, die Kommunarden bei der „Löbe-Aktion“ zu begleiten, als sie die Störung der Gedächtnisfeier Paul Löbes starteten. Hans Magnus Enzensberger soll sogar den Sarg getragen haben, aus dem später der flugblattwerfende Dieter Kunzelmann entstieg.72

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Uwe Johnson, Über eine Haltung des Protestierens, S.177–178; Martin Walser, Praktiker, Weltfremde und Vietnam, S. 178–180; beide in: Kursbuch 9, 1967. A.A. [Bahman Nirumand], Kritik, S. 194. Hans Magnus Enzensberger, The writer and the politics, in: Times Literary Supplement, 28. September 1967. Der Spiegel veröffentlichte zeitnah die deutsche Übersetzung: Der Spiegel, 23. Oktober 1967, S. 24. Hans Magnus Enzensberger, Rede vom Heizer Hieronymus, in: Bernward Vesper (Hg.), Hans Magnus Enzensberger. Staatsgefährdende Umtriebe (=Voltaire Flugschrift, Bd. 11), Berlin 1968, S. 5–13; Deutscher Bundestag (Hg.), Verhandlungen des Deutschen Bundestages (Stenographische Berichte, Bd. 63), S. 5. Wahlperiode, 102. Sitzung, Bonn, Donnerstag den 13. April 1967, 4754Cf. Wie Jörg Magenau schildert, wurde eine Parteitruppe im „Kürbiskern“ aktiviert, die “Solidaritätskampagne Hans Magnus Enzensberger” zu unterstützen. Vgl. Jörg Magenau, Martin Walser. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 225. Die Zeitschrift Kürbiskern wurde durch die KPD/DKP mit finanziellen Hilfen unterstützt, vgl. DDR-Literatur: im Osten entstanden, im Westen gedruckt. Gespräch mit Yaak Karsunke am 15. Juli 2003 in Berlin, in: Roland Berbig (Hg.), Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost, Berlin 2005, S. 188–203, bes. S. 193f.; SAPMO-BArch, BY1/2822, Bd. 13. Vgl. etwa Enzensberger, Kronstadt 1921; oder Ders., Der kurze Sommer der Anarchie. Vgl. Ulrich Enzensberger, Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967–1969, Köln 2004, S. 191ff.; Peter Schneider, Rebellion und Wahn. Mein ’68, Köln 2008, S. 199f. Zur „Löbe“-Aktion siehe auch Klaus Stern/Jörg Herrmann, Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes, München 2007, S. 85f.

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Revolutionäre Lockungen sorgten 1968 für eine Veränderung. Der „congresso cultural de habana“, zu dem Fidel Castro lud, zog über 450 Intellektuelle aus über 70 Ländern an, darunter auch Giangiacomo Feltrinelli und Eric Hobsbawm. Hans Magnus Enzensberger war der einzige westdeutsche Teilnehmer. Er zeigte sich auch durch den „rauschhaften“73 Kongress von der Moskauferne Fidel Castros inspiriert und plante, eine Zeit in Kuba zu leben, um den dortigen Sozialismus aus der Nähe kennenzulernen. Umgehend schrieb er an Suhrkamp-Verlagschef Siegfried Unseld: „dieser aufenthalt hat auf mich den stärksten eindruck gemacht, und er wird zweifellos folgen für mein eigenes leben haben. ich habe dort zum ersten mal eine revolution gesehen, die nicht tot ist, die ihre kinder keineswegs frißt sondern füttert, die nicht jene graue bedrückende aura hat, welche uns aus dem osten so vertraut ist; eine revolution schließlich, die begriffen hat, daß die unterdrückung der intellektuellen arbeit konterrevolutionär ist. ich kürze ab, ungern – ich könnte dir viele seiten über meine eindrücke schreiben -, und vertröste mich auf ein gespräch im frühjahr.“74 Sein Stipendium, welches er seit Ende des Jahres 1967 an der ruhigen Wesleyan University in Connecticut in den Vereinigten Staaten innehatte, gab er mit einem offenen Brief an den Rektor der Universität zurück, in dem er die USA für ihre repressive Politik anprangerte. Trocken meldete die New York Times: „German poet hails ,joy‘ of life in Cuba“.75 Castro forderte von den Teilnehmern, ein Zeichen gegen den USImperialismus zu setzen. Für solche Weisungen zu klug, löste Enzensbergers Schritt doch internationale Beachtung aus, denn die New York Times notierte, dass Enzensbergers Kurzaufenthalt „[. . . ] had convinced him the Cuban people have ,a sense of joy, meaningful and significance.[sic!]‘ He viewed United States foreign policy as an attempt to impose the will of the United States on smaller countries throughout the world.”76 Die Zeit druckte den offenen Brief nach, in dem Enzensberger die amerikanische Regierung und herrschende Klasse als „gemeingefährlich“ ausmachte und feststellte: „Ihr Ziel ist die politische, ökonomische und militärische Weltherrschaft. Ihr Todfeind ist die Revolution.“77 Interessant ist der Verweis auf die Revolution, denn diese sollte Enzensberger noch eine Weile beschäftigen. Rückblickend sprach Enzensberger von einer „gründliche[n] Lehre in realem Kommunismus“ und dem Abschied 73 74 75 76 77

Ulrich Enzensbergers Hinweis auf die „Moskauferne“ Castros zu dem Zeitpunkt des „rauschhaften“ Kongresses, Ders., Kommune, S. 243. Brief Enzensbergers an Unseld vom 24. Januar 1968, zit. nach Marmulla, Kursbuch, S. 221. The New York Times, 17. Februar 1968. Ebd. Hans Magnus Enzensberger, Warum ich Amerika verlasse, in: Die Zeit, 1. März 1968.

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„von allen Illusionen, die ich bis dahin vielleicht noch gehegt hatte.“78 Doch von welchen Illusionen sollte sich Enzensberger erst nach einem weiteren, längeren Aufenthalt auf Kuba verabschiedet haben? Gegenüber seinem Verleger Siegfried Unseld beschrieb er die Situation per Brief, in der er sich damals befand. Er bestand auf der intellektuellen Freiheit, die Revolution und deren Möglichkeiten denken zu dürfen: „in amerika spricht man davon [von der Revolution, K.N.] wie von einer selbstverständlichkeit – nur in deutschland ist revolution nach wie vor eine reiz- und tabuvokabel. ich halte es für eine erzaufgabe der intellektuellen, alle möglichkeiten der revolution zu denken, zu prüfen, zu untersuchen. was das wort für deutschland bedeuten kann, weiß bis heute niemand genau.“79 Aus dieser anfänglichen Begeisterung für die intellektuelle Möglichkeit, eine Revolution einerseits in Kuba direkt beobachten zu können und andererseits „revolutionäre“ Verhältnisse in Deutschland schaffen zu wollen, ergibt sich die Frage, ob sich diese Erlebnisse auch auf das Kursbuch auswirkten? Zwar schloss Enzensberger aus, in einer Zeitschrift zu einer Revolution auszurufen, was ihm „lächerlich“ vorkäme, doch hielt er es für legitim, intellektuell dazu beizutragen, die Revolution zu befördern: „zur revolution ,aufzurufen‘, also einen staatsstreich zu proklamieren – darauf liefe das bei der heutigen lage hinaus – wäre, für eine zeitschrift, einfach lächerlich. etwas anderes ist es, zur bildung eines revolutionären bewußtseins beizutragen und revolutionäre aktionen zu unterstützen.“80 Schon vor der Rückgabe seines USA-Stipendiums war er überzeugt das Kursbuch „unter allen umständen“ fortzuführen, wie er Peter Weiss mitteilte.81 Durch die sehr kleine Redaktion aus Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michel wirkte sich die intellektuelle Revolutionsromantik auch auf die Arbeit am Kursbuch aus. Ein Brief Michels verdeutlicht dies, denn er fürchtete, so entgegnete er dem Schriftsteller und Philosophen Ulrich Sonnemann, „daß Enzensberger mit vielen SDS-Leuten

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Hans Magnus Enzensberger, Wie ich fünfzig Jahre versuchte, Amerika zu entdecken, in: Rainer Wieland (Hg.), Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich. Über Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1999, S. 96–111, hier S. 106. Brief Enzensbergers an Unseld vom 24. Januar 1968, zitiert nach Marmulla, Kursbuch, S. 205. Ebd. Enzensberger hatte das Gefühl, in Connecticut an einem falschen Ort zu sein, der seine Neugier nicht bedienen konnte, wie er Peter Weiss mitteilte: „ich glaube aber kaum, daß diese umgebung gegen mein mißtrauen aufkommt, im gegenteil, jeden tag wird dir klarer was hier gespielt wird. das Kursbuch mache ich unter allen umständen weiter.“ Brief Enzensbergers an Weiss vom 25. Oktober 1967, zit. nach Marmulla, Kursbuch, S. 220.

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der Meinung ist, die Zeit der Diskussionen sei vorüber“. Michel vermerkte, dass „unser Cuba“ nun einmal „Berlin“ sei und sorgte sich um die moderierende Rolle des Kursbuches.82 Die Abwesenheit des Herausgebers hatte auch andere Auswirkungen auf das Kursbuch. Denn Michel hatte die Vollmachten für die Hefte 11 und 12, während Enzensberger auf Kuba war. Wirkte sich dies auch auf das elfte Kursbuch zur Revolution in Lateinamerika aus? Für Heft 11 hatte Enzensberger gute Vorbereitungen getroffen. Das Verfahren, das Layout seiner Bücher selbst zu gestalten und Farben zu wählen, übernahm Enzensberger auch für das Kursbuch. Für Heft 11 wählte er ein tarnfarbenähnliches olivgrün. Das Heft wurde eingerahmt von den Beiträgen von Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger. Weiss eröffnete sehr emotional und fragte, welche Lehren aus dem unerwarteten Tod von Che Guevara zu ziehen seien. Zu dieser Emotionalität passte auch die von Enzensberger besorgte Übersetzung aus dem Schwedischen: „Er [Che Guevara, K.N.] zeigte: das einzig Richtige ist, ein Gewehr zu nehmen und zu kämpfen.“83 Scheinbar unpassend wirkten die Berliner Gemeinplätze zum Lateinamerikathema, doch stellen sie einen Bezugspunkt zwischen der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit der Revolution in Deutschland dar. Mögliche Antworten präsentierte der Text nicht, er stellte lieber Fragen84 und die angedeutete Brisanz des Heftes lässt sich in der Rezeption quellenmäßig nicht aufspüren.

4 Nur zu Gast? Die Studenten und das Kursbuch Ausdrücklich als „Studenten-Heft“ geplant, sollte sich das zwölfte Heft mit deutschen und internationalen Beiträgen dem Thema widmen. Doch aus der zeitgeschichtlichen Aktualität durch den Tod Benno Ohnesorgs wurde deutlich, dass das Thema der Studentenbewegung ergiebiger war und es nahelag, zwei Kursbücher zu konzipieren.85 Eine groß angelegte Werbekampagne sowie Planungen von Michel über die nötigen Erscheinungstermine mit Bezug auf Semesterzeiten zeigen die mit den Kursbüchern nun massiv beworbene Zielgruppe. Verkaufsstände an Universitäten und Werbung

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„Nichts, nicht das geringste gegen Kuba, aber unser Kuba ist nun einmal hier, Berlin und die Folgen, mit denen wir fertig werden müssen, was nicht durch den lustigen Ruf nach Revolutionen geschehen kann. [. . . ] Ich wünschte mir, das Kursbuch könnte hier zumindest eine Diskussion in Gang bringen, aber ich fürchte, daß Herr Enzensberger mit vielen SDS-Leuten der Meinung ist, die Zeit der Diskussionen sei vorüber.“ Brief Michel an Sonnemann vom 29. Februar 1968, zit. nach Marmulla, Kursbuch, S. 226. Peter Weiss, Che Guevara!, in: Kursbuch 11, 1968, S. 1–6. Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Berliner Gemeinplätze, in: Kursbuch 11, 1968, S. 151–169. Vgl. Marmulla, Kursbuch, S. 125.

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in Studentenzeitschriften (u.a. FU-Spiegel, Diskus, Profil) zeugen von dem Anspruch, diese Kursbücher nicht nur monetär den Studenten näher zu bringen. Das zwölfte Kursbuch mit dem Titel Der nicht erklärte Notstand stellte eine Ausnahme dar. Ein Berlin-Dossier füllte das ganze Heft, indem es über die Vorgänge des 2. Juni 1967 und die Reaktionen von Justiz, Senat und Polizei in einem aufwühlenden Ton berichtete. Der Kontakt zur Erstellung des Dossiers kam ursprünglich durch Horst Mahler zustande, welcher neben Enzensberger und anderen den West-Berliner Republikanischen Club gründete, der es sich unter anderem zur Aufgabe machte, Materialien über den 2. Juni 1967 zu sammeln.86 Verfasst wurde das Dossier von einem Team unter Leitung von Peter Furth, dem Doktorvater Rudi Dutschkes.87 Michel setzte sich für dieses Dossier sehr ein und konnte die schwierige Kommunikation zwischen Frankfurt und Havanna nutzen, den Beitrag nicht zuletzt aufgrund der Aktualität vor dem Prozess gegen Fritz Teufel im Kursbuch unterzubringen. Der Tagesspiegel bezeichnete das Kursbuch 12 rückblickend als violette „200-seitige Bombe“.88 In der Tat blieb dieses Kursbuch nicht ohne Wirkung auf die Studenten und besaß eine durch das Zitat angedeutete Sprengkraft. Ein Spendenaufruf auf der letzten Seite für die Berliner Rechtshilfe komplettierte das Heft und die erstmals im Kursbuch enthaltenen Bilder sorgten für eine berührende Wirkung. Eine alte Studie zum Kursbuch spricht gar von einer „filmischen“ Wirkung.89 Die Wirkung tritt besonders durch den Einsatz von Materialien hervor, die das Vorgehen der Berliner Polizei verteidigen, wie auch Briefe von Berlinern an Studentenvertretungen zeigen. Letzteres Beispiel leitete das zwölfte Kursbuch ein mit den Schlussworten: „Wie kleine ungezogene Kinder haben sie [die Studenten, K.N.] sich benommen, deshalb wurden sie gezüchtigt.“90 Die Bilder von prügelnden Polizisten, die teilweise auch namentlich genannt wurden, lassen eine ‚ruhige‘ Lektüre im Jahre 1968 kaum vorstellbar erscheinen. Durch die enthaltenen Bilder bekam der Text eine anschauliche Wirkung. Unter den Bildern wurden Aussagen von Polizeibeamten arrangiert, die beispielsweise die Polizei-Strategie des „Abkämmens“, des Auseinandertreibens mit Schlagstockgebrauch persifliert, wenn dort Bilder von ‚einfachen‘ Demonstranten und Zivilisten gezeigt werden und Bilder, auf denen die Polizei mit erhobenen 86

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Zu den Republikanischen Clubs vgl. Detlef Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 464–469; Paul Gerhard Hübsch, Clubs. Zentren der neuen Kultur, in: Rolf-Ulrich Kaiser (Hg.), Protestfibel. Formen einer neuen Kultur, Bern 1968, S. 128–143, hier S. 138f. Das Dossier verfassten Peter Damerow, Peter Furth, Odo von Greiff, Maria Jordan und Eberhard Schulz. Völker, lest die Signale, in: Der Tagesspiegel, 22. Juni 2008. Vibeke Rützow Petersen, Kursbuch 1965–1975. Social, Political and Literary Perspectives of West Germany, New York 1988, S. 189. Präambel. Brief eines Berliners an den AStA der Freien Universität, in: Kursbuch 12, 1968, S. 1.

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Schlagstöcken in die Menge stürmt.91 Auch wenn die Bildbenutzung eine einmalige Ausnahme darstellte und die Bilder somit wohl nur unter dem Argument der unbedingten Zugehörigkeit zum Gesamtdossier ihren Weg ins Kursbuch gefunden haben mochten, so zeigte sich die zwölfte Ausgabe deutlich „eingängiger“ als andere Kursbücher. Zwar waren die enthaltenen Bilder durch Magazine und Illustrierte meist schon bekannt, ihnen kam somit kein Neuigkeitswert zu. Doch dieselben Bilder im Kursbuch, dessen Artikel in wissenschaftlicher Manier mit Fußnoten und Literaturangaben versehen waren, mochten gerade durch die dokumentarische Aufbereitung des Dossiers eine verbindlichere Wirkung hervorrufen als plakative Bilder mit wenig Kontext und knapper Erläuterung in Konkret oder Magazinen wie Stern, Quick oder Twen. Die Bilder dienten jedoch nicht dazu, dass Akteure sich selbst stilisieren konnten, sondern waren recht sachlich.92 Durch eine erhöhte Auflage,93 einen direkten thematischen Bezug zu Studenten und die enthaltenen Bilder kann jedoch von einer stärkeren Wirkkraft dieses Kursbuches ausgegangen werden. Ein kleiner Beleg mag die sehr wohlwollende Besprechung des Kursbuches im Rahmen von Publikationen zum 2. Juni 1967 im Magazin signal der Freien Deutschen Jugend West Berlin, einer Jugendorganisation der SED–Westberlin, sein.94

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Siehe dazu den Bildanhang zu Kursbuch 12, Der nicht erklärte Notstand (1968), etwa die Bildunterschrift auf den Seiten 188f.: „Abb. 10: Die Beamten des ersten Keils in Aktion. 36 Meter Menschenmenge werden in die Krumme Straße getrieben. Die Polizei nennt das „Abkämmen“. Oberkommissar Burck: „Ich bin bereit [. . . ] zu beweisen, daß [. . . ] das Abkämmen in völliger Ruhe und kaum mit Schlagstockgebrauch durchgeführt wurde.“ Daniel Cohn-Bendit etwa sprach davon, dass sich der Medien „bedient“ wurde: „In Demonstrationen – unserer wirksamsten, weil medienwirksamsten Waffe – arrangierten wir uns gewissermaßen selbst, machten uns zum sozialen Körper, setzten uns ins Bild“, Daniel Cohn-Bendit, Tyrannei der Mehrheit –Tyrannei der Betroffenheit, in: Lutz Erbring (Hg.), Medien ohne Moral. Variationen über Journalismus und Ethik, Berlin 1988, S. 105–124, hier S. 111. Vgl. zum Wechselspiel von Medien und „68ern“ Kathrin Fahlenbrach, Protestinszenierungen. Die Studentenbewegung im Spannungsfeld von Kultur-Revolution und Medien-Evolution, in: Klimke, Handbuch, S. 11–21, hier bes. S. 17f. und die Beiträge zu „1960–1969“ in Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. Band II. 1949 bis heute, Göttingen 2008. Zum Wandel der Medienlandschaft vgl. Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit. 1945–1973, Göttingen 2006. Vgl. zur Auflagenstärke Marmulla, Kursbuch, S. 141. Kursbuch 9 erreichte die bis dato höchste Auflage von 24.940 Stück und vier Auflagen. Über 30.000 Auflagen erreichten die Kursbücher 12 und 13 und Kursbuch 17 mit sechs Auflagen bei 38.508 Stück. Vgl. hierzu u.a. Olav Teichert, „Mit APO immer, gegen Sowjets nimmer.“ Über die Beziehungen der SED–W und der APO in West-Berlin, in: Eckhard Jesse/Hans Peter Niedermeier (Hg.), Politischer Extremismus und Parteien, Berlin 2007, S. 424–444 und Ders., Die sozialistische Einheitspartei Westberlins. Untersuchung der Steuerung der SEW durch die SED, Kassel 2011.

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Die Rezension nutzte den Quellencharakter des Kursbuch-Arrangements aus, um „die Möglichkeit einer umfassenden Information über die Notstandsübung vom Juni 1967 und ihre Folgen“ zu beobachten.95 Kursbuch 13 war dem Thema Die Studenten und die Macht gewidmet und sollte den Zustand der internationalen Studentenbewegung in einer Art erstem Überblick zusammenfassen. Dieses Kursbuch wurde zum Sonderpreis von 5 statt 8 DM an Universitäten verkauft und beworben. Sogar in der Schweiz führte es ein Buchhändler mehrfach als „Bestseller“.96 Den Studenten gestand der als Leitaufsatz fungierende Beitrag von Bahman Nirumand eine große Rolle an den weltweiten Rebellionen und Protesten zu. Dadurch, dass sie keine „Existenz“ hätten, seien sie auch bereit, für ihre Überzeugungen mit dem ganzen Körper einzustehen. Er sah neben der „Befreiung von Herrschaft und Unterdrückung“ die studentischen Ziele gegen die „autoritäre Verfassung der Universität“ und gleichzeitig „gegen autoritäre Strukturen in der außeruniversitären Gesellschaft“.97 Nirumand: „Mit den Aktionen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke hat die Studentenbewegung angefangen, sich als solche abzuschaffen und zur außerparlamentarischen Opposition junger Arbeiter, Angestellter, Beamter, Schüler und Studenten zu werden“.98 Auch der zweite Teil der Berliner Gemeinplätze von Hans Magnus Enzensberger sah seit April „die intelligentesten jungen Arbeiter, Lehrlinge und Schüler“ von der Studentenbewegung erfasst. Im Unterschied zu Nirumand sah Enzensberger jedoch noch keine schlagkräftige außerparlamentarische Opposition. Was „national“ geschehen müsse, nennen die redaktionellen Anmerkungen des Kursbuches: Nicht Sekretariate und Generalsekretäre, sondern „Hunderte von Kurieren und Kontaktleuten“ würden gebraucht. Hierfür bot das Kursbuch als Anhang eine Adressenliste mit Kontaktdaten von Studentenorganisationen aus Skandinavien, Kuba, Kanada, den USA, Lateinamerika, dem Iran, Italien und Spanien an.99 Interessierte Studenten konnten diesem Kursbuch jedoch noch mehr entnehmen. Ein Dossier über politische Kriegsdienstverweigerung, übersetzt und kommentiert vom Herausgeber, griff neue Strategien auf. Präsentiert wurden Thesen aus Norwegen und den USA, die darauf abzielten, eine internationale Solidarität zu schaffen und die Verweigerung 95

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Der 2. Juni 1967. Zu Büchern der Studentenopposition, in: signal. Zeitschrift der Freien Deutschen Jugend West Berlin Nr. 3 vom Mai 1968, S. 5. Vermisst wurden „nur“ Berichterstattungen über die SED–W, FDJ und deren Organ „Wahrheit“. Vgl. die Werbeanzeigen von „buch 2000“ in: Neutralität. Kritische Schweizer Zeitschrift für Politik und Kultur 7 und 8, 1968. Bahman Nirumand, Die Avantgarde der Studenten im Internationalen Klassenkampf, in: Kursbuch 13, 1968, S. 1–17, Zitate S. 2 und S. 4. Ebd., S. 14. Hans Magnus Enzensberger, Berliner Gemeinplätze II, in: Kursbuch 13, 1968, S. 190–197; Adressenliste, ebd., S. 198–201.

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nicht bei einer individuellen Absage zu belassen, sondern stattdessen eine kollektive und motivierte Verweigerung zu etablieren.100 Die fehlende damalige politische Motivation hob jüngst Patrick Bernhard in einer Studie hervor101 – anzunehmen ist, dass das Kursbuch hier auf fruchtbaren Boden stieß in seiner Forderung nach mehr kollektiver politischer Arbeit. Ebenfalls auf die kollektive Zusammenarbeit setzte der Beitrag von Walter Kreipe, der sehr zeitnah und informiert den Zustand der französischen Studentenbewegung analysierte und die deutsch-französische Kollektivarbeit zum Ziel hatte.102 Wollte das Kursbuch einen ernsthaften Beitrag leisten für die Möglichkeit einer „Revolution“ in Westdeutschland? Es deutete sich an, dass es dem Kursbuch eher um Information denn um konkrete Richtungen ging, wie zwei ausgewählte Beispiele der Rezeption verdeutlichen. Sah die Frankfurter Rundschau eine „argumentative Geschlossenheit“ der Beiträge und eine „radikale Opposition“, deren Brücke zu Reform und Evolution zerstört sei, so ließ sich die studentische Aufnahme davon nicht beeindrucken, sondern vermisste gerade die Darstellung der Gemeinsamkeiten der westeuropäischen Studentenbewegungen in Protestformen, Zielen und Ursachen. Einzig die Beiträge zu Frankreich (Walter Kreipe) und Italien (Carlo Donolo) fanden ein positives Echo.103 Enzensberger selbst wollte „seinen“ Teil zum Erfolg der außerparlamentarischen Opposition und der Studentenbewegung mit seiner Zeitschrift nicht beitragen. Das Kursbuch bot kein Forum an und blieb dem Credo treu, keine Leserbriefe zu veröffentlichen. Thematisch schloss er mit den Studenten nach immerhin zwei Heften ab und widmete sich wieder anderen Themen für kommende Heftplanungen. „Enzensbergers verführbarer Erfahrungshunger“104 zeigte sich hingegen gut an seinem Interesse für die Vorgänge in West-Berlin. Er hielt gute Kontakte zu Rudi Dutschke, der teilweise auch Briefe an Enzensbergers Berliner Adresse empfing, zu Gaston Salvatore oder Peter Schneider. Salvatore stellte wie Dutschke eine Verbindung zum SDS her.105 Doch ein SDS-Forum bot das 100 101 102

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Dossier 3. Politische Kriegsdienstverweigerung, in: Kursbuch 13, 1968, S. 132–153. Patrick Bernhard, „Make love not war!“ Die APO, der Zivildienst und die sozialliberale Koalition, in: Udo Wengst, Reform, S. 11–30, hier S. 19f. Walter Kreipe, Studenten in Frankreich. Hintergrund und Potential einer politischen Bewegung, in: Kursbuch 12, 1968, S. 154–178. Rainer Roth, Überall Studenten Überall, in: Diskus. Frankfurter Studentenzeitung 5, 1968, S. 15; Manfred Müller, Ist die Revolution verloren?, in: Frankfurter Rundschau, 11. Juli 1968. Ina Hartwig, Ein mondäner Einzelgänger, in: Frankfurter Rundschau, 17. November 2000. Salvatore diskutierte nachmittags mit Enzensberger und berichtete abends Dutschke, wie er sich erinnerte: „Auf diese Weise profitierte der SDS, oft ohne es zu wissen, von Enzensbergers Fantasie und Erfahrung. Die Kampagne ‚Enteignet Springer!‘ war eine der bedeutendsten Folgen dieser Zusammenarbeit.“ Gaston Salvatore, Einer in Bewegung, in: Du. Das Kulturmagazin 699, 1999, S. 11–16, hier S. 15. Vgl. zur Freundschaft Salvatore – Enzensberger: Gaston Salvatore, Vom Luxus der Freundschaft, in: Wieland, Über Enzensberger, S. 130–136, hier bes. S. 132.

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Kursbuch nicht, wenngleich einige Beiträge wie der Bericht von Walter Kreipe, das oft zitierte Interview über die Zukunft in Kursbuch 14 mit Christian Semler, Rudi Dutschke und Bernd Rabehl oder der Beitrag von Heide Berndt in Kursbuch 17 suggerieren mögen. Am Beispiel des Interviews zeigte sich, dass die Redaktion die SDS-Kontakte einsetzte, wann sie es für passend hielt und nicht umgekehrt. Denn die Aussagen des im Herbst 1967 geführten Interviews mussten im Sommer 1968 in ihrer Vehemenz anachronistisch wirken, was der Redaktion bewusst gewesen sein mag.106 Doch mit diesem Arrangement verschaffte sich Enzensberger auch Freiraum gegenüber tagespolitischen oder bewegungsinhärenten Diskussionen. Stattdessen schuf er neue intellektuelle Felder, wie die Frage nach der Wirkmächtigkeit von Literatur um 1968 oder eine ab 1969 einsetzende Nachbetrachtung des Jahres 1968.107

5 Auf zu neuen Gleisen? Von Aufbrüchen und Abschieden Die Frage nach den Wirkungsmöglichkeiten und der Wirkungslosigkeit der Literatur um 1968 deutete auch auf eine Art ‚Aufbruch‘ der Kursbuch-Mitarbeiter hin. Auf Redakteur Karl Markus Michel geht die Idee des Kursbogens zurück, der fester Bestandteil der alternativen WG-Küchendekoration der frühen 1970er Jahre wurde und sich auch in einigen Exemplaren der SED-Plakatsammlung des Bundesarchives findet. Mit den Kursbögen gelang es, ein Mittel der Auflockerung gegen die wissenschaftlichtheoretischen Texte zu bieten. Erstmalig lag Kursbuch 15 ein Kursbogen bei, der dieses dem Heft beiliegende Poster auch gleich mit einem Paukenschlag bekannt machte. Walter Boehlich, Suhrkamp-Lektor, verkündete mit dem Titel Autodafé den „Tod der bürgerlichen Kritik“, was in der Rezeption zusammen mit den Kursbuch-Beiträgen von Enzensberger und Michel die Auseinandersetzung um einen „Tod der Literatur“ befeuerte.108 Diese Debatte ermöglichte es Siegfried Unseld, seinen Einfluss auf das Kursbuch geltend zu machen, da ihn die Kursbögen störten, die scheinbar an ihm vorbei feste Beilage wurden. Einen Literaturtod wollte er nicht in seinem Verlag publi-

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So die Aussagen, dass bestimmte Personen West-Berlin zu verlassen hätten, da sie nicht „revolutionär“ zu gebrauchen seien. Bernd Rabehl formulierte: „Wo es ganz klar ist, daß eine Umerziehung unmöglich ist, etwa bei älteren Leuten und bei bestimmten Verbrechern, da sollte man den Betreffenden die Möglichkeit geben, auszuwandern.“ Hans Magnus Enzensberger, Ein Gespräch über die Zukunft mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler, in: Kursbuch 14, 1968, S. 146–174, hier S. 171. Hans Magnus Enzensberger, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, S. 187–197 und Karl Markus Michel, Ein Kranz für die Literatur, S. 169–186, fragten in Kursbuch 15, 1968 nach dem Zustand der zeitgenössischen Wirksamkeit der Literatur; Heft 16 fragte schon nach „Lehren“ des Mai 1968: Walter Kreipe, Spontaneität und Organisation. Lehren aus dem Mai–Juni 1968, in: Kursbuch 16, 1969, S. 38–76. Vgl. dazu Marmulla, Kursbuch, S. 176–198.

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zieren und bemängelte auch das Niveau folgender Kursbögen. Der Streit um die Herausgeberautonomie führte 1970 zum Kursbuch-Abschied vom Suhrkamp-Verlag.109 Ermöglichte der Kursbogen eine Neuorientierung und ein neues Mittel des Ausdrucks, so soll an drei Beispielen der Punkt der Verantwortung untersucht werden. Denn kein Kommentar führte die Kursbögen ein oder erklärte ihren Inhalt – einzig der Titel der Bögen auf dem Umschlag wurde genannt, sonst deutete nichts auf die Beilage des Posters hin. Schon an den Texten von Enzensberger und Michel lässt sich eine gewisse „Ich“-Losigkeit feststellen: Für die Wirkung, Verwendung und Deutung ihrer Texte fühlten sich beide nicht zuständig, was durchaus geschickt in die Konzeption des Kursbuches passte, keine eindeutigen Verbindungen anzugeben. Doch für die Rezeption der Kursbögen sollte dies anhand der gezeigten Darstellungen und Bilder ohne Kommentar eine stärkere Wirkung hervorrufen. Im ersten Beispiel soll sich noch ein ironischer Umgang mit einer möglichen Wirkung zeigen. Eine Leserzuschrift an die Kursbuch-Redaktion forderte für die „Basisgruppe Germanistik“ der Universität Tübingen 1.000 kostenlose Exemplare oder die Vervielfältigungsgenehmigung ohne Honorar des Autodafé-Kursbogens aus Heft 15 („zu Propagandazwecken“). Michel, als „Genosse Theoretiker“ angesprochen, ließ eine Abdruckgenehmigung und einen Honorarverzicht zu, doch müsse er die Studenten unterrichten, „daß wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, der auch der Suhrkamp Verlag und das Kursbuch Tribut zollen müssen, was bedeutet, daß wir die gewünschten 1000 Kursbögen leider nicht zu Verfügung stellen können. Hingegen sind sowohl Walter Boehlich als auch der Verlag gern bereit, Euch die Genehmigung zur honorarfreien Vervielfältigung des Autodafés zu geben, damit ihr Euch daran ergötzen könnt.“110 Diese Anfrage zeugte von der „offensivsten“ Kursbuch-Nutzung und deutete den kreativen Raum der Verwendungszwecke an, den die Kursbögen ermöglichten. Das zweite Exempel versucht die Problematik der Nicht-Deutung der Poster darzustellen. Im Zuge der kirchlichen Missbrauchsfälle griff der Spiegel auf einen Kursbogen des Heftes 17 aus dem Jahre 1969 zurück. Plakativ wollte der Artikel zeigen, dass auch die „Linke“ und im Speziellen die 68er ihr eigenes Missbrauchsproblem hätten.111 Teil der Argumentation des Artikels ist der Kursbogen zu Heft 17, welches Frau 109 110 111

Vgl. ebd., S. 199–217. Zit. nach ebd., S. 123. Jan Fleischhauer/Wiebke Hollersen, Kuck mal, meine Vagina, in: Der Spiegel, 21. Juni 2010, S. 40– 45. Die innewohnende Polemik erklärt sich: Jan Fleischhauer verfasst die Online-Kolumne „Der schwarze Kanal“ bei Spiegel Online und ist durch seine Veröffentlichung Jan Fleischhauer, Unter Linken. Von einem, der aus Versehen konservativ wurde, Reinbek bei Hamburg 2009 hervorgetreten.

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Familie Gesellschaft gewidmet war. Dieser Kursbogen zeigte die beiden Kinder der Kommune 2, Grischa und Nessim, wie sie nackt vor dem Spiegel stehen und sich gegenseitig ihre Geschlechtsteile zeigen. Im Zuge der damaligen antiautoritären Kinderund Sexualerziehung mochte der Kursbogen nicht sonderlich aufgefallen sein, doch liegt die Bedeutung auf einer anderen Ebene. Denn an keiner Stelle wird deutlich, welche Wirkung der Kursbogen einnehmen soll. Kein Kommentar, keine Einleitung, kein zugehöriger Text erläutert die Beilage des Bogens, der nur dem jeweiligen Heftthema zugeordnet werden kann. Der Betrachter muss sich also entscheiden, ob die Bilder Ideen provokativ zur Schau stellen, ob abwegige Ideen überspitzt und in ihrer Drastigkeit ablehnend vorgeführt werden oder die provokative Wirkung verkaufsfördernd eingesetzt werden soll. Auch der Spiegel-Artikel entledigt sich einer Kursbogen-Wertung, verweist aber auf die heute eindeutige Nähe zur Pädophilie. Ein weiteres sehr mehrdeutiges Beispiel ist der dem Heft 18 zum Thema Cuba beigelegte Kursbogen. Nahm das Kursbuch vorsichtig eine Korrektur der einstigen Kuba-Begeisterung Enzensbergers durch seinen Beitrag über die kubanische Partei vor, so informierte der dem Heft beiliegende Kursbogen über Neue Methoden Stadtguerilla. In Tageszeitungsoptik gehalten, berichtete der DIN A3 große Bogen über erfolgreiche Stürmungen von Rundfunkeinrichtungen, erfolgreiche Geld- und Waffenraubzüge und Angstzustände der Regierung. Das Inhaltsverzeichnis nennt als Autor Carlos María Gutíerrez, auf dem vorderen Einband ist schlicht „Kursbogen: Tupamaros“ zu lesen. In einer Zeit, in der sich die Tupamaros West-Berlin mit Dieter Kunzelmann und die Tupamaros München gründeten, kam dem Kursbogen eine gewisse Aktualität zu. Zwar ermöglichte das Zeitungslayout die Möglichkeit der reinen Information über lateinamerikanische Neuigkeiten, doch äußerte sich Herausgeber Enzensberger zur gleichen Zeit gegenüber der kubanischen Zeitschrift Casa Las Americás: „Gegenwärtig veranschaulicht uns eine Organisation wie die Tupamaros in Uruguay Formen des Kampfes, die direkt auf Europa angewendet werden können und müssen.“112 Was die Redaktion mit dem Bogen bezweckte, führte kein Kommentar oder Text ein, dem Leser blieb die Einordnung alleine überlassen. Möglich war etwa die „erste authentische Information“ aus Uruguay und über die Tupamaros durch das Kursbuch, wie der Spiegel 1972 registrierte. Deutlich verweisen Gerd Langguth und Willi Winkler auf den heiklen Informationsgehalt zur damaligen Zeit und die gleichzeitige Verantwortung des Herausgebers. Winkler sieht gar einen „Revolutionsagitator“ in Enzensberger.113 Ebenfalls in diese Richtung 112 113

Das Interview mit der kubanischen Kulturzeitschrift Casa Las Americás ist in Grimm, Texturen, S. 218–228, hier S. 227 nachgedruckt. Gerd Langguth, So harmlos war er nicht, in: Cicero 3, 2008, S. 18–22; Willi Winkler, Die Geschichte der RAF, Berlin 2007, S. 59.

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deutete Wolfgang Kraushaar im Gespräch mit Enzensberger im Jahre 2005 die Lesbarkeit des Kursbogens: „Das wurde damals geradezu als eine Art Angebot verstanden, so als hätte man dem Kursbuch tatsächlich entnehmen können, wohin die revolutionäre Reise als nächstes führen müsste.“114 Konkret lässt sich der damalige Herausgeber nicht auf diese Verantwortung ein: „Man muss auch sehen, dass damals bei allen Beteiligten ein riesiger Wirrwarr vorhanden war. Ich will mich da gar nicht ausschließen. Es gibt Sachen, die mir noch heute unangenehm sind. Uns allen geht es ja so.“115 Abschied nahm das Kursbuch nicht nur von der Kuba-Euphorie, sondern es trug auch mit Heft 19 zur Kritik des Anarchismus zu einer Debatte um alte Konzepte bei, die in der Studentenbewegung existierten und in der Folge abgelöst wurden. Das Kursbuch „war ein Teil dieses Demontagevorgangs“, wie es Detlef Siegfried zusammenfasst.116 Denn es gelang, mit den publizierten Texten die Debatten der zerfallenden außerparlamentarischen Opposition und der Studentenbewegung zu erreichen. Aufmerksam und detailliert-kritisch wurde das Kursbuch von studentischer Seite (unter anderem Politikon), als auch von den DKP-nahen Marxistischen Blättern untersucht.117 Besonderen Wert legten beide Rezensionen auf den Artikel des Ost-Berliners Wolfgang Harich. Dass die Redaktion einen Nerv traf, zeigte sich an der großen Rezeption des Artikels, die dazu führte, dass Harich 1971 eine eigene Abhandlung verfasste, da er sich missverstanden fühlte.118 Gut erkennbar ist, dass das Kursbuch durch die weite Rezeption den Zerfall der Bewegungen in einzelne Fraktionen begleitete und Aufmerksamkeit in weiten Teilen genoss. Auch für die Absonderung in Kleingruppen wie Marxisten-Leninisten, Maoisten besaß das Kursbuch Quellenwert, etwa aufgrund der frühen Kronstadt-Zuwendung, die ab 1970 wieder einsetzte.119

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Kraushaar, Interview Enzensberger, S. 1399. Ebd., S. 1399f. Rückblickend „unangenehm“ für Enzensberger war das Kursbuch 32. „Damit waren wir reingefallen“ kommentierte er im Interview die propagandistischen Züge, die den Weg in dieses Kursbuch zur „Isolationsfolter“ fanden. Michel, der sich nach Enzensberger während seiner Abwesenheit habe „einschüchtern“ lassen, verfasste die Einleitung. Vgl. Karl Markus Michel, Folter in der BRD. Zur Situation der Politischen Gefangenen, in: Kursbuch 32, 1973, S. 1–10. Sieg fried, Time, S. 711. Heinz Brüggemann, Von der anti-autoritären Bewegung zur anti-autoritären Organisation, in: Politikon 30, 1970, S. 3–7; Johannes H. von Heiseler, Anarchismus (Kursbuch 19, 1969), in: Marxistische Blätter 4, 1970. Vgl. Wolfgang Harich, Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus, Basel 1971. Vgl. zum Umbruch Sieg fried, Time, S. 709–713. Siehe Literatur in FN 62.

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Deutungen und Schlussbetrachtung Bis heute vermeidet Hans Magnus Enzensberger geschickt die Festlegung auf eine Position, was ihm zu seinem 80. Geburtstag den Titel „Meister der Lüfte“ einbrachte.120 Auch für das Kursbuch kann diese Nicht-Festlegung festgestellt werden, denn wie die Bahnkursbücher sollte Enzensbergers Zeitschrift mehrere Verbindungen in unterschiedliche Richtungen angeben. Wenn Enzensberger sich selbst um 1968 als ethnologisch „teilnehmender Beobachter“ sieht und doch teilweise den Beobachtungsposten verließ, so ist dies auch für das Kursbuch festzustellen. Denn die Zeitschrift war kein „Hausorgan“ der 68er-Bewegung (Henning Marmulla) und auch ist den Beobachtungen von Biograph Jörg Lau zuzustimmen, dass sich dort nicht die ‚Protagonisten‘ äußerten.121 Das Kursbuch wollte kein Forum für Debatten und mögliche Vertiefungen bieten, wenn es mit jedem Heft ein neues Thema erwählte. Dem Kursbuch konnten keine direkten Parolen oder konkrete Aufforderungen entnommen werden, was sich mit der „Ich“-Losigkeit der Texte von Enzensberger und auch Michel deckt, die beide kein zweites Mal auf publizierte Texte eingingen. Das Kursbuch ließ, dem Bild der Schienen entsprechend, nur die Fahrtrichtung nach vorne zu. Die Andeutung einer „Schreibtischtäterschaft“ Enzensbergers, die Gerd Langguth und Willi Winkler beobachten, trifft besonders bei den Kursbögen, die ohne Kommentar lose ab Heft 15 beilagen, stellenweise einen Nerv und auch Enzensberger selbst bezog zum Komplex der Verantwortung keine klare Stellung, sondern ihm war nur eine Flucht ins Kollektiv der Bewegung zu entlocken.122 Widersprüche zeigen sich, da das Kursbuch als erstes größeres Medium mit der Stadtguerilla lateinamerikanischen Zuschnitts bekannt machte. Brisant war, dass neben dem Kursbogen zu den Tupamaros auch eine Reportage im Kursbuch diese Praxis recht anrührend schilderte, wie Wolfgang Kraushaar die Wirkung illustrierte.123 In der Zeit der auseinanderfallenden außerparlamentarischen Bewegung fiel allein dem Leser die Deutung der Texte zu. Scheinbar entkräftend spielen die rückblickenden Stellungnahmen von Peter Rühmkorf und Götz Aly auf eine sehr intellektuelle Leserschaft an. Rühmkorf bezeichnete das Kursbuch als „edeljakobinisch“124 und Aly als „Gartenlaube für die gehobenen Stände der Neu-

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Vgl. Hanjo Kesting, Meister der Lüfte. Hans Magnus Enzensberger zum 80sten Geburtstag, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 10, 2009, S. 63ff. Vgl. Lau, Enzensberger, S. 255. Kraushaar, Interview Enzensberger, S. 1399 und Abschnitt V dieses Aufsatzes. Ebd. und Faure Chaumón, Der Angriff auf den Präsidentenpalast, in: Kursbuch 18, 1969, S. 29–38. „Während es für ihn [Enzensberger, K.N.] und die Seinen immer so etwas wie ein hervorragendes Nervenerlebnis zu bedeuten schien, sich gemein zu machen [. . . ], wurackten wir [konkret, K.N.] immer sehr viel tiefer unten herum, mit zweideutigen Mitteln und nie stubenrein, aber der Dreck, der kam von der Basis her, und da saßen wir auch nie wie zuhause, leichten Hauptes und leichter

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en Linken“125 . Doch entdeckte auch Aly konkrete Widersprüche in der Darstellung der Chinesischen Kulturrevolution durch Joachim Schickel im neunten Heft. Er bemängelte die Quellen des Artikels, die auf Aussagen eines früheren Mitarbeiters der NS-Hauptabteilung Wirtschaft beruhten: „Auf solchen geistigen Grundlagen propagierte das Kursbuch 1967 die Kulturrevolution Maos. Für die, die solche Texte damals gläubig verschlungen haben, bleibt das eine biographische Schande.“126 Peter Schneider äußerte im Rückblick, dass Enzensbergers Einfluss auf Jüngere um 1968 kaum überschätzt werden könne, was mögliche Nebenwirkungen der unkommentierten Texte und Kursbögen als mehrdeutig-kritische Quelle anzeigt.127 Enzensberger und Michel als alleinige „Redaktion“ sprachen mit dem Kursbuch breite Teile der außerparlamentarischen Opposition an und belebten Diskussionen. Dies zeigen etwa die Forderung der Anerkennung der DDR (Heft 4), die Thematisierung der „dritten Revolution“, die Bekanntmachung mit Kronstadt 1921 (Heft 9) sowie die Studentenhefte 12 und 13. Dabei wirkte das Kursbuch auch moderierend, wenn etwa der mögliche Tod der Literatur in Heft 15 oder die Kritik des Anarchismus (Heft 19) eine große und sehr lebhafte Resonanz erfuhren. Interessant ist, dass es die Zeitschrift schaffte, sowohl in die Kreise der außerparlamentarischen Opposition und der Studentenbewegung, als auch in das deutsche Feuilleton hineinzustrahlen. Dies gelang auch mit Heft 17 zum Thema Frau Familie Gesellschaft. Den Zielgruppenkreis schließend, machte Klaus Hartung im Jahre 1978 die positive generationelle (68er)Selbstwahrnehmung ebenfalls im Kursbuch aus. Dass es durchaus von Seiten des SDS und anderer Fraktionen einen „Kampf“ um das Kursbuch gegeben hatte, schilderte Enzensberger selbst in einem Interview 2005.128 Dabei stellte er heraus, dass er versucht habe, das Kursbuch „überfraktionell“ zu halten, räumte aber auch ein, dass ihm dabei durchaus Fehler unterlaufen seien.129 Letztlich blieb die schwierige Aufgabe der Deutung der Kursbuch-Texte und Kursbögen dem Leser überlassen. Gemischt mit ei-

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Hände.“ In: Wolfgang Rasch (Hg.), Peter Rühmkorf. Die Jahre die ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen (Werke 2), Reinbek bei Hamburg 1999, S. 206. Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008, S. 90. Zum Kursbuch 9 vgl. ebd., S. 112–115, Zitat S. 114. Denn es war Enzensbergers „[. . . ] Pech, dass jedes, auch jedes unbedachte Wort von ihm kraft seiner enormen Autorität Folgen hatte“, Schneider, Mein ’68, S. 196. „Eines kann ich vielleicht für mich in Anspruch nehmen, dass ich diese Fraktionskämpfe nicht mitgemacht habe. Zeitweilig artete das auch in einen Kampf um das Kursbuch aus, einem Streit um seine politische Ausrichtung. Ich habe immer darauf geachtet, dass sich alle Fraktionen dort äußern konnten. Die anderen Gruppierungen hatten ja bereits ihre eigenen Parteizeitungen.“ Kraushaar, Interview Enzensberger, S. 1399f. Erst in den 1970er Jahren wurde das Kursbuch mit einer Ausgabe „fremdbestimmt“, etwa in der Thematisierung der „Isolationshaft“ im Jahre 1973. Vgl. Kraushaar, Interview Enzensberger, S. 1400. Enzensberger bemerkte: „Es gibt Sachen, die mir noch heute unangenehm sind. Uns allen geht es ja so. Eine der schlimmsten Sachen – mit der ich allerdings persönlich nichts zu tun hatte -, das war ein Kursbuch über die sogenannte Isolationsfolter.“ Ebd., S. 1400.

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ner Attraktivität der vorgestellten Texte, die später teils als „Schlüsseltexte“ gewertet wurden, hielt das Kursbuch durchaus mehr Verbindungen parat, als die hohe Auflage vermuten lassen mag. Es sorgte zwar nicht für eine tätliche „Bewegung in der Republik“130 , da es programmatische Aufforderungen ironisch unterlief. Doch sorgte es für geistige Verbindungen der auseinanderfallenden außerparlamentarischen Bewegung, die durchaus auf das Kursbuch zurückgriff, wie die intensive Rezeption des Heftes 19 zur Kritik des Anarchismus belegen mag.

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Michel, Bewegung.

„Wir sind doch nicht die SA der Professoren!“ – Das studentische Verbindungswesen und die Achtundsechzigerbewegung Matthias Stickler

1 Grundsätzliches zum Thema Das Thema „Studentische Verbindungen“1 scheint auf den ersten Blick nicht viel mit dem Thema „Achtundsechzigerbewegung“ zu tun zu haben. In einer breiteren Öffentlichkeit hängt ja dem Verbindungswesen hartnäckig der Ruf an, reaktionärrückwärtsgewandt oder zumindest konservativ-verstaubt zu sein. Eine derartige Einschätzung passt ganz offensichtlich nicht zu idealtypischen Vorstellungen von revolutionärem Handeln. Hinzu kommt, dass „1968“ ja gemeinhin als „linkes“ Phänomen gilt und Verbindungen traditionell als „rechts“ gelten.2 Dieser Befund muss den Fachmann insofern ein wenig verwundern, als studentische Verbindungen und hierbei insbesondere die burschenschaftliche Bewegung sowie die Vereine deutscher Studenten, stets ein wichtiger Bestandteil des modernen studentischen politischen Aktivismus in Mitteleuropa waren, ja diesen vielfach anführten bzw. ihm die Richtung gaben. Man denke nur an die Urburschenschaft, die studentische 1

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Vgl. hierzu im Überblick Matthias Stickler, Universität als Lebensform? Überlegungen zur Selbststeuerung studentischer Sozialisation im langen 19. Jahrhundert, in: Rüdiger vom Bruch u. M. von Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910 (=Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 76), München 2010, S. 149–186; dort auch ausführliche Diskussion von Quellen und Literatur. Vgl. ferner folgende Werke (Auswahl): Harm-Hinrich Brandt/Matthias Stickler (Hg.), „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens. (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, Bd. 8), Würzburg 1998 (Sammelband mit Überblicksbeiträgen, die entweder epochal oder nach Sachthemen ausgerichtet sind); Alexandra Kurth, Männer – Bünde – Rituale. Studentenverbindungen seit 1800, Frankfurt am Main 2004 (Soziologisch und geschlechtergeschichtlich orientierte Studie, deren Schwerpunkt auf der Zeit vor 1945 liegt); Paulgerhard Gladen, Die deutschsprachigen Korporationsverbände, Hilden 2008; Ernst-Günter Glienke, Civis Academicus 2005–2006. Handbuch der deutschen, österreichischen und schweizerischen Korporationen und studentischen Vereinigungen an Universitäten und Hochschulen sowie Schülerverbindungen. Redaktion: Ernst Thomas, Köln 2004 (beides nützliche Nachschlagewerke). Zahlreiche Beispiele für solche Stereotypen, die immer wieder in publizistischen Quellen, teilweise aber auch in wissenschaftlicher Literatur auftauchen, finden sich etwa in dem Bändchen von Felix Krebs/Jörg Kronauer, Studentenverbindungen in Deutschland. Ein kritischer Überblick aus antifaschistischer Sicht, Münster 2010.

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Reformbewegung im Kontext der Revolution von 1848, aber auch die sozialkonservative und antisemitische Bewegung in der deutschen Studentenschaft seit den 1880er Jahren oder die völkische Studentenbewegung nach dem Ersten Weltkrieg. Nun erschöpfte sich bekanntlich die Achtundsechzigerbewegung keineswegs in der Studentenbewegung, doch wird man, wenn man einmal Abschied nimmt von einem simplen teleologischen Denken in den Kategorien von „progressiv“ und „reaktionär“, die Proteste des Jahres 1968 an den Hochschulen im deutschsprachigen Raum und deren Folgen auch deuten können als vorerst letzten Höhepunkt einer Tradition des studentischen politischen Aktivismus, der im Gefolge der revolutionären Ereignisse in Frankreich in den 1790er Jahren seinen Anfang genommen hatte. Insofern ist es erklärungsbedürftig, ob wirklich bzw., wenn ja, warum „1968“ und das „deutsche Verbindungswesen“ nichts miteinander zu tun haben. Ein zweiter Aspekt ist hier noch zu nennen: Politischer Aktivismus und revolutionäre Tat sind das eine, doch erschöpfte sich die Achtundsechzigerbewegung ja keineswegs in der Einforderung von politischen Veränderungen bzw. dem Versuch der Überwindung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie westeuropäischen Typs. Ingrid Gilcher-Holtey hat zu Recht darauf verwiesen, dass die Achtundsechzigerbewegung, gemessen an ihren politischen Forderungen, gescheitert ist, dass sie aber im Hinblick auf ihre kulturrevolutionären Zielorientierungen im Sinne einer Lebensstilreform durch Veränderung der Bewusstseins- und Bedürfnisstrukturen wesentlich erfolgreicher war.3 Insofern gilt es zu prüfen, ob der sich seit den 1960er Jahren vollziehende und durch „1968“ noch verstärkte Werte- und Mentalitätswandel an den Verbindungen tatsächlich so spurlos vorübergegangen ist, wie etwa der als radikaler Verbindungskritiker hervorgetretene frühere DDR-Historiker, SED- und Kulturbundfunktionär und zeitweilige PDS-Bundestagsabgeordnete Ludwig Elm meint. Dieser sprach 1992 vom „Unvermögen zu einer vielfach geforderten programmatischen und institutionellen Reform des Verbindungswesens“ und konstatierte deshalb im Hinblick auf die Ereignisse von 1967/68 ein Scheitern der Verbindungen.4 Erforscht sind diese Fragen bisher kaum. Dafür gibt es vor allem drei Gründe: Erstens ist die Quellenlage nicht ganz einfach, weil die Verbindungsarchive sich zumeist in Privatbesitz befinden bzw. die Verbindungen bzw. verbindungsstudentischen Dachverbände nicht immer daran interessiert sind, Außenstehenden den Zugang zu ermöglichen. Zweitens gibt es in der Historikerzunft, wohl als Folge des oben beschriebenen Bildes in der Öffentlichkeit, diverse Berührungsängste gegenüber

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Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland. Westeuropa. USA, München 2001, S. 126. Ludwig Elm/Dietrich Heither/Gerhard Schäfer, Füxe, Burschen, Alte Herren. Studentische Korporationen vom Wartburgfest bis heute, Köln 1993, S. 214.

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den Verbindungen. Damit hängt auch zusammen, dass die gar nicht so wenigen historischen Veröffentlichungen, die im „Dunstkreis“ von Verbindungen entstehen, in der Wissenschaft überwiegend nicht zur Kenntnis genommen werden. Jenen haftet in der Regel der Verdacht an, vorwiegend an apologetischer Selbstbespiegelung nach dem Vorbild der überkommenen verbindungsstudentischen Festschriftenliteratur interessiert zu sein. Demgegenüber wird zumeist übersehen, dass viele dieser von Verbindungshistorikern verfassten Arbeiten so unprofessionell häufig nicht sind; zudem taugen auch chronikalisch angelegte Festschriften bzw. wenig differenzierte Arbeiten immerhin noch als Traditionsquellen, sind sie häufig doch aus Archivgut oder zumindest verbindungsinternem Material gearbeitet. Drittens werden als Folge der Veränderungen an den Universitäten seit dem Zweiten Weltkrieg die Verbindungen bestenfalls noch als Relikte einer überwundenen Epoche und damit als vernachlässigenswerte Größe wahrgenommen.5 Es fällt überhaupt auf, dass das wichtige Thema „Student und Gesellschaft“ bisher kaum systematisch erforscht wurde;6 dies gilt auch und vor allem für die Zeit nach 1945. Für die folgenden Ausführungen konnte deshalb kaum auf bereits veröffentlichte Spezialuntersuchungen zurückgegriffen werden, präsentiert werden vielmehr die Ergebnisse eigener Quellenforschungen, die indes bei weitem noch nicht abgeschlossen sind. Insofern wird im Folgenden eine Art Werkstattbericht vorgelegt, der die großen Linien des Themas absteckt, im Detail aber zweifellos noch ergänzungsbedürftig ist.

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Vgl. etwa Konrad Jarausch, Deutsche Studenten 1800–1970, Frankfurt am Main 1984, S. 219ff. Vgl. ferner Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa. Band IV: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, München 2010, hier den Beitrag des belgischen Historikers Louis Vos, bes. S. 254–267. Vgl. auch Christa Berg u.a. (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 6: 1945 bis zur Gegenwart. Teilbd. 1: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, wo das Thema „Studentenverbindungen“ völlig fehlt. Ähnliches gilt für Thomas Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1992. Anders dagegen Helge Kleifeld, „Wende zum Geist?“ Bildungs- und hochschulpolitische Aktivitäten der nicht konfessionell gebundenen studentischen Korporationen an westdeutschen Hochschulen 1945–1961 (=Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen, Bd. 12), Köln 2002. Vgl. im Überblick Harald Lönnecker, Studenten und Gesellschaft. Studenten in der Gesellschaft – Versuch eines Überblicks seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Universität im öffentlichen Raum, Basel 2008 (=Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 10), S. 387–438 sowie Matthias Stickler, „Vom Burschen zum Studi“. Anmerkungen zum soziokulturellen Wandel in der Studentenschaft, in: Bernhard Grün u.a. (Hg.), Zwischen Korporation und Konfrontation. Beiträge zur Würzburger Universitäts- und Studentengeschichte, Köln 1999, S. 410–422. Ebenfalls nützlich ist Jarausch, Deutsche Studenten.

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2 „Neue Burschenherrlichkeit“ und „Skeptische Generation“ – Determinanten der Wiederentstehung des studentischen Verbindungswesens nach 1945 Zunächst sollen im Folgenden einige Basisinformationen zum studentischen Verbindungswesen geboten werden, da diese für das deutsche Universitätssystem lange Zeit typische studentische Sozialisationsform heute weitgehend unbekannt ist bzw. häufig verzerrte Vorstellungen im Raume stehen. Unter studentischen Korporationen oder Verbindungen versteht man7 auf Lebenszeit angelegte Zusammenschlüsse von Studenten (den sogenannten „Aktiven“) und bereits berufstätigen ehemaligen Studenten (den sogenannten „Alten Herren“ oder „Philistern“), die zumeist männerbündisch8 verfasst sind und vereinsähnliche Organisationsstrukturen aufweisen. Zumeist sind lediglich die Altherrenverbände rechtsfähige Vereine, da diese das Verbindungsvermögen verwalten. Im Hinblick auf die äußeren Formen und das Brauchtum unterscheidet man die farbentragenden (zumeist dreifarbiges Band und Mütze) von den nichtfarbentragenden oder „schwarzen“ Verbindungen sowie die Mensuren schlagenden, also den ritualisierten Zweikampf mit Schlägern pflegenden Verbindungen, von den nichtschlagenden, die dies ablehnen. War es vor dem Zweiten Weltkrieg bzw. bis zum Verbot bzw. der Selbstauflösung der Verbindungen zwischen 1933 und 1938 noch notwendig gewesen, dass die aktiven Verbindungen bei Universitätsbehörden aufgrund von deren Disziplinargewalt über die Studenten um Genehmigung ihrer Tätigkeit nachsuchen mussten, so verschwand diese Praxis nach 1945. Dies auch deshalb, weil die deutschen Universitätsleitungen immer wieder versuchten, ihre Disziplinargewalt zur Unterdrückung der Verbindungen zu nutzen, wogegen diese gerichtlich vorgingen und letztlich auch Recht bekamen. Besonders bekannt geworden sind hierbei die Verhältnisse an der Freien Universität Berlin; dort führten die Universitätsbehörden bis in die 1960er Jahre einen erbitterten Kampf gegen die studentischen Verbindungen, insbesondere gegen die Waffenstudenten.

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Erweiterte Definition nach Christopher Dowe/Stephan Fuchs, Katholische Studenten und Antisemitismus im Wilhelminischen Deutschland, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 571–593, hier S. 573 FN 11. Zum Phänomen des Männerbundes vgl. vor allem: Wolfgang Lipp, Verbindungen als Männerbünde, in: Brandt/Stickler (Hg.), „Der Burschen Herrlichkeit“, S. 367–382; Jürgen Reulecke, „Ich möchte einer werden, so wie die. . . “. Männerbünde im 20. Jahrhundert (2001); Wolfgang Wippermann, Männer und Mensuren. Waffenstudenten in geschlechtergeschichtlicher Sicht, in: Brandt/Stickler (Hg.), „Der Burschen Herrlichkeit“, S. 231–247; vgl. hierzu auch die Ausführungen von Kurth, Männer – Bünde – Rituale, S. 137ff.

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Letztlich erwies es sich aber als unmöglich, in einer demokratischen Gesellschaft einem Teil der Studentenschaft das Recht auf Selbstorganisation zu verwehren.9 Die Konflikte um die Wiederzulassung der Studentenverbindungen und ihr Brauchtum müssen gesehen werden vor dem Hintergrund von deren Rolle in der Zwischenkriegszeit: Das offensichtliche Versagen der Mehrzahl der Verbände vor dem Nationalsozialismus10 stellte nach dem Zweiten Weltkrieg eine dauerhafte Hypothek für ihre Existenzberechtigung dar.11 Deshalb suchten die Besatzungsmächte und Universitäten zunächst auch vehement, jede Wiedergründung zu verhindern. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings durchaus bezeichnend, dass man in der öffentlichen Diskussion zwar den Korporationen ihre Mitschuld am Aufkommen das Nationalsozialismus vorhielt, dabei aber weitgehend ausgeblendet wurde, dass die Korporationen Teil eines insgesamt mehrheitlich rechtsgerichteten universitären bzw. akademischen Milieus gewesen waren. In gewisser Weise fungierten die Verbindungen als eine Art Sündenbock für die Universitäten, die diesen bzw. dem universitären Lehrkörper eine tiefere Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in der NS-Zeit ersparte.12 Letztlich waren jedoch, wie bereits erwähnt, alle verbindungsfeindlichen Maßnahmen vergeblich: Nachdem 1947/48 zunächst die katholischen Korporationsverbände, deren Mitglieder im „Dritten Reich“ vielfach Verfolgungen ausgesetzt gewesen waren, wiederentstanden waren, gründeten sich mit Ausnahme

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Erschöpfend ist dieses Thema noch nie erforscht worden. Vgl. hierzu im Überblick Peter Stempel, Wiederbeginn in feindseliger Umwelt – das alte Erbe und die Umwertung der Werte, in: RolfJoachim Baum (Hg.), „Wir wollen Männer, wir wollen Taten!“ Deutsche Corpsstudenten von 1848 bis heute, Berlin 1998, S. 207–238 und Dietrich Heither, Nicht nur unter den Talaren. . . Von der Restauration zur Studentenbewegung, in: Dietrich Heither u.a. (Hg.), Blut und Paukboden. Eine Geschichte der Burschenschaften, Frankfurt am Main 1997, S. 159–186, bes. S. 159–171. Diese beiden Beiträge sind zwar faktengesättigt und gut belegt, argumentieren aber sehr stark parteilich im Sinne einer Legitimierung (Stempel) bzw. Delegitimierung (Heither) des Verbindungswesens. Vgl. auch Rainer Maaß, Die Studentenschaft der Technischen Hochschule Braunschweig in der Nachkriegszeit (=Historische Studien, Bd. 453), Husum 1998, S. 182–207 sowie Christian Schmidtmann, Katholische Studierende 1945–1973. Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (=Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen Bd. 102), Paderborn u. a. 2006, S. 101–190. Vgl. hierzu bes.: Friedhelm Golücke (Hg.), Korporationen und Nationalsozialismus, Schernfeld o. J. [1989]; Michael Grüttner, Die Korporationen und der Nationalsozialismus, in: Brandt/Stickler (Hg.), „Der Burschen Herrlichkeit“, S. 125–143; Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995; Matthias Stickler, Zwischen Reich und Republik. Zur Geschichte der studentischen Verbindungen in der Weimarer Republik, in: Brandt/Stickler (Hg.), „Der Burschen Herrlichkeit“, S. 85–108. Vgl. hierzu den hochinteressanten Briefwechsel zwischen dem Politikwissenschaftler Ossip K. Flechtheim und dem Berliner Corps Lusatia, in: Der Convent 19, 1968, S. 141–143. Dieses Thema sollte erst in den späten 1990 Jahren an Relevanz gewinnen, vgl. hierzu etwa: Otto Gerhard Oexle/Winfried Schulze, Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2000 sowie Rüdiger Hohls/Konrad H. Jarausch/Torsten Bathmann (Hg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, München 2000.

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der von den Nationalsozialisten unwiderruflich zerstörten jüdischen und der Damenverbindungen bis Mitte der 1950er Jahre nahezu alle Korporationsverbände wieder, die ehedem existiert hatten, auch die sogenannten „schlagenden“ Verbände, die die Traditionen des Waffenstudententums fortsetzten. Diese schafften zwar das Prinzip der unbedingten Satisfaktion mit der Waffe – also das Duellwesen alter Art – ab,13 hielten aber, was teilweise zu innerverbandlichen Auseinandersetzungen führte, am Prinzip der Bestimmungsmensur, also des ritualisierten, vereinbarten Zweikampfs mit Schlägern als notwendigem Initiationsritus nach wie vor fest. Die größten Korporationsverbände14 in der frühen Bundesrepublik waren: Die farbentragende und schlagende Deutsche Burschenschaft (DB: 5.591 Aktive, 23.500 Alte Herren), der farbentragende und nichtschlagende Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen (CV: 10.355 Aktive, 23.293 Alte Herren), der nichtfarbentragende und nichtschlagende Kartellverband der katholischen deutschen Studentenvereine (KV: 6.018 Aktive, 17.684 Alte Herren), der farbentragende und schlagende Coburger Convent der Landsmannschaften und Turnerschaften (CC: 5.702 Aktive, 22.605 Alte Herren), der farbentragende und schlagende Kösener Senioren-Convents-Verband (KSCV: 5.086 Aktive, 19.000 Alte Herren) der Corps an Universitäten und der farbentragende und schlagende Weinheimer Senioren-Convent (WSC: 2.877 Aktive, 8.149 Alte Herren) der Corps an technischen Hochschulen. Es gelang den Verbindungen bis Mitte der 1960er Jahre durchaus wieder, an frühere Hochzeiten anzuknüpfen: 1962 gehörten bundesweit rund 20 Prozent aller Studenten (ca. 30 Prozent der männlichen Studierenden) einer Verbindung an.15 Besonders die katholischen Verbindungen rückten in diesen Jahren in eine ähnlich staatstragende Funktion wie die Corps im Deutschen Kaiserreich, stellten sie doch über zahlreiche ihrer Alten Herren nun die politische Elite der jungen Bundesrepublik. „Zufall schreibt sich mit CV“, soll Bundespräsident Theodor Heuss augenzwinkernd mit Blick auf den größten katholischen Korporationsverband gesagt haben,16 doch war, wenn man genauer hinsieht, der KV noch bedeutender, zumindest, wenn man das Spitzenpersonal der frühen Bonner Republik betrachtet: So gehörten etwa Konrad Adenauer, Karl Arnold, Heinrich von Brentano und Kurt Georg Kiesinger Verbindungen des KV an. Aus den Reihen des CV kamen dagegen Franz Josef Strauß, Otto Lenz, Hans Globke, Hans Lukaschek und Heinrich Lübke. Heinrich 13

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Dazu hatten sich am 8. April 1953 alle schlagenden Verbände gegenüber Bundespräsident Theodor Heuss verpflichtet; vgl. Robert Paschke, Studentenhistorisches Lexikon. Aus dem Nachlass hg. u. bearb. von Friedhelm Golücke (GDS-Archiv, Beiheft 9), Köln 1999, S. 183. Mitgliederzahlen des Jahres 1967, in: Der Convent 19, 1968, S. 180f. Vgl. hierzu und zum Folgenden genauer Kleifeld, „Wende zum Geist?“, S. 46f. und S. 58. Vgl. den Artikel „Zufall mit CV“ in: Der Spiegel, 4. November 1968, in dem der tatsächliche oder vermeintliche Einfluss des CV auf die Bundespolitik süffisant dargelegt wird.

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Krone war Alter Herr des katholischen, nichtfarbentragenden Unitas-Verbandes (UV). Weitere prominente Korporierte der Ära Adenauer waren z.B. Wilhelm Niklas (DB), Hermann Höcherl (DB), Fritz Schäffer (DB), Robert Lehr (KSCV), Thomas Dehler (CC), Franz Etzel (CC) und Hermann Ehlers (Verband der Vereine Deutscher Studenten, VVDSt).17 Eine dauerhafte Hypothek bedeutete es, dass es nach 1945 nicht gelang, die Vielfalt der Korporationsverbände durch Fusionen zu reduzieren. Lediglich der vormalige Vertreter-Convent der Turnerschaften (VC) und die Deutsche Landsmannschaft (DL) schlossen sich 1951 zu einem neuen Verband, dem Coburger Convent (CC), zusammen. Dagegen blieb es trotz vieler Gemeinsamkeiten bei der Trennung von Corps an Universitäten (KSCV) und Technischen Hochschulen (WSC). Ebenso scheiterte die Bildung eines einheitlichen Dachverbands aller Korporationsverbände. 1951 wurden zu diesem Zweck der Convent Deutscher Akademikerverbände (CDA) und der Convent Deutscher Korporationsverbände (CDK) gegründet;18 in ersterem waren die Altherrenverbände, im letzteren die aktiven Verbindungen zusammengeschlossen. Beide Verbände waren, da sie den Mitgliedsverbänden nicht übergeordnet waren, keine Dachverbände im eigentlichen Sinne, sondern eher Arbeitsgemeinschaften zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen. CDA und CDK repräsentierten die große Mehrheit der wiedererstandenen

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Die Entwicklung in Österreich, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann, war in vielerlei Hinsicht ähnlich wie in der Bundesrepublik, unterschied sich aber fundamental dadurch, dass der katholische österreichische CV (ÖCV), der sich 1933 verselbständigt hatte, 1938 verboten worden war und bereits 1945 wiedergegründet wurde, bis in die 1960er Jahre eine sehr starke Stellung an den österreichischen Universitäten hatte. Dies resultierte auch aus der Tatsache, dass ÖCVer an prominenter Stelle Widerstand gegen das NS-Regime geleistet hatten. Demgegenüber waren die durch ihre NS-Vergangenheit belasteten waffenstudentischen Verbindungen, insbesondere die Burschenschaften, politisch wie hochschulpolitisch weitgehend isoliert. Diese knüpften nach 1945 wieder sehr stark an die Traditionen des akademischen Rechtsradikalismus der Zwischenkriegszeit an. Vgl. hierzu genauer: Michael Gehler, Österreichische Studentenvereine und Korporationen. Ein Überblick von den Anfängen im 19. Jh. bis ins 20. Jh.: Entstehungsbedingungen – Zielsetzungen – Wirkungsgeschichte, in: Brandt/Stickler (Hg.), „Der Burschen Herrlichkeit“, S. 173–205 und Ders., Studentenverbindungen und Politik an Österreichs Universitäten. Ein historischer Überblick unter besonderer Berücksichtigung des akademischen Rechtsextremismus vom 19. Jahrhundert bis heute, in: Helmut Reinalter/Franko Petri/Rüdiger Kaufmann (Hg.), Das Weltbild des Rechtsextremismus. Die Strukturen der Entsolidarisierung, Innsbruck/Wien 1998, S. 338–428 sowie Ders., „. . . erheb’ ich, wie üblich, die Rechte zum Gruß. . . “. Rechtskonservativismus, Rechtsextremismus und Neonazismus in österreichischen Studentenverbindungen von 1945 bis 1995, in: Gehler u.a., Blut und Paukboden, S. 187–222. Vgl. auch Gerhard Hartmann, Für Gott und Vaterland. Geschichte und Wirken des CV in Österreich, Kevelaer 2006; hierbei handelt es sich um eine zwar deutlich standortgebundene, aber dennoch gut geschriebene, quellenorientierte Verbandsgeschichte des ÖCV. Vgl. zum Folgenden ausführlich Kleifeld, „Wende zum Geist?“, S. 65–75. Eine aus den Quellen geschriebene Geschichte von CDA und CDK fehlt bisher. Das einschlägige Archivmaterial befindet sich im Würzburger Institut für Hochschulkunde.

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Korporationsverbände, insbesondere auch die großen schlagenden Verbände.19 Fern hielten sich die katholischen Verbände CV, KV, UV und RKDB20 sowie der evangelische Schwarzburgbund (SB), die zusammen mehr als ein Viertel aller korporierten Studenten repräsentierten. Die Ablehnung der katholischen Verbände resultierte sowohl aus deren kompromissloser Ablehnung der Mensur als auch aus einem grundsätzlichen Misstrauen den schlagenden Verbänden gegenüber. Die genauen Motive sind bis heute unklar, doch wird man annehmen dürfen, dass hier erstens das Trauma des akademischen Kulturkampfs21 noch nachwirkte und sich zweitens die katholischen Verbände angesichts der politischen Mehrheiten seit 1949 in einer starken Position sahen, die Kompromisse nicht notwendig erschienen ließ. Bezeichnend ist, dass sich die katholischen Korporationsverbände stattdessen den Schulterschluss mit anderen, auch nicht korporativen, katholischen Verbänden in KDSE (Katholische Deutsche Studenteneinigung) und KDA (Katholische Deutsche Akademikerschaft, heute KAD: Katholische Akademikerarbeit Deutschlands) suchten.22 Dies zeigte deutlich, dass jenen ihre konfessionelle Identität wichtiger war als die akademisch-korporationsstudentische. Damit fand die für das Kaiserreich und die Weimarer Republik charakteristische Lagerbildung zwischen katholischen und schlagenden Verbänden in der frühen Bundesrepublik Deutschland ihre Fortsetzung. Einer wie auch immer gearteten korporationsstudentischen „Einheitsfront“ war damit von vorneherein der Boden entzogen. Anders als häufig dargestellt23 kann man nicht davon sprechen, dass die Wiederentstehung des Verbindungswesens nach 1945 eine schlichte Restauration von oben gewesen wäre, vielmehr hielten sich, wenn man einmal genauer hinschaut, Initiativen von „oben“, also von Seiten der wiederentstandenen Altherrenverbände, und von „unten“, also von den Studierenden der ersten Nachkriegssemester, durchaus die Waage: Entweder initiierten die Altherrenverbände die Gründung neuer Aktivitates, etwa dadurch, dass studierende Altherrensöhne gewonnen wurden, oder man 19

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Der CDA gab von 1950 bis 1989 die monatlich erscheinende Zeitschrift Der Convent heraus, die eine wichtige Quelle zur Geschichte des Verbindungswesens nach 1945 darstellt. Vgl. hierzu Friedhelm Golücke (Bearb.), Gesamtverzeichnis der akademischen Zeitschrift Der Convent 1950– 1989 (GDS-Archiv, Beiheft Nr. 3), Schernfeld 1994, S. 10f. Ring katholischer deutscher Burschenschaften (farbentragend, nichtschlagend, gegründet 1924), heute der kleinste katholische Korporationsverband, der nur noch über wenige aktive Verbindungen verfügt; vgl. hierzu Franz Josef Klassen (Hg.), 100 Jahre KDB Sigfridia zu Bonn, Bonn 2010. Vgl. hierzu Peter Stitz, Der akademische Kulturkampf um die Daseinsberechtigung der katholischen Studentenkorporationen in Deutschland und in Österreich von 1903 bis 1908. Ein Beitrag zur Geschichte des CV, München 1960 und Christopher Dowe, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 171), Göttingen 2006. Vgl. hierzu ausführlich Schmidtmann, Katholische Studierende 1945–1973, S. 152–190. Vgl. etwa Heither, Nicht nur unter den Talaren. . . , S. 161ff.

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knüpfte Kontakte zu bereits bestehenden studentischen Vereinigungen, die als neue Aktivitas anerkannt wurden.24 Die Wiedergründungsphase war keineswegs konfliktfrei, doch hat etwa Schmidtmann für die katholischen Korporationsverbände festgestellt, dass bei der „Wiederbelebung traditioneller symbolischer Praktiken“ – also der überkommenen Formen verbindungsstudentischer Bräuche und Formen – „sicherlich zunächst der Druck der Altherrenschaften eine gewisse Rolle gespielt haben mag, deren Wünsche aber spätestens seit Beginn der 1950er Jahre von den Studierenden zunehmend aktiv mitgetragen wurden.“25 Diese Rückkehr zu den alten Formen wurde zeitgenössisch keineswegs nur von politisch links stehenden Beobachtern scharf kritisiert. So unterstellte etwa der Soziologe Helmut Schelsky den Verbindungen ein Bedürfnis nach einer banalen, von geistigen Auflagen entlasteten Geselligkeit.26 Neu war nach 1945 vor allem die Tatsache, dass sich alle Korporationsverbände uneingeschränkt auf den Boden der freiheitlichen Demokratie westeuropäischen Typs stellten. Am 6. November 1951 legten sie gegenüber Bundesinnenminister Robert Lehr27 ein „staatsbürgerliches Bekenntnis“ ab, in dem sie sich u.a. zu einer „verantwortungsbewussten parlamentarischen Demokratie“ und zum europäischen Gedanken sowie zur akademischen Freiheit bekannten; gleichzeitig distanzierten sie sich von Kastengeist, sozialer Kastenbildung und Beanspruchung von Standesvorrechten.28 Der traditionelle akademische Rechtsextremismus war in der Bundesrepublik seither, auch wenn bei Festkommersen immer wieder einmal schneidige Reden geschwungen wurden und in vielen Korporationsverbänden alle drei Strophen des Deutschlandliedes gesungen wurden, eine Randerscheinung. Dies sollte sich erst in den späten 1960er Jahren vorübergehend ändern, als es der NPD in größerem Umfang gelang, in der Deutschen Burschenschaft Fuß zu fassen.

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Vgl. hierzu Stempel, Wiederbeginn in feindseliger Umwelt, S. 213–222 und Schmidtmann, Katholische Studierende 1945–1973, S. 118–129. Vgl. auch Kleifeld, „Wende zum Geist?“, S. 53f. Schmidtmann, Katholische Studierende 1945–1973, S. 126. Vgl. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1975 (Erstauflage 1957), S. 328. Schelsky hatte sich während seines Studiums (1930–1935) keiner Verbindung angeschlossen, war aber bereits 1932 der SA, 1933 dem NS-Studentenbund und 1937 der NSDAP beigetreten. Lehr war selbst Mitglied des Corps Teutonia Marburg im KSCV. Er hatte sich 1935 dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus angeschlossen und trat als Bundesinnenminister vor allem durch seinen Kampf gegen die neonazistische SRP hervor, deren Verbot durch das Bundesverfassungsgericht er vorantrieb; vgl. Brigitte Kaff , Robert Lehr, in: Günter Buchstab, Brigitte Kaff, HansOtto Kleinmann (Hg.), Christliche Demokraten gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union, Freiburg 2004, S. 337–343 und Eleonore Sent, Dr. Robert Lehr (20.8.1883–13.10.1956). Düsseldorfer Oberbürgermeister, Oberpräsident der Nord-Rheinprovinz und Bundesinnenminister, in: Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 78, 2008, S. 88–115. Kleifeld, „Wende zum Geist?“, S. 57f.

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Das parteipolitische Spektrum29 in den Verbindungen umfasste mehrheitlich das nationalliberale, das liberalkonservative und katholisch-konservative Spektrum, eine Minderheit der Korporierten, in der Regel bei den schlagenden Verbindungen, stand politisch links und war in der Regel SPD-nah oder gehörte dieser Partei an. 1966 ermittelte das Institut für Demoskopie Allensbach bei den schlagenden Verbindungen folgende Verteilung der politischen Sympathien: SPD 30 Prozent, CDU/CSU und FDP je 22 Prozent, NPD 26 Prozent; bei nichtschlagenden Verbindungen entfielen auf die SPD 22 Prozent, die Unionsparteien 43 Prozent und auf die FDP 11 Prozent, weitere 2 Prozent auf sonstige Kleinparteien.30 Man erkennt hier bereits die für die späten 1960er Jahre typischen hohen Werte für die NPD; doch auch damals stand die riesige Mehrheit der Verbindungsstudenten im Lager der demokratischen Parteien. Die SPD hatte nach 1945 zunächst einen eher verbindungsfeindlichen Kurs gefahren,31 1954 fasste der SPD-Bundesparteitag auf Drängen des SDS einen Unvereinbarkeitsbeschluss betreffend die Verbindungen, die Mitglied des CDK waren.32 Dieser war aber nicht zuletzt deshalb weitgehend wirkungslos, weil er sich nur auf die aktiven Verbindungen bezog, d.h. Sozialdemokraten in Altherrenverbänden, von denen es durchaus prominente gab,33 waren davon nicht betroffen. Es fehlte in der SPD letztlich auch der ernsthafte Wille, den SDS im Kampf gegen die Verbindungen zu unterstützen. Die nach Regierungsbeteiligung in Bonn strebende SPD suchte im Gegenteil den Kontakt zu den Verbindungen, vor allem zur Deutschen Burschenschaft. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die SPD zur gleichen Zeit, als sie begann sich demonstrativ an die Verbindungen anzunähern, einen Unvereinbarkeitsbeschluss betreffend den SDS fasste (1961). Nicht zuletzt Willy Brandt trat in seiner Amtszeit als Regierender Bürgermeister bei Burschenschaftertreffen auf, so

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Vgl. hierzu auch Uwe Rohwedder, Kalter Krieg und Hochschulreform. Der Verband Deutscher Studentenschaften in der frühen Bundesrepublik (1949–69), Essen 2012, S. 75. Der Convent 19/1968, S. 103 und S. 123. Die jeweils fehlenden 22 Prozent stehen offenbar für fehlende Angaben. Heither, Nicht nur unter den Talaren. . . , S. 179ff. Vgl. http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/band3/e235g710.html (abgerufen am 13. Juli 2012). Der Beschluss löst CDK fälschlich auf als „Cartellverband Deutscher Korporationsverbände (schlagende Verbindungen)“. Zu nennen sind hier etwa Ludwig Bergsträsser (1883–1960, VVDSt), Georg Diederichs (1900–1983, KSCV) und Hinrich Wilhelm Kopf (1893–1961, Miltenberger Ring). Vgl. hierzu http://www.lassalle-kreis.de/content/korporierte-genossen (abgerufen am 13. Juli 2012). Der Lassalle-Kreis ist ein 2006 gegründetes Netzwerk Korporierter in der SPD. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang etwa der Bundestagsabgeordnete Reinhold Rehs (DB), der 1967 zum Präsident des Bundes der Vertriebenen gewählt wurde; vgl. hierzu Matthias Stickler, „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“ – Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972 (=Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte, Bd. 46), Düsseldorf 2004, S. 256 und passim.

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etwa bei der 11. Berliner Tagung der DB34 im Januar 1963.35 In seiner Rede betonte er demonstrativ Gemeinsamkeiten zwischen den Burschenschaften und der SPD in der nationalen Frage: „Wir kennen einander zu wenig. Es gibt ja überhaupt vielzuviele halboffene Türen bei uns. Und ich unterstelle, daß es auch Punkte gibt, in denen sich unsere politischen Anschauungen voneinander entfernen. Aber ich weiß uns alle36 einig in den Fragen, die mit Berlin als Hauptstadt Deutschlands und der noch immer ungelösten Aufgaben – die auseinandergerissenen Teile wieder zusammenzufügen – zusammenhängen.“37 Am 12. Juni 1965 sprach Willy Brandt ein Grußwort zum 150. Jahrestag der Gründung der Urburschenschaft, in welchem er der Deutschen Burschenschaft weitere Gespräche mit guten Ergebnissen anbot; diese Formulierung konnte in dem Sinne verstanden werden, dass die förmliche Aufhebung des Unvereinbarkeitsbeschlusses angestrebt wurde.38 Hierzu kam es tatsächlich im Januar 1967.39 Angesichts dieser Entwicklung ist es auffällig, dass gerade auch bürgerlich-liberale Kräfte die Existenzberechtigung der Verbindungen zunehmend in Frage stellten. Im Grunde war dies die zwangsläufige Folge der immer weiter voranschreitenden Pluralisierung der bundesdeutschen Gesellschaft. Im Kaiserreich und noch in der Weimarer Republik waren alternative Netzwerkbildungen vergleichsweise unterentwickelt gewesen. In dem Maße, wie sich die Parteiendemokratie verfestigte und alternative, nicht notwendigerweise an die Universitäten gebundene angelsächsische Geselligkeitsformen Verbreitung fanden wie etwa Service-Clubs (Rotary, Lions, Kiwanis)40 und damit neue, scheinbar zeitgemäßere Formen von Netzwerken entstanden, verlor das Verbindungswesen langsam aber sicher seinen überkommenen privilegierten Status im Bürgertum. Die existierenden verbindungsstudentischen 34

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Zu den Berliner Tagungen der DB vgl. Wolfgang Bluhm, Für Einigkeit und Recht und Freiheit. Die Geschichte der Berliner Tagungen der Deutschen Burschenschaft von 1952 bis 1989, Emmerich 2001. Vgl. ebd., S. 91–98. Der kursiv gesetzte Text wurde von Brandt handschriftlich eingefügt bzw. korrigiert. Archiv der sozialen Demokratie, Bonn: Willy-Brandt-Archiv. 3. Publizistische Äußerungen Willy Brandts, Mappe 149. Vgl. Der Tagesspiegel, 13. Juni 1965 und Die Welt, 14. Juni 1965. Vgl. hierzu auch Bluhm, Für Einigkeit und Recht und Freiheit, S. 106–113. Vgl. Frankfurter Rundschau, 12. Januar 1967 und Rheinischer Merkur, 25. Mai 1967. Auf der Seite der extremen Rechten wurde gegen die Annäherung von SPD und Burschenschaften heftig polemisiert; vgl. Johann Ziegler, Burschenschafter als SPD-Fans, in: Deutsche National-Zeitung und Soldaten-Zeitung, 29. September 1967; dieser sprach auch von einer Pervertierung der WartburgFeiern. Vgl. hierzu auch Eckart von John (Hg.), Dokumentation über Angriffe in der Deutschen Wochenzeitung und in der Deutschen National- und Soldatenzeitung gegen die Deutsche Burschenschaft, Heidelberg o.J. [ca. 1969]. Vgl. hierzu Matthias Stickler, Geheimnisvolle Eliten? Internationale Serviceclubs am Beispiel von Rotary in Deutschland, in: Geheime Eliten, hg. von Volkhard Huth [im Druck].

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Netzwerke wurden vor diesem Hintergrund zunehmend als Seilschaften skandalisiert und auch im bürgerlichen Lager als unerwünscht angesehen.41 Vor diesem Hintergrund vollzog sich seit den späten 1950er Jahren ein schleichender Bedeutungsverlust des Verbindungswesens, welches sich auch in allmählich schrumpfenden Mitgliederzahlen niederschlug.42 Von 1953 bis 1966 stiegen zwar die Aktivenzahlen in der Bundesrepublik von 27.566 auf 48.949 an, was bedeutet, dass ca. ein Drittel der männlichen Studierenden einer Verbindung angehörte, doch gelang es den Verbindungen nicht Schritt zu halten mit den als Folge der Bildungsexpansion seit den späten 1950er Jahren stetig steigenden Gesamtstudentenzahlen. Diese Entwicklung war nicht nur eine Folge der wachsenden Bildungsbeteiligung von Frauen, sondern sie spiegelt einen generellen Wandel wieder. Seit 1958 schrumpfte der prozentuale Anteil der Verbindungsstudenten, 1966 gingen die Aktivenzahlen dann erstmals auch in absoluten Zahlen deutlich zurück, ein Trend, der sich seither ungebrochen bis in die 1980er Jahre fortsetzte. Die Protagonisten der Achtundsechzigerbewegung trafen insofern auf einen zwar immer noch eindrucksvollen, aber latent geschwächten Gegner. Die vielfach mit harten Bandagen geführten Auseinandersetzungen um die Existenzberechtigung des Verbindungswesen nach 1945, die sich auch auf die Frage des Farbentragens auf dem Universitätsgelände erstreckten, hatten weitreichende Folgen für das Selbstverständnis der Verbindungen wie auch auf das Verhältnis von Universität und Verbindungen insgesamt. Traditionell waren die Verbindungen keineswegs einfach nur private Vereinigungen gewesen, wie man das heute selbstverständlich erwarten würde, sie waren vielmehr trotz formaler Unabhängigkeit von der Universität mit dieser aufs engste verwoben gewesen. Sie stellten wichtige Sozialisationsinstanzen dar und füllten mit ihrem Anspruch auf nicht fremdbestimmte studentische Selbsterziehung bzw. Erziehung in und durch die Gemeinschaft die sogenannte „Humboldtsche Lücke“, d.h. den Verzicht der Universität auf die erzieherische Aufsicht über die Studierenden.43 Es handelte sich beim Treiben der

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Vgl. etwa die dreiteilige Artikelserie von Walter Gong, „Couleurstudenten 1961“ in der Zeit (8. Mai 1961, 2. Juni 1961, 9. Juni 1961). Vgl. hierzu den Beitrag von Ulrich Bartscher, Die Entwicklung der Korporationsverbände, in: Akademische Monatsblätter 82/3, 1969, S. 52–55. Die Akademischen Monatsblätter sind die Verbandszeitschrift des KV. Der Begriff „Humboldtsche Lücke“ geht zurück auf Siegfried A. Kähler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, Göttingen 1962, S. 228ff. Die damit eng verknüpfte Vorstellung von einer spezifischen Burschenfreiheit ist allerdings wesentlich älter; vgl. hierzu etwa: Ulrich Rasche, Cornelius relegatus in Stichen und Stammbuchbildern des frühen 17. Jahrhunderts, in: Einst und Jetzt 53, 2008, S. 15–47 sowie Ders., Cornelius relegatus und die Disziplinierung der deutschen Studenten (16. bis frühes 19. Jahrhundert). Zugleich ein Beitrag zur Ikonologie studentischer Memoria, in: Barbara Krug-Richter/Ruth-E. Mohrmann

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studentischen Verbindungen also keineswegs nur um bloßes „Freizeitverhalten“,44 die Korporationserziehung war vielmehr in der klassischen Epoche des deutschen Universitätssystems als „hidden curriculum“ (Konrad H. Jarausch)45 Bestandteil des universitären Bildungssystems, welche eben nicht in ein offizielles Gesamtprogramm institutioneller Erziehung und Bildung integriert war – ganz anders als etwa in England oder den Vereinigten Staaten. Die Korporationen repräsentierten daher, auch wenn in ihnen selbst in den Hochzeiten des Verbindungswesens selten mehr als 50 Prozent der Studierenden organisiert waren, in gewisser Weise die Studentenschaft an sich, sie besaßen eine Art Meinungsmonopol, gaben die Themen vor, über die in Studentenkreisen diskutiert wurde und hatten über ihre Alten Herren in der Regel gute Beziehungen zu Wirtschaft und Politik. Auf dem Umweg über die Verbindungen entstand sekundär auch so etwas wie eine emotionale Bindung der Studenten an die Universität. Dass sich in Deutschland das in den angelsächsischen Ländern selbstverständliche Alumni-Wesen nie entwickelt hat, hängt wohl auch maßgeblich damit zusammen, dass auf diesem Felde die Verbindungen bzw. konkret deren Altherrenschaften eine Lücke füllten. Die NS-Herrschaft und ihre Folgen bedeuteten für dieses überkommene Selbstverständnis einen tiefen Bruch. Zwar versuchten die Korporationen nach 1945 eine Wiederanknüpfung an die Verhältnisse vor 1933, doch stießen diese Bestrebungen, wie bereits erwähnt, auf erhebliche Widerstände. Das Abebben der antikorporativen Kampfmaßnahmen stellte bei näherem Hinsehen nur einen Teilerfolg dar, weil sich in der frühen Bundesrepublik etwas ganz wesentliches verändert hatte: Die Verbindungen waren nun kein selbstverständlicher Bestandteil der Universität mehr. Man duldete sie und sie wurden an mittleren und kleinen Universitäten auch wieder Teil des öffentlichen Lebens, sie konnten bei allem Selbstbewusstsein aber nicht mehr von sich behaupten, repräsentativ für die Studentenschaft zu sein. Das verbindungsstudentische Brauchtum mit seinen strammen, arg militärisch anmutenden Formen, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren in Fortsetzung der Formen des späten 19. Jahrhunderts, v.a. aber der 1920er Jahre praktiziert wurden, wurde von der Mehrheit der Studenten zunehmend als anachronistisch und rückwärtsgewandt angesehen. Die Existenz parteinaher

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(Hg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschulen in Europa, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 157–221. Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Studien zur Geschichte der Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik in: Contubernium 53, 2001, 4, FN 7. Vgl. vor allem Konrad H. Jarausch, Students Society and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton 1982.

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politischer Studentengruppen, wie SDS46 und RCDS47 , die im Verband Deutscher Studentenschaften (VDS)48 und den Allgemeinen Studentenausschüssen (AStA) immer mehr an Bedeutung gewannen, stellte zudem die hochschulpolitische Funktion der Verbindungen, die sie in der Zeit der Weimarer Republik noch selbstbewusst und dominant ausgeübt hatten, in Frage.49 Dass sich die Verbindungen, v.a. an den großen Universitäten, immer mehr aus der Hochschulpolitik zurückzogen, war zudem eine mittel- bis langfristige Folge der eingetretenen Entfremdung zwischen Verbindungen und Universitäten. Der eigentlich schon zur Vorgeschichte der Achtundsechzigerbewegung in Berlin gehörende „Fall Eberhard Diepgen“50 ist in diesem Zusammenhang durchaus bezeichnend. Diepgen war seit 1962 Mitglied der CDU und wurde 1963 zum Berliner AStA-Vorsitzenden gewählt, amtierte als solcher 17 Tage lang, bis lanciert wurde, dass er Mitglied der Berliner Burschenschaft Saravia war.51 Diese Tatsache wurde vom linken Flügel der Berliner Studentenschaft dazu benutzt, bei der Universitätsleitung der Freien Universität eine studentische Urabstimmung durchzusetzen, die am 15. Februar 1963 zur Abwahl Diepgens führte.52 Einziges Argument gegen ihn war seine Mitgliedschaft in einer Burschenschaft sowie der Verweis auf die korporationsfeindlichen Traditionen der FU, die es ausschlössen, dass ein Burschenschafter Verantwortung im AStA übernehmen könne.

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Vgl. Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn 1994 und Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von Helmut Schmidt bis Rudi Dutschke, Essen 2007 (Erstausgabe Berlin 1977). Fichter und Lönnendonker waren beide Mitglieder des SDS. Johannes Weberling, Für Freiheit und Menschenrechte. Der Ring Christlich Demokratischer Studenten 1945–1986, Düsseldorf 1990 und Holger Thuß/Mario Voigt, 50 Jahre RCDS. Fünf Jahrzehnte gelebte Studentenpolitik, Erlangen 2001. Weberling und Voigt waren beide Bundesvorsitzende des RCDS. Vgl. hierzu ausführlich Rohwedder, Kalter Krieg und Hochschulreform. Zum Verhältnis des VDS zum Verbindungswesen vgl. ausführlich Rohwedder, Kalter Krieg und Hochschulreform, S. 73–78. Vgl. hierzu Uwe Schlicht, Vom Burschenschafter bis zum Sponti. Studentische Opposition gestern und heute, Berlin 1980, S. 55f. sowie Fichter/Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, S. 127f. Diepgen war von 1984 bis 1989 und von 1991 bis 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin. Dieser Burschenschaft hatte auch der Historiker Friedrich Meinecke (1862–1954) angehört (vgl. Friedrich Meinecke, Erlebtes. 1862–1901, Leipzig 1941, S. 83–86, S. 109–114 und S. 105). Meinecke trat später aus seiner Burschenschaft aus, als die DB in scharfe Frontstellung zur Weimarer Republik ging. Zwei Jahre später wurde Diepgen allerdings dennoch zum stellvertretenden Vorsitzenden des VDS gewählt.

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3 Rückzug, Konflikte und schmerzhafter Wandel – Die Folgen der Achtundsechzigerbewegung für das studentische Verbindungswesen Insofern verwundert es nicht, dass die Mehrzahl der Verbindungsstudenten sich immer mehr aus der Hochschulpolitik zurückzog und in den Jahren 1967 bis 1969 auch nicht bereit war, sich von Teilen der Professorenschaft bzw. den bürgerlichen Parteien im Sinne eines „Abwehrkampfs gegen links“ instrumentalisieren zu lassen. So wurde der Journalist Paul Wilhelm Wenger (1912–1983), der zum Freundeskreis Konrad Adenauers gehörte und Mitbegründer des Rheinischen Merkur war, 1968 auf dem Pfingstkongress des Coburger Convents von den Aktiven ausgepfiffen, als er in einer Rede forderte, sie sollten den Professoren notfalls mit der Waffe in der Hand – er spielte hierbei an auf die Schläger der Chargierten – den Weg frei kämpfen, wenn ihn die Linken wieder versperren sollte. Ein Aktiver sagte in der anschließenden Diskussion mit nicht zu überbietender Deutlichkeit: „Wir sind doch nicht die SA der Professoren“. Die Zeitschrift Academia53 des katholischen CV berichtete über dieses Ereignis mit Zustimmung. In einem Beitrag unter dem Titel Avantgarde. Mitläufer oder SA der Professoren? hieß es: „Tatsächlich hätten die Korporierten eigentlich auch gar keinen Grund, die SA der Professoren zu spielen. Denn seit das deutsche Verbindungswesen nach dem Kriege wiedererstanden war, [. . . ] fand sich die überwältigende Mehrheit der Professoren zu einer Front gegen die Korporationen zusammen. An den meisten Hochschulen fristeten die Couleurstudenten ein Schattendasein.“54 In den Verbindungen stellte man vielfach einen unmittelbaren Zusammenhang her zwischen dem zu beobachtenden Linksruck an den Universitäten – insbesondere an der FU – und dem antikorporativen Geist dort.55 Mehrheitlich waren die Korpora53

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Zu den Zeitschriften der katholischen Verbindungen vgl. Matthias Stickler, Die Zeitschriften der katholischen Korporationsverbände nach 1945 im Spannungsfeld von Milieubindung und pluralistischer Öffnung, in: Thomas Pittrof und Walter Hömberg (Hg.), Katholische Publizistik im 20. Jahrhundert – Positionen, Probleme, Profile [im Druck]. Zur studentischen Presse allgemein vgl. die nützliche Studie von Hans Bohrmann, Strukturwandel der deutschen Studentenpresse. Studentenpolitik und Studentenzeitschriften 1848–1974 (=Kommunikation und Politik, Bd. 4), München 1975. Academia 5, 1968, S. 173. Vgl. etwa den durchaus schadenfrohen Kommentar „Magnifizenz hat Sorgen. Zur Lage der Freien Universität“, in: Der Convent 19, 1968, S. 96f. oder die Stellungnahme des Berliner Corps Lusatia vom 6. Oktober 1967 an den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses, welcher angesichts der Unruhen aus Anlass des Schah-Besuchs die Universitätsorgane und die studentischen Organisationen um eine Stellungnahme gebeten hatte, in: Der Convent 19,

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tionen nicht bereit, sich für eine Frontstellung „gegen links“ instrumentalisieren zu lassen. Auf dem vom CDA im Februar 1968 veranstalteten 2. Ulmer Hochschulgespräch äußerten die anwesenden Aktiven: „Wir setzen uns nicht für eine verkalkte Ordinarienherrschaft ein – Wir stimmen in den hochschulpolitischen Zielsetzungen mit den linksgerichteten Hochschulgruppen überein – Wir halten allerdings, und dies im Unterschied zu den Linken, noch Gespräche mit der Professorenschaft für möglich – Wir sind keine Handlanger der Rektoren bis zum Abschluss der Reformen. Wir wollen einen festen Platz an den Universitäten.“56 Und Ernst Wilhelm Wreden, der Schriftleiter der Burschenschaftlichen Blätter, schrieb: „Es kann nicht unsere Aufgabe sein, eine verfehlte Hochschulpolitik zu verteidigen oder Fürsprecher der Polizei zu sein, wo diese von den politisch Verantwortlichen falsch eingesetzt wird und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlässt. Die Unruhe an den Hochschulen hat reale Ursachen, die beseitigt werden müssen. Es ist unsere Aufgabe, Mißstände aufzuzeigen und deutlich beim Namen zu nennen, Vorschläge zu ihrer Beseitigung auszuarbeiten und zu publizieren.“57 Dennoch blieb die Mehrheit der Verbindungen insgesamt passiv, was in den eigenen Reihen immer wieder beklagt wurde. So schrieb der VDS-Vorsitzende des Jahres 1966/67 Walter Hirche,58 ein Angehöriger des CC: „Die Korporationen von 1967 allerdings verhalten sich zum großen Teil, als seien sie von den Widersprüchen in Hochschule und Gesellschaft nicht betroffen; statt sich politisch zu engagieren, igeln sie sich ein. Das aber ist ein Beitrag zur Verhärtung der aktuellen autoritären Tendenzen.“59

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1967, S. 259. Vgl. ferner Karl Kromphardt, Faßt Mut zum Wagnis: Neugestaltung der Korporationen!, in: Der Convent 19, 1968, S. 130–134, bes. S. 131f. sowie Ernst Wilhelm Wreden, Wo bleiben die Korporationen?, in: Der Convent 19, 1968, S. 138–140, bes. S. 139. Vgl. hierzu auch den interessanten Kommentar „Warum schweigen die Korporationen?“, in: Industrie-Kurier, 27. Januar 1968. Der Convent 19, 1968, S. 134. Ebd., S. 140 (Erstdruck in den Burschenschaftlichen Blättern). Hirche trat 1970 in die FDP ein und ist heute deren Ehrenvorsitzender in Niedersachsen. Dort war er mit Unterbrechungen bis 2009 landespolitisch tätig. Ferner war Hirche vier Jahre lang Minister in Brandenburg und Mitglied des Bundestags. Vgl. Rohwedder, Kalter Krieg und Hochschulreform, S. 199f. Der Convent 19, 1968, S. 18.

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Wenn eben ausgeführt wurde, dass die Distanzierung der Universitäten von den Verbindungen ein wichtiger Grund für deren Rückzug aus dem hochschulpolitischen Raum war, so ist dies nur die eine Seite der Medaille. Berücksichtigt werden muss ferner, dass praktisch alle Korporationsverbände seit den 1960er Jahren von innerverbandlichen Konflikten erschüttert wurden, die in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren ihren Höhepunkt erreichten. Man kann etwas verkürzt sagen, dass den Korporationsverbänden die Ereignisse des Jahres 1968 die Dimensionen des erlittenen Bedeutungsverlustes schockartig bewusst machten. Scheinbar ad acta gelegte Konfliktpunkte aus der Zeit um 1950 (so z.B. das Mensurenfechten, der Stellenwert des Männerbundes oder das Konfessionsprinzip) kamen nun unter dem Eindruck zurückgehender Mitgliederzahlen überstürzt auf die Tagesordnung. Dies hatte massive Auseinandersetzungen in den Verbänden zur Folge und bewirkte, dass diese sich überwiegend mit sich selbst beschäftigten. Sie zogen sich aus dem öffentlichen Leben immer mehr zurück und gewannen kaum Einfluss auf die bildungspolitischen Entscheidungen dieser Jahre. Viele Verbindungen mussten den Aktivenbetrieb einstellen, kleinere Dachverbände schliefen ein oder lösten sich sogar ganz auf. Die tiefere Ursache für die Unruhe in den Verbänden waren letztlich Generationenkonflikte zwischen den damaligen Aktiven und der Generation der Alten Herren, die in den 1920er und 1930er Jahren aktiv gewesen waren und es nach 1945 verstanden hatten, den wiedergegründeten Verbindungen und Verbänden ihren Stempel aufzudrücken. Restaurativ war die Wiedergründung der Verbindungen insofern gewesen, als diese, wie bereits erwähnt, organisatorisch und was die Formen anbelangt im Wesentlichen wieder so neu erstanden, wie sie bis 1933 existiert hatten: Es blieb bei dem überkommenen Partikularismus der Verbände; Überlegungen, die Verbindungen gleichsam zu modernisieren, indem man sie im neustudentischen Sinne reformierte, etwa durch Abschaffung des Farbentragens, der Mensur oder die Ermöglichung der Aufnahme von Frauen, hatten sich nicht durchgesetzt. Letztlich hatten die altstudentischen Kräfte – und das waren keinesfalls nur die Alten Herren – die Oberhand behalten. Opfer derartiger Auseinandersetzungen waren vor allem Mitglieder, die politisch eher links orientiert waren und ihre Verbindungen dann häufig im Streit verließen. Dazu zählen auch Protagonisten der späteren Achtundsechzigerbewegung, so Horst Mahler, der 1953/54 bei der Landsmannschaft Thuringia Berlin im CC aktiv wurde; er verließ die Verbindung, als er 1956 der SPD beitrat, die damals, wie erwähnt, über einen Unvereinbarkeitsbeschluss bezüglich schlagender Verbindungen verfügte.60 Weiter-

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Vgl. hierzu Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1996, S. 355 und Eckhard Jesse, Biographisches Porträt: Horst Mahler, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 13, 2001, S. 183–199.

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hin kann man nennen den SDS-Aktivisten und Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl (1943–1970), der einer Göttinger Burschenschaft angehörte, aus der er nach einem politisch motivierten Streit mit einem Alten Herrn ausgeschlossen wurde.61 Der Sieg der altstudentischen Kräfte innerhalb der Verbindungen war insofern ein Pyrrhus-Sieg gewesen, als das starre Festhalten an den Formen der 1920er Jahre zu einer immer größer werden Diskrepanz zwischen dem Verbindungswesen und der sich verändernden bundesdeutschen Gesellschaft, insbesondere auch der sich fundamental wandelnden Jugendkultur führte. Während sich in der Bundesrepublik im Gefolge einer weltweiten Lebensstilrevolution die Jugend, und damit eben auch die Studenten, immer mehr als eigenes Alter und damit als Selbstzweck verstand, hielten die Verbindungen fest an der überkommenen Tradition, das Jugendalter als notwendige Durchgangsstadium zum Erwachsenwerden zu betrachten, weshalb die Verbindungserziehung ausgerichtet blieb auf das vorrangige Ziel, eine Führungsposition in der bürgerlichen Gesellschaft einzunehmen. In diesem Sinne war das Verbindungsleben der damaligen Zeit in der Tat anachronistisch, weil es sich schroff abgrenzte von Entwicklungstrends, die immer größere Kreise auch des Bürgertums erfassten. Der sich daraus ergebende Widerspruch zwischen Sein und Schein wurde in den Verbindungen vielfach zu spät erkannt. So hieß es in dem bereits erwähnten Academia-Artikel Avantgarde. Mitläufer oder SA der Professoren?: „Festzustellen bleibt [. . . ], dass sich die Korporierten mehr und mehr in das Ghetto ihrer wieder- oder neuerbauten Häuser zurückzogen. [. . . ] Die meisten Korporationsstudenten leben oder lebten zumindest seit Jahren in einem permanenten Zustand der Schizophrenie, was eine Minderheit von ihnen [. . . ] auch durchaus empfand. Aber eben nur eine Minderheit. [. . . ] Die Mehrheit gerierte sich außerhalb der vier Wände des Verbindungshauses wie sich eben 20- oder 25-jährige Studenten des Jahres 1968 benehmen. Kaum hatten sie ihr lila-grün-violettes Band um die Brust, waren sie wie verwandelt. Und nicht nur äußerlich. [. . . ] Funktionäre der Korporationen leugnen nicht, dass die meisten ihrer Bundesbrüder eine Scheu davor haben, allein in Band und Mütze auf der Straße oder gar in der Universität aufzutreten. Dennoch hat man nichts von einem Beschluss gehört, die Farben abzuschaffen. [. . . ] Damit sollen lediglich zwei recht vordergründige Probleme angedeutet werden, über die innerhalb der Korporationen immerhin seit einiger Zeit eine Diskussion begonnen hat. Das Bewußtsein schizophren dahinzuleben, gleichsam Gruppenona61

Vgl. http://www.krahl-seiten.de/ (abgerufen am 10. Oktober 2011).

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nie zu treiben ohne jeden Bezug zur Hochschule und zur Gesellschaft, ist unzweifelhaft gewachsen. Der korporationsinterne Ruf nach Reformen wurde lauter.“62 Das verbindungsstudentische Brauchtum drohte immer mehr zum Mummenschanz zu werden.63 Erhellend ist in diesem Zusammenhang der Semesterbrief des Seniors einer Würzburger CV-Verbindung vom März 1969: „Es ist fast eine Banalität, hier zu wiederholen, daß wir in Tradition und äußerer Form erstarrt sind, daß der Geist, der all´ die Formen belebte, verlorengegangen ist, und daß auch von einem Großteil der Bundesbrüder die Aufgaben einer Korporation nicht erkannt werden.“64 Deshalb begann man mit neuen Formen zu experimentieren, so trat an die Stelle traditioneller Kneipen eine „Semestereröffnungs- bzw. -schlußfeier“ mit Damen: „Einem kurzen Stehempfang schließt sich ein akademischer Festakt an, der – von Musik umrahmt – einige Begrüßungsworte durch den Philistersenior und eine programmatische Rede des Seniors enthalten soll [. . . ]. Nach dem Festakt soll der Gesellschaftsabend frei und zwanglos verlaufen.“65 Man bemerkt hier deutlich das Bemühen der Reformer, die altstudentischen Formen durch solche des gehobenen bürgerlichen Clublebens zu ersetzen. Das Problem war hierbei allerdings, dass damit ein wichtiges Proprium des Verbindungslebens verlorenzugehen drohte, nämlich das nostalgisch besetzte Erlebnis der „alten Burschenherrlichkeit“, das die traditionellen Formen sinnlich erfahrbar machten. Als Zugeständnis an die „Traditionalisten“ fanden bei der K.D.St.V. Gothia deshalb weiterhin Kneipen statt, was eigentlich inkonsequent war. Letztlich scheiterten die gut gemeinten Bemühungen einer Modernisierung der Verbindungsformen, weil sie weder die Reformer noch die Traditionalisten zufrieden stellten. Schon gar nicht war es auf diese Weise möglich, offensiv werbend nach außen zu wirken, weil gerade Außenstehende die inneren Konflikte, die man zu verbergen suchte, nur zu deutlich spürten. Die innere Uneinigkeit führte bei vielen Verbindungen zu einer stetig abnehmenden Beteiligung der Alten Herren an den Verbindungsveranstaltungen, Austritte häuften sich, der Nachwuchs blieb zunehmend aus, trotz und gleichzeitig wegen der Reformen. Es waren jedoch nicht nur die äußeren Formen, die der Mehrzahl der Verbindungen zu heftigen Konflikten führten. Vor dem Hintergrund der 68er Unruhen brachen zudem, wie oben bereits angedeutet, die Konfliktpunkte der der späten 1940er und 62 63 64

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Academia 5, 1968, S. 173f. Vgl. zum Folgenden auch Schmidtmann, Katholische Studierende 1945–1973, S. 377–389. Archiv der K.D.St.V. Gothia-Würzburg im CV, Würzburg. Zur K.D.St.V. Gothia-Würzburg vgl. Matthias Stickler, Die K.D.St.V. Gothia-Würzburg (1895/1905), in: Grün u.a. (Hg.), Zwischen Korporation und Konfrontation, S. 322–349. Archiv der K.D.St.V. Gothia-Würzburg im CV, Würzburg.

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frühen 1950er Jahre wieder auf: In den schlagenden Verbindungen ging es zumeist um den Stellenwert der Bestimmungsmensur, bei den katholischen Verbänden wurde unter dem Eindruck der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils um die Frage einer zeitgemäßen Interpretation des Katholizitätsprinzips gerungen. Konkret ging es hierbei um die Frage, ob sich die katholischen Verbände für evangelische Mitglieder öffnen sollten und wenn ja, welche Folgen eine solche Öffnung für ihr Selbstverständnis haben musste. Vor allem bei den nichtfarbentragenden Akademisch-Musikalischen und Turnverbindungen wurde die „Damenfrage“ kontrovers diskutiert, d.h. die Aufnahme von Frauen als Vollmitglieder.66 Im Folgenden sollen diese Konflikte anhand zweier Fallbeispiele analysiert werden: Dem Ringen um das Katholizitätsprinzip in den katholischen Verbänden sowie den Kampf um die Abschaffung der Pflichtmensur als Verbandsprinzip in der DB – und damit eng verknüpft der Konflikt um die Aufnahme der österreichischen Burschenschaften in den Dachverband, hinter dem letztlich ein grundlegender weltanschaulich-politischer Dissens innerhalb der DB stand.

Fallbeispiel 1: Das Ringen um das „K-Prinzip“ in den katholischen Verbänden Mit am meisten beschäftigte die katholischen Korporationsverbände in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren die Debatte um das sogenannte Katholizitätsprinzip („K-Prinzip“), also die Frage ob bzw. inwieweit CV, KV und UV exklusiv katholische Verbände bleiben wollten oder ob sie sich für nichtkatholische Mitglieder öffnen sollten.67 Dass dieses Thema einen so hohen Stellenwert einnahm, ist bezeichnend für deren Selbstverständnis: Letztlich ging es hierbei um den Kern dessen, was eine katholische Verbindung ausmacht. Das Verhältnis der katholischen Korporationsverbände zu ihrer Kirche war stets ambivalent gewesen: Zwar gehörten die Verbindungen traditionell zum Aufgebot des politischen Katholizismus und viele geistliche Würdenträger, darunter nicht wenige Bischöfe, ja sogar Papst Pius XII. (1939– 1958) selbst, gehörten ihnen als Mitglieder an, aber die relative Selbständigkeit der Korporationsverbände, die auf starken und finanziell autarken Altherrenverbänden und innerverbandlicher Demokratie beruhte, war vielen Klerikern dennoch suspekt. 66 67

Vgl. hierzu Harm-Hinrich Brandt, Korporationen und politisch-sozialer Wandel. Eine historische Betrachtung, in: 1889–1989. Hundert Jahre Fridericiana Marburg, Marburg 1989, S. 15–33. Dieses Thema ist bisher noch nicht erschöpfend aufgearbeitet worden. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Schmidtmann, Katholische Studierende 1945–1973, S. 377–389; CV-Handbuch, Regensburg 2000, S. 140–146; Bernhard Egen/Christoph Erggelet, KV-Handbuch 1984, Köln 1984, S. 75–95, bes. S. 82–85; Peter Joseph Hasenberg, 125 Jahre Unitas-Verband, Köln 1981, S. 209–220, bes. S. 213f.; Wolfgang Burr (Hg.), Unitas-Handbuch. Bd. IV, Bonn 2000, S. 79–89, bes. S. 86f.

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Es verwundert deshalb nicht, dass die Katholische Kirche nach 1945 zunächst versuchte, die Wiedergründung von Verbindung zu Gunsten klerikal geführter Hochschulgemeinden zu verhindern. Die Existenz autonomer Verbände war deshalb im 1947 gegründeten Dachverband KDSE ursprünglich nicht vorgesehen gewesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es in dieser frühen Phase die Verbindungen waren, die sich gegen die Bevormundung durch Bischöfe und Studentenpfarrer massiv zur Wehr setzten – ein gutes Beispiel dafür, dass man Programmatik und Handeln der katholischen Verbindungen in der Nachkriegszeit nicht einfach unter dem simplen Schlagwort „Restauration“ subsumieren kann.68 Als sich die KDSE seit den 1950er Jahren den kirchlichen Normierungsansprüchen dann zunehmend zu entziehen suchte und gleichsam (kirchen-)politisch nach links rückte, setzten die katholischen Verbindungen dieser Tendenz mehrheitlich massiven Widerstand entgegen. Theologisch und in (kirchen-)politischen Fragen waren sie mehrheitlich konservativ eingestellt, was sie zu Gegnern reform- oder linkskatholischer Bestrebungen machte. Am offensten für reformkatholische Bestrebungen war der nichtfarbentragende KV, dem viele Bischöfe und Konzilstheologen angehörten, darunter so profilierte Persönlichkeiten wie Joseph Kardinal Frings, Julius Kardinal Döpfner oder Joseph Ratzinger.69 1969 spalteten sich die katholischen Korporationsverbände von der KDSE ab und gründeten einen neuen Dachverband, die Arbeitsgemeinschaft katholischer Studentenverbände (AkStV) – seit 1974 Arbeitsgemeinschaft katholischer Verbände (AGV). Der KDSE entzogen die deutschen Bischöfe 1973 die Anerkennung, als Nachfolgeorganisation wurde die Arbeitsgemeinschaft der Gemeinden (AGG), ein Dachverband der katholischen Hochschulgemeinden, gegründet. Allerdings konnten sich auch die studentischen Verbindungen den Auswirkungen des veränderten Zeitgeistes nicht völlig entziehen. Seit den 1960er Jahre folgte, auch vor Hintergrund steigender Studentenzahlen und einer stetig nachlassenden Glaubenspraxis unter den Studierenden ein schrittweiser Bedeutungsverlust des katholischen Korporationswesens, von den Veränderungen in Gesellschaft und Kirche wurden die Verbindungen ebenso erfasst wie der gesamte Verbandskatholizismus. Die Auseinandersetzungen um das Konfessionsprinzip wurden nicht zuletzt deshalb mit so harten Bandagen geführt, weil sie meist verknüpft wurden mit Fragen der Traditionspflege und des Comments: Die Anhänger des „K-Prinzips“ in seiner tradierten Form waren in der Regel auch eher altstudentisch eingestellt, während die Neuerer den überkommenen Traditionen häufig skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Bei diesen gab es auch

68 69

Vgl. etwa die sehr holzschnittartigen Ausführungen bei Elm/Heither/Schäfer, Füxe, Burschen, Alte Herren, S. 180–212. Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., ist seit 1978 auch Ehrenmitglied im CV.

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Affinitäten zum Linkskatholizismus. Angestoßen worden war die Debatte zum einen durch die Konzilsreformen, die vielen Befürwortern einer Öffnung das überkommene Konzept einer exklusiv katholischen Elitebildung in deutlicher Abgrenzung zu Andersgläubigen als anachronistisch erscheinen ließ.70 Katholizität sollte künftig im Sinne ökumenischer Öffnung interpretiert werden und so das konfessionelle Ghetto, wie es in vielen Stellungnahmen hieß, aufgebrochen werden. Andererseits war vielfach schlichtweg der Mitgliedermangel der Grund für die Forderung nach Aufnahme nichtkatholischer Mitglieder. Bemerkenswert ist, und dieser Punkt wurde engagiert diskutiert, dass beide Seiten sich bemühten, im Sinne der Konzilsdokumente bzw. einer Öffnung zur Gesellschaft hin zu argumentieren. Im KV führt das Ringen um das Katholizitätsprinzip den Verband bis an den Rand der Spaltung. Der damalige Vorortspräsident71 Manfred Becker sprach 1968 von einer „KV-Profilneurose“ und führte aus: „Bisher ist es doch so gewesen, daß wir uns als Bannerträger des Heiligen Offiziums verstanden. Die ‚katholischen Grundsätze‘ waren der Punkt, an dem wir unser kritisches Denken beiseite schoben, nicht dachten, sondern blind glaubten, was von ‚oben‘ gefordert wurde. Ein wenig mehr Kritik, ein wenig mehr Selbständigkeit, Gebrauch unseres eigenen Gewissens, meinen Sie nicht, verehrte Kartellbrüder, das könnte angebrachter sein? Christus hat unsere Kirche bestimmt nicht als trottende Schafherde gewollt, die ständig durch autorisierte Kläffer zusammengehalten werden muß. [. . . ] Sollten wir nicht versuchen, uns zu einem neuen Verständnis der ‚religio‘ durchzuringen, zu einem Verständnis, das noch nicht einmal der gültigen Lehre der Kirche widerspricht? Meinen Sie nicht, daß uns Überzeugung besser steht als Pflichtübung?“72 Andere warnten dagegen vor einer „Preisgabe der katholischen Geschlossenheit“ und der Gefahr „nach einer Phase verwaschenen Christentums schließlich religiös indifferent zu werden.“73 Letztlich hielt nach langen innerverbandlichen Auseinandersetzungen nur der CV am überkommenen Katholizitätsprinzip fest (Cartellversammlungen 1969 und 1970). KV und Unitas bekräftigen zwar ihren 70 71 72

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Vgl. zum Folgenden ausführlicher auch Stickler, Die Zeitschriften der katholischen Korporationsverbände nach 1945 im Spannungsfeld von Milieubindung und pluralistischer Öffnung. Vorsitzender der präsidierenden aktiven Verbindung oder des präsidierenden Ortsverbands des KV. Manfred Becker, KV-Profilneurose – und was nun?, in: Akademische Monatsblätter 81, 1968, H. 2, S. 34f., hier S. 34. Abgedruckt auch in: Wilhelm Schreckenberg (Hg.), „Was im KV gedacht, getan und gelitten wurde“. 100 Jahre Akademische Monatsblätter, Beckum 1988, S. 107f., hier S. 108. Vgl. auch Beckers ähnlich gelagerter Beitrag „Konzil, Kirche und KV“, in: Akademische Monatsblätter 81, 1969, H. 6, S. 172f. So der Vorsitzende des KV-Altherrenbundes Franz Weibels in: AM 81, 1969, H. 6, S. 162f.

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Charakter als katholische Verbände, ermöglichten aber faktisch die Integration nichtkatholischer Christen, entweder im Sinne einer „ausnahmsweisen“ Aufnahme als Vollmitglieder (KV, Vertreterversammlung 1971) oder als Freunde der Verbindung (UV, 1970/71 bzw. 1991).

Fallbeispiel 2: Die Mensurfrage in der Deutschen Burschenschaft Die DB74 war 1950 als ein Verband wiedergegründet worden, der sich territorial auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland beschränkte und die parlamentarische Demokratie bejahte. Das Ziel der Wiedervereinigung bezog sich zeittypisch auf die Grenzen von 1937, was dem bundesdeutschen Konsens der 1950er Jahre entsprach. Dies bedeutet eine Abkehr von der vor allem seit dem Ende des Ersten Weltkriegs vertretenen großdeutschen Programmatik der DB wie auch eine prinzipielle Absage an völkisches Gedankengut. Dieser Gesinnungswandel, der keineswegs nur taktischer Natur war, wurde symbolisch auch dadurch unterstrichen, dass, nachdem Eisenach ja seit 1949 zur DDR gehörte, seit 1955 die Stadt Landau bzw. das dort gelegene Hambacher Schloss in der Regel Tagungsort der Burschentage waren. Damit knüpfte die DB an ihre republikanischen und demokratischen Traditionen (Hambacher Fest 1832) an. Neu war auch, dass der bis 1935 vertretene nationalistisch aufgeladene großdeutsch orientierte volkstumsbezogene Vaterlandsbegriff aufgegeben wurde. Im Burschenschafterhandbuch von 1964 heißt es hierzu: „Vornehmste Aufgabe der Burschenschaft ist das opferbereite Wirken für ein freies ungeteiltes deutsches Vaterland und für ein einiges Europa in der Gemeinschaft der freien Völker. Sinn und Zweck aller Tätigkeit der 74

Zur Geschichte der DB nach 1945 vgl. Heither, Nicht nur unter den Talaren. . . , S. 159–186 sowie Dietrich Heither, Verbündete Männer. Die Deutsche Burschenschaft – Weltanschauung, Politik und Brauchtum, Köln 2000; auffällig an diesem Band – eine Marburger Dissertation – ist, dass der Autor trotz der umfangreichen Archivbestände der Deutschen Burschenschaft im Bundesarchiv lediglich auf der Basis gedruckter Quellen und Literatur gearbeitet hat. Beide genannten Titel sind einem Ansatz verpflichtet, der die Delegitimierung des Verbindungswesens zum Ziel hat. Zur Geschichte der DB vgl. v.a. Sonja Kuhn, Die Deutsche Burschenschaft: eine Gruppierung im Spannungsfeld zwischen Traditionsformalismus und Traditionsstiftung – eine Analyse für den Zeitraum von 1950 bis 1999, hg. vom Altherrenverband der Burschenschaft Hilaritas Stuttgart, Stuttgart 2002 (zugl.: Bamberg, Univ., Diplomarbeit); diese leider wenig bekannte Arbeit ist auf der Basis breiter Auswertung gedruckter Quellen und Literatur entstanden und stellt bisher die gelungenste Analyse der Nachkriegsgeschichte der DB dar. Vgl. auch Hans-Georg Balder, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Hilden 2005. Balder, der zahlreiche Veröffentlichungen zur burschenschaftlichen Geschichte vorgelegt hat, ist Mitglied der Bonner Burschenschaft Frankonia. Der Band ist chronikalisch angelegt und bietet eine sehr ausführliche, überwiegend auf der Basis gedruckter Quellen und Literatur geschriebene Gesamtdarstellung; gleichsam gegen den Strich gelesen, eröffnet er interessante Einblicke in die Wertewelt des rechtskonservativen Flügels der DB. Eine wissenschaftlichen Ansprüchen voll genügende, aus den einschlägigen Archivquellen geschriebene Gesamtgeschichte der DB stellt nach wie vor ein Desiderat dar.

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Burschenschaft sind auf die Herbeiführung eines in Freiheit und Einheit gesicherten demokratischen Rechtsstaates im deutschen Volk gerichtet. Jeder Burschenschafter soll durch sein Wirken dazu beitragen, daß die sozialen Gegensätze innerhalb unseres Volkes sich ausgleichen und daß über die Grenzen hinweg seine geistige Einheit gewahrt bleibt.“75 In der DB der 1950er und 1960er Jahre verfügten die liberalen und liberalkonservativen Bünde über eine deutliche Mehrheit. Entsprechend vielgestaltig war damals, wie oben bereits erwähnt, auch das Spektrum der aus diesem Verband hervorgegangenen Persönlichkeiten. 1954 führte die DB nach langen Diskussionen wieder die Pflichtmensur ein, d.h. alle Mitglieder von Burschenschaften waren verpflichtet, das studentische Fechten nicht nur zu erlernen, sondern mindestens eine Pflichtmensur zu schlagen. Aufgegeben wurde dagegen, wie bei allen schlagenden Verbindungen in der Bundesrepublik, das Prinzip der unbedingten Satisfaktion mit der Waffe. Die österreichischen Burschenschaften76 waren bei der Verbandsneugründung außen vor geblieben, was vor allem daran lag, dass diese nicht bereit waren, sich unzweifelhaft auf den Boden der Verfassung der zweiten österreichischen Republik zu stellen. Vielmehr lebte dort, ironischerweise unter dem Schutz der österreichischen Opfertheorie, das Erbe des akademischen Rechtsradikalismus und des völkisch grundierten Nationalismus der 1920er und 1930er Jahre fort. 1952 gründeten die österreichischen Burschenschaften einen eigenen Dachverband (ADC: Allgemeiner Delegiertenkonvent, seit 1959 DBÖ: Deutsche Burschenschaft in Österreich), der mit der DB 1953 ein Arbeits- und Freundschaftsabkommen unterzeichnete. Mehr war damals in der Bundesrepublik nicht mehrheitsfähig, eine Fusion beider Verbände wurde 1961 auf dem Burschentag der DB mehrheitlich abgelehnt. Deshalb gründeten die österreichischen Burschenschaften noch im gleichen Jahr mit ihnen weltanschaulich nahestehenden bundesdeutschen Burschenschaften, gewissermaßen der Minderheitenflügel in der DB, die sogenannte „Burschenschaftliche Gemeinschaft“ (BG)77 , die eine Art verbändeübergreifende Arbeitsgemeinschaft darstellte und das Ziel der Wiederaufnahme der österreichischen Burschenschaften in die DB verfolgte. Die BG ver75 76

77

Torsten Locher/Hans-Martin Saß (Hg.), Handbuch der Deutschen Burschenschaft, Bad Nauheim 1964, S. 82. Vgl. hierzu Gehler, „. . . erheb’ ich, wie üblich, die Rechte zum Gruß. . . “. Vgl. ferner Martin Graf (Hg.), 150 Jahre Burschenschaften in Österreich. Gestern – heute – morgen, Graz 2009; dieser überwiegend von österreichischen Burschenschaftern verfasste Band, der Festschriftencharakter hat, bietet (möglicherweise unbeabsichtigt) aufschlussreiche Einblicke in die Geisteswelt der österreichischen Burschenschaften, die man eigentlich nur mit dem Begriff Parallelgesellschaft umschreiben kann. Vgl. hierzu die Homepage der BG: http://www.burschenschaftliche-gemeinschaft.de (abgerufen am 14. Juli 2012). Dort sind auch das Gründungsprotokoll vom 15. Juli 1961 sowie die heutige Programmatik wiedergegeben.

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stand und versteht sich als geschlossen auftretende und übereinstimmend handelnde streng national orientierte burschenschaftliche Elite, die nach eigener Aussage „den volkstumsbezogenen Vaterlandsbegriff ohne Rücksicht auf staatliche Gebilde und deren Grenzen“ unterstützt. Ausdrücklich wird hierbei betont, „daß keine freiwillige Abtretung der Ostgebiete stattgefunden hat und somit eine einseitige Verletzung des Völkerrechts vorliegt.“ Welche Schlussfolgerungen aus dieser Aussage zu ziehen sind, wird offen gelassen78 , wie überhaupt die Stellungnahmen der BG in der Regel so verfasst wurden bzw. sind, dass sie nicht eindeutig auslegungsfähig sind.79 Paradoxerweise gelang eine Verschiebung des burschenschaftlichen Selbstverständnisses hin zum volkstumsbezogenen Vaterlandsbegriffs sowie die Wiederaufnahme der meisten österreichischen Burschenschaften vor dem Hintergrund der innerverbandlichen Verwerfungen in der DB im Gefolge der Achtundsechzigerbewegung. Die Burschenschaften waren aufgrund des traditionellen politischen Anspruchs dieses Verbindungstyps besonders anfällig für die oben bereits erwähnten Konfliktthemen. Partiell fiel das Achtundsechziger-Gedankengut dort sogar auf sehr fruchtbaren Boden. So rief etwa die Marburger Burschenschaft Normannia-Leipzig in einem Flugblatt zur Teilnahme am Protest-Sternmarsch gegen die Notstandsgesetze am 11. Mai 1968 in Bonn auf. Darin hieß es: „Die Verabschiedung ohnehin überflüssiger Notstandsgesetze zumal in einem solcherart gelenkten Staate – dem Staate Kiesingers, Bendas, Schütz‘ und Springers – könnte Auftakt sein zu Erscheinungen, die an Ereignisse nicht nur in Deutschlands jüngerer Geschichte gemahnen. Angesichts solcher Gefahren darf niemand schweigen. Wir unterstützen die Opposition gegen die Notstandsgesetzgebung.

78 79

Es ist lediglich von einer Respektierung der durch „den sogenannten 2+4-Vertrag garantierten Grenzen“ die Rede. So muss etwa der Passus des Gründungsprotokolls „Sie bekennen sich zu den demokratischen Verfassungen der derzeit bestehenden freien deutschen Rechtsstaaten, lehnen aber jeglichen geistigen Separatismus im deutschen Volke ab.“ nicht notwendigerweise als Loyalitätserklärung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich verstanden werden. Vielmehr lassen die von der BG ebenfalls formulierten „Standpunkte“ (also das politische Programm) im Gegenteil den Schluss zu, dass diese beiden Staaten gerade keine Rechtsstaaten im Sinne der BG sind. Wie überhaupt der Begriff Demokratie vor dem Hintergrund eines „volkstumsbezogenen“ Weltbilds etwas völlig anderes meinen kann als Demokratie im westlich-liberalen Sinne. Dass BG-Burschenschaften bis heute gerne differenzieren zwischen Inhabern der deutschen Staatsbürgerschaft und deutschen Volkszugehörigen (nur letztere sind Deutsche im Sinne des volkstumsbezogenen Vaterlandsbegriffs) öffnet möglichen Diskriminierungen nach letztlich rassistischen Kriterien Tür und Tor.

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Darin sehen wir keine vorbehaltlose Unterstützung von Zielsetzungen und Methoden des SDS, schon gar nicht mit Gewalt oder ungehemmtem Radikalismus, gleich welcher Richtung.“80 Die Alten Herrn der Normannia waren von einer derartigen Programmatik wenig begeistert und protestierten teilweise scharf gegen den Linksruck in der Aktivitas.81 Bemerkenswert ist auch ein Interview, das 1968 das Nachrichtenmagazin Der Spiegel mit der damaligen Vorsitzenden Burschenschaft der DB Allemannia Heidelberg – übrigens der Bund dem auch Ernst Wilhelm Wreden angehörte – führte.82 Die drei Chargen Glaser, von John und Neumann lehnten es nicht nur ab, im Sinne Paul Wilhelm Wengers (s.o.) für die Professoren zum Schläger zu greifen. Sie stellten darüber hinaus fest: „Wir sind der Meinung, dass in der jetzigen Situation fast alle hochschulpolitischen Forderungen der linken politischen Hochschulgruppen berechtigt sind, daß man Ihnen recht geben muß.“ Sie äußerten sich weiterhin kritisch zum Farbentragen, betonten, sie könnten sich auch vorstellen, hinter einer roten Fahne zu demonstrieren, wenn die Inhalte ihren politischen Ansichten entsprächen. Auf Nachfrage bejahten sie, dass der Protest gegen das Attentat auf Rudi Dutschke ein solcher zustimmungsfähiger Inhalt sei. In der weiteren Diskussion äußerten die Vorstandschargen sich kritisch bis relativierend über Auswüchse des korporativen Brauchtums, bekannten sich aber nachdrücklich zum Schlagen von Mensuren als Verbandsprinzip. Letzteres verwundert insofern nicht wirklich, als Allemannia-Heidelberg innerhalb der DB dem sogenannten Süddeutschen Kartell angehört,83 welches von jeher dem Schlagen große Bedeutung beimisst. Von weitreichender Bedeutung für die weitere Entwicklung innerhalb der DB sollte sein, dass die strittigen weltanschaulich-politischen Fragen Ende der 1960er Jahre argumentativ verknüpft wurden mit der Mensurfrage. Viele liberale Burschenschaften und insbesondere linksorientierte Aktive wollten die Abschaffung der Pflichtmensur, da ihnen die politische Arbeit wichtiger war als Fragen der Traditionspflege. Problematisch war hierbei vor allem, dass es gar nicht wenige liberalkonservative Burschenschaften gab, die zwar weltanschaulich-politisch nichts mit dem rechten Flügel der DB verband, die aber mit diesem in der Mensurfrage übereinstimmten; insofern war das Lager der gemäßigten Burschenschaften, das die DB bisher dominiert hatte, von vorneherein gespalten. Über die Mensurfrage wäre die DB fast zerbrochen, weil die miteinander verfeindeten Lager auf den Burschentagen zwar 80 81 82 83

Zit. nach Elm/Heither/Schäfer, Füxe, Burschen, Alte Herren, S. 215. Vgl. Heither, Nicht nur unter den Talaren. . . , S. 184. Der Spiegel, 17. Juni 1968, S. 54–57. Vgl. http://www.süddeutsches-kartell.de/ (abgerufen am 14. Juli 2012).

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Sperrminoritäten, aber keine satzungsändernden Mehrheiten zustande brachten. Es drohte die Lähmung des Verbandes bzw. dessen Spaltung. Schließlich wurde auf dem Landauer Burschentag des Jahres 1971 mit knapper satzungsändernder Mehrheit eine Lösung gefunden, der die DB wieder handlungsfähig machte: Es wurde den einzelnen Burschenschaften freigestellt, ob sie von ihren Mitgliedern die Absolvierung einer oder mehrerer Bestimmungsmensuren verlangten. Im Gegenzug wurde den österreichischen Burschenschaften der Beitritt zur DB ermöglicht, der sogenannte volkstumsbezogene Vaterlandsbegriff in der Satzung verankert84 und bei Aufgabe bzw. Verstoß gegen die Grundsätze der Satzung die sogenannte Selbstausschlussklausel eingeführt. Was auf den ersten Blick wie ein Kompromiss aussah, stellte in Wahrheit einen weitgehenden Sieg des rechten Flügels der DB dar: Die BG löste sich nämlich nicht auf, sondern wandelte sich faktisch zu einem Verband im Verband, der seither aufgrund seiner großen Geschlossenheit die DB in erheblichem Umfang dominiert. Durch den Eintritt der österreichischen Burschenschaften in die DB wurde der rechte Flügel der DB irreparabel gestärkt, der seither eine Sperrminorität gegen die Neuaufnahme liberaler Burschenschaften hatte. Die Selbstausschlussklausel erwies sich zudem als probates Mittel, missliebige Burschenschaften aus dem Verband auszuschließen, weil es den rechten Burschenschaften gelang, den wichtigen Hauptausschuss der DB zu dominieren. Die liberalen Burschenschaften, die durch innere Konflikte und, damit verbunden, Vertagungen vieler Bünde geschwächt waren, hatten dem dauerhaft nichts entgegenzusetzen. Bereits damals kam es zu demonstrativen Austritten aus der DB, etwa der Burschenschaften des erwähnten Süddeutschen Kartells. Wie schwach der liberale Flügel der DB Mitte der 1970er Jahre bereits war, zeigte sich erstmals 1973, als der Burschentag mehrheitlich beschloss, die Aufnahme von Kriegsdienstverweigerern zu verbieten. Eines der prominentesten „Opfer“ dieses Rechtsrucks war der Grünen-Politiker Rezzo Schlauch, Mitglied der Freiburger Burschenschaft Saxo-Silesia, der Ende der 1970er Jahre austrat. Auf diese Weise verlor die Deutsche Burschenschaft nicht wenige profilierte Mitglieder. An der Universität Würzburg kennt der Verfasser zwei Professorenkollegen, die damals ihren Burschenschaften wegen des Rechtsrucks im Verband den Rücken kehrten und austraten. Ein bezeichnendes Indiz für die Dominanz des rechten Flügels innerhalb der DB ist, dass bereits 1974/75 erstmals eine österreichische Burschenschaft, die „Oberösterreicher Germanen Wien“, den Vorsitz der DB übernahm: bis 1990 hatten BG-Burschenschaften achtmal den Verbandsvorsitz inne, davon zwischen

84

Die Auslegung dieser Neufassung blieb allerdings umstritten, weshalb die Aufnahme nicht deutschstämmiger Studenten grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist; aus dieser Unklarheit resultierte 2011 der „Fall Kai-Ming Au“ (s.u.).

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1973 und 1984, als der entscheidende Rechtsruck stattfand, allein siebenmal.85 Seit 1996 existiert mit der Neuen Deutschen Burschenschaft (NDB) ein zweiter burschenschaftlicher Dachverband,86 der sich als liberale Alternative zur DB sieht. Allerdings gelang es der NDB bisher bei weitem nicht, alle aus der DB ausgetretenen Burschenschaften zu organisieren. Die burschenschaftliche Rechte hatte diese Entwicklung als Profilbildung, verbunden mit notwendiger Gesundschrumpfung begrüßt, im Abstand von nunmehr 40 Jahren werden mittlerweile aber auch die problematischen Folgen dieses Prozesses deutlich, nämlich ein eklatanter Bedeutungsverlust der DB. Diese wird, anders als vor 1968, heute keinesfalls mehr als ernstzunehmender Gesprächspartner bei den drängenden gesellschaftlichen Debatten wahrgenommen. Bemerkenswert ist vor allem, dass es in gesellschaftlich führender Position kaum noch Burschenschafter in nennenswerter Zahl gibt und die wenigen noch verbliebenen, etwa die CSU-Politiker Peter Ramsauer oder Hans-Peter Uhl, es in der Regel ablehnen, öffentlich mit der DB in Verbindung gebracht zu werden. Auch tut sich die DB seit Jahren sichtlich schwer, wirklich prominente Festredner für ihre Burschentage zu gewinnen. Insofern leitete paradoxerweise das Jahr 1968 in der DB einen Rechtsruck von historischen Dimensionen ein, einen Rechtsruck freilich, der, so scheint es aus heutiger Perspektive, mittel- bis langfristig den Zerfall der DB einleitete.87 Doch dies ist ein anderes Thema.

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Vgl. Gehler/Heiter/Kurth/Schäfer, Blut und Paukboden, S. 292f. Vgl. http://www.neuedb.de/ (abgerufen am 18. Juli 2012). Dieser Eindruck drängt sich vor allem deshalb auf, weil die DB inzwischen durch Austritte vieler Burschenschaften objektiv geschwächt ist. Im Grunde hat der Verband seit 1972 stetig an Mitgliedern verloren, ein Trend, der sich seit den 1990er Jahren noch verstärkt hat und an dem auch die Aufnahme neuer, zumeist kleiner Bünder nichts geändert hat. So haben etwa in Würzburg alle historischen Burschenschaften am Ort inzwischen der DB den Rücken gekehrt; lediglich die 2009 aus Regensburg nach Würzburg verlegte BG-Burschenschaft Teutonia Prag gehört dem Dachverband noch an. Ähnlich verhält es sich in Jena, wo die Urburschenschaft bekanntlich entstanden ist und wohin nach 1989 die drei historischen Jenenser Burschenschaften wieder zurückkehrten: Dort gehört inzwischen nur noch die „Alte Burschenschaft Burgkeller“, eine Abspaltung der Burschenschaft Arminia auf dem Burgkeller, der DB an. Da viele mitgliederstarke Burschenschaften aus der DB ausgeschieden sind und möglicherweise noch ausscheiden werden, dürfte sich bald die Frage stellen, wie lange bei stetig schrumpfenden Mitgliederzahlen der Dachverbandsbetrieb noch finanziert werden kann. Beschleunigt wurde die Krise der DB in jüngster Zeit noch durch die an die Öffentlichkeit gelangte Debatte um den Ausschluss des chinesischstämmigen Mannheimer Burschenschafters Kai-Ming Au, den der rechte Flügel der DB betrieb sowie die Auseinandersetzungen um die angebliche oder tatsächliche rechtsextremistische Gesinnung des Schriftleiters der Burschenschaftlichen Blätter Norbert Weidner. Vgl. hierzu Peter Kaupp, Die Krise der Burschenschaften. Abstammungs- oder Bekenntnisgemeinschaft?, in: Studentenkurier 3, 2011, S. 20f.; dazu auch die beiden gegenläufigen Leserbriefe von Konrad Thullen und Norbert Weidner, in: Studentenkurier 4, 2011, S. 24f. Vgl. außerdem Friedrich Engelke, Deutsche Burschenschaft: Desaster in Eisenach, in: Studentenkurier 2, 2012, S. 22f. Vgl. ferner Florian Diekmann, Interne Papiere enthüllen Rechts-

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Fazit Die Unruhen der Jahre 1967 und 1968 und deren Folgen stellten für die Mehrzahl der Verbindungen und Korporationsverbände eine zutiefst traumatische Erfahrung dar, deren Folgen diese lange Zeit lähmte. Dies lag weniger an den Anfeindungen von außen, sondern vor allem daran, dass die ausgebrochenen inneren Konflikte die Verbände zeitweise in ihren Grundfesten erschütterten und Gräben aufgerissen wurden, die lange Zeit nicht überwunden werden konnten. Man kann die damalige Polarisierung teilweise bis heute bei Gesprächen mit Zeitzeugen spüren. Hinzu kam der personelle Aderlass durch Austritte und Ausschlüsse, aber auch durch fehlenden Nachwuchs. Vor allem die Nachwuchsproblematik führte mittelfristig dazu, dass das „Keilgeschäft“ immer mehr in den Mittelpunkt des Verbindungslebens rückte. Dies begünstigte – sieht man vom Sonderfall DB ab – die weitere Entpolitisierung der Studentenverbindungen und setzte damit einen Prozess fort, der bereits in den 1960er Jahren begonnen hatte. Erst seit den 1980er Jahren verbesserte sich die Nachwuchssituation, die meisten Verbände konnten sich auf reduziertem Niveau konsolidieren und in gewissem Umfang wieder die Mitgliederzahlen steigern. Dass die Talfahrt gestoppt werden konnte, hängt neben dem Phänomen der Massenuniversität zweifellos auch damit zusammen, dass das Verbindungsleben in den letzten dreißig Jahren einen grundlegenden Wandel erfahren hat. Viele Verbindungen haben alte Zöpfe abgeschnitten, und sich bei der Gestaltung ihrer Semesterprogramme modernen Formen der Jugendkultur geöffnet. Aufschlussreich ist hierbei jedoch, dass der teilweise auch praktizierte überstürzte Bruch mit alten Traditionen sich für die allermeisten Verbindungen nicht ausgezahlt hat. Echte Akteure waren Verbindungsstudenten 1967/68 nur in Ausnahmefällen, letztlich waren die Verbindungen Opfer und Profiteure der Achtundsechzigerbewegung zugleich: Die damaligen linken Aktivisten marginalisierten das bereits deutlich in die Defensive geratene Verbindungswesen endgültig, die mit der Achtundsechzigerbewegung einhergehende Lebensstilrevolution sowie das Phänomen der modernen Massenuniversität eröffneten jedoch Möglichkeiten für einen Neuanfang. In dem Maße, wie das Monopol der traditionellen bürgerlichen Eliten an den Universitäten und damit auch der Gültigkeitsanspruch von dessen Wertewelt und Ausdrucksformen gebrochen wurden, wurde, weitgehend extremismus bei Burschenschaften, http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/datenleck-internepapiere-enthuellen-rechtsextremismus-bei-burschenschaften-a-774524.html (abgerufen am 15. Juli 2011). Der Fall Kai-Ming Au bzw. dessen Echo in den Medien war für die DB nicht zuletzt deshalb ein Eigentor, weil die anderen Korporationsverbände zu ihr demonstrativ auf Distanz gingen; vgl. Florian Diekmann/Oliver Trenkamp, Verbindungsszene stellt sich gegen rechte Burschen http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/ariernachweis-antraege-verbindungsszene-stelltsich-gegen-rechte-burschen-a-770037.html (abgerufen am 14. Juli 2011).

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unbemerkt, auch dem politischen Aktivismus von links, der eben keine proletarische Bewegung, sondern ein im Kern bürgerliches Phänomen war, mittel- und langfristig die Grundlage entzogen. Zurück blieben die Studentengruppen, die den im Bundestag vertretenen Parteien verbunden sind bzw. sich über AStA-Beiträge u.ä. finanzieren, die christlichen Hochschulgemeinden, die ebenfalls von Staat und Kirchen subventioniert werden – und eben die Verbindungen, denen das nach wie vor praktizierte Lebensbundprinzip auch über immer wieder vorkommende personelle Einbrüche hinweg, Dauerhaftigkeit und Kontinuität verleiht. Offenbar haben sich die meisten Korporationsverbände heute mit der Tatsache abgefunden, dass sie nur noch ein kleines Segment der heutigen Studentenschaft repräsentieren. Diese Marginalisierung, die für die ältere Generation noch ein tief empfundenes Trauma war, wird von den heutigen Aktiven eher als Chance begriffen, weil sie erlaubt, sich auf dem Markt der Möglichkeiten der modernen Massenuniversität zielgruppenorientiert als „Marke“ zu profilieren. Damit korrespondiert die Tatsache, dass das Spektrum der Korporationsverbände als Folge des Bruchs von 1968 noch vielgestaltiger und bunter geworden ist als es ohnehin bereits war und damit auf paradoxe Weise den Gesetzmäßigkeiten einer pluralistischen, postmodernen Gesellschaft entspricht. Neu war v.a. die Gründung von Frauenverbindungen, ein Verbindungstypus, den es im frühen 20. Jahrhundert bereits einmal gegeben hatte, der aber nach 1945 nicht wiederbelebt worden war. Die „Nach-68er-Verbindungen“ verkörpern nach wie vor einen älteren Typus studentischer Subkultur, der noch nicht vollständig in der allgemeinen Jugendkultur aufgegangen ist. Verschwunden ist weitgehend der früher stark vertretene Anspruch auf Mitgestaltung der Universitäten bzw. der dezidiert politische Anspruch mancher Verbände. Dies gilt cum grano salis auch für die DB, die trotz ihres Selbstverständnisses in den Gremien der Universitäten genauso viel oder wenig vertreten ist wie die anderen Verbindungen auch. Dieser Befund stellt nicht unbedingt ein Defizit dar. Man könnte auch argumentieren, dass sich im Zuge der seit den 1980er Jahren zu beobachtenden Entpolitisierung der Gesamtstudentenschaft die Verbindungen wieder einem Typus angenähert haben, wie wir ihn phasenweise auch aus dem 19. Jahrhundert kennen (etwa in den späten 1830er und frühen 1840er Jahren oder in den 1850er oder 1870er Jahren), als ebenfalls mehr die geselligen und weniger die politischen Aspekte im Vordergrund des Verbindungslebens standen. Ob der Typus des politischen Studenten noch einmal zurückkehren wird, bleibt angesichts des weitgehenden Fehlens eines spezifisch studentischen Selbstbewusstseins bei der Mehrheit der heutigen Studierenden abzuwarten. Zwar entzünden sich immer wieder in regelmäßigen Abständen, zumeist an materiellen Forderungen, publikumsund medienwirksame Protestaktionen der Studenten, doch handelt es sich auch hier

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letztendlich um Strohfeuer, die relativ schnell wieder erlöschen, wenn die beklagten Missstände behoben oder von der Hochschulpolitik ausgesessen wurden. Es muss deshalb offen bleiben, ob Studenten in Deutschland, wie in der Vergangenheit, wieder zu einer gestaltenden politisch-gesellschaftlichen Kraft werden können.

Faschismusbegriffe und -deutungen der „68er“ zwischen Wissenschaft und Klassenkampf Gerrit Dworok Am 16. Juli 1968 schrieb der Historiker und Faschismusexperte Ernst Nolte, damals Professor für Neuere Geschichte der Universität Marburg, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „In jüngster Zeit ist wieder viel vom Faschismus die Rede: in Deutschland sind Wendungen wie ,faschistische Methoden‘, ,Linksfaschismus‘ oder gar ,Kampf dem Faschismus‘ zu Schlagworten des politischen Kampfes geworden, das Militärregime in Athen wird als ,faschistisch‘ bezeichnet, für die Ägypter sind die Israelis und für die Israelis die Ägypter ,Faschisten‘ [. . . ], die Sowjetunion ist über das Wiedererwachen faschistischer Tendenzen in der Bundesrepublik besorgt, und viele Menschen in der ganzen Welt legen sich die Frage vor, ob nicht in den Vereinigten Staaten ein neuer Faschismus entstehen werde.“1 Mit diesen Anspielungen sowohl auf die bundesdeutsche, vornehmlich studentische Faschismusdiskussion der späten 60er Jahre sowie auf weltpolitische Ereignisse wie den Vietnam-Krieg, den Sechs-Tage-Krieg sowie die Konstellation des Kalten Krieges gelang Nolte eine zutreffende Beschreibung. In etlichen, diese Ereignisse thematisierenden Schriften aus der Zeit der studentischen Protestbewegung und der APO finden sich nämlich Wörter wie faschistisch, faschistoid oder Faschismus. Benutzt wurden diese Begriffe eher selten in historischer Perspektive, also zur Analyse etwa des italienischen Faschismus im Vergleich mit dem Nationalsozialismus. Sie dienten vielmehr, wie Nolte deutlich macht, als politische Kampfbegriffe, zur Aufdeckung realer personeller Kontinuitäten vom Nationalsozialismus hinein in das System der Bundesrepublik, aber auch, und da wird es interessant, zur Analyse und Enthüllung vermeintlicher faschistischer Tendenzen in der bundesrepublikanischen Politik und Gesellschaft. Beispielhaft für diese Haltung ist ein Zitat des Politikwissenschaftlers Johannes Agnoli, einem Vordenker der 68er-Bewegung mit großem Einfluss auf die ideologische Ausrichtung der außerparlamentarischen Opposition. Agnoli vertrat noch 1

Ernst Nolte, Liebten die Massen Hitler?, in: FAZ, 16. Juli 1968.

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1972 die Meinung, es sei grundlegend falsch, sich in Bezug auf den Faschismus „zu reduzieren auf die Analyse von historischen Erscheinungen, die schon längst vorbei sind, ohne zu sehen, was die bürgerliche Gesellschaft heute noch an Faschismus in sich trägt.“2 Diese Behauptung mag den heutigen Leser verwundern, doch sie ist ein aussagekräftiges Beispiel für die Wahrnehmung einiger junger, meist linksorientierter Deutscher, dass der bundesrepublikanische Staat tendenziell faschistisch durchtränkt und ausgerichtet war und in Zeiten einer politischen oder wirtschaftlichen Krise ein neuer deutscher Faschismus aufkommen könnte. Ein enges Verhältnis zwischen 68er-Bewegung und Faschismusbegriff ergibt auch eine Analyse der darstellenden Literatur zu den 68ern. Denn sowohl in den verschriftlichten Erinnerungen von Anhängern der Protestbewegung, so etwa in Peter Schneiders autobiographischer Erzählung Rebellion und Wahn. Mein ’68 als auch in den viel diskutierten, gemischt historiographisch und erinnernd angelegten Arbeiten von Götz Aly und Wolfgang Kraushaar wird intensiv auf dieses Wechselverhältnis eingegangen.3 Schließlich wird dem Zusammenhang zwischen 68er-Bewegung und Faschismusbegriff auch in der jüngeren historiographischen Forschung zur Bundesrepublik Rechnung getragen. So finden sich sowohl in allgemeinen Darstellungen, etwa im 2008 erschienenen letzten Band von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte der Jahre 1949–1990, als auch in themenspezifischen Studien wie beispielsweise dem 2008 von Katrin Hammerstein veröffentlichten Aufsatz zum Thema Die 68er Bewegung und der Nationalsozialismus Deutungsmuster für diese interessante Wechselbeziehung.4 2

3

4

Johannes Agnoli, Zur Faschismusdiskussion. Ein Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie und der Funktion des bürgerlichen Staates, Hamburg 1972, S. 23. Zur Bedeutung Agnolis für die APO vgl. Wolfgang Kraushaar, Von der Totalitarismustheorie zur Faschismustheorie. Zu einem Paradigmenwechsel in der bundesdeutschen Studentenbewegung, in: Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 267–283, hier S. 273. Vgl. dazu Peter Schneider, Rebellion und Wahn. Mein ’68, Bonn 2008, S. 124; Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt am Main 2008, S. 147–158; Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, S. 32. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1949–1990, Bd. 5, Bonn 2009, S.191 und S. 310–321; Katrin Hammerstein, Wider den Muff von 1000 Jahren. Die 68er Bewegung und der Nationalsozialismus, digitalisiert in: www.bpb.de/themen/GXHL90.html (2008), S. 1–9 (abgerufen am 17. Oktober 2011); vgl. ferner auch Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007; Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Antonia Grunenberg, Antifaschismus – ein deutscher Mythos, Reinbek bei Hamburg 1993; Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002; Christel Hopf, Das Faschismusthema in der Studentenbewegung und in der Soziologie, in: Heinz Bude/Martin Kohli (Hg.), Radikalisierte Aufklärung. Studentenbewegung und Soziologie in Berlin 1965 bis 1970, Weinheim/München 1989, S. 71–86; Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Auseinandersetzungen mit der NS-Diktatur in Politik und Justiz, München 2007; Axel Schildt/Detlef Sieg fried/Karl Christian Lammers (Hg.),

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In dem vorliegenden Aufsatz wird nun dieser Zusammenhang aufgegriffen. Die wesentlichen Faschismusbegriffe des 68er-Protests werden in die bundesrepublikanische Erinnerungsgeschichte eingeordnet und anhand von Textbeispielen analysiert. Der Begriff des „Linksfaschismus“ wird bewusst außer Acht gelassen, da er als Kampfbegriff gegen die 68er verwendet wurde und ob seines polemischen und unsachlichen Charakters kaum Auskünfte über das Faschismus-Verständnis der 68er-Bewegung geben kann.5 Diesem Verständnis wird sich im Folgenden anhand von drei Fragestellungen schrittweise genähert: 1.

Auf welcher begrifflichen Basis lässt sich der Faschismusbegriff der 68er untersuchen?

2.

Warum war der Faschismusbegriff einer der Schlüsselbegriffe der 68er?

3.

Welches waren die wesentlichen Faschismusdeutungen der 68er-Bewegung?

1 Begriffliche Basis Was ist Faschismus? Und: Welche Herrschaft ist faschistisch? Diese Fragen stellten und stellen sich seit dem Aufstieg der italienischen Faschisten in den Jahren 1915– 1922 Politiker, Wissenschaftler, Literaten und viele andere mehr.6 Eindeutige Antworten auf die scheinbar einfachen Fragen sind jedoch schwierig zu finden. Denn bis

5

6

Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Wilfried Mausebach, Wende um 360 Grad? Nationalsozialismus und Judenvernichtung in der „zweiten Gründungsphase“ der Republik, in: Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hg.), Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 16–47; HansUlrich Thamer, Die NS-Vergangenheit im politischen Diskurs der 68er-Bewegung, in: Der gesellschaftliche Ort der 68er-Bewegung. Westfälische Forschungen 48, 1998, S. 39–53; Wolfgang Wippermann, Vom „erratischen Block“ zum Scherbenhaufen. Rückblick auf die Faschismusforschung, in: Thomas Nipperdey/Anselm Doering-Manteuffel/Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Weltbürgerkrieg der Ideologien. Antworten an Ernst Nolte, Berlin 1993, S. 207–215; Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen 2002. Vgl. kritisch zum Begriff des Linksfaschismus Christel Hopf, Das Faschismusthema, S. 81f.; Oskar Negt, Studentischer Protest – Liberalismus – „Linksfaschismus“, in: Kursbuch 13, 1968, S. 179– 189; Ernst Nolte, Studentenbewegung und „Linksfaschismus“, in: Ernst Nolte (Hg.), Marxismus, Faschismus, Kalter Krieg. Vorträge und Aufsätze 1964–1976, Stuttgart 1977, S. 237–252. Zur Faschismusforschung vgl. in Auswahl Wolfgang Abendroth (Hg.), Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt am Main 1967; Arnd Bauerkämper, Der Faschismus in Europa 1918–1945. Stuttgart 2006; Erwägen-WissenEthik, Jg. 11, Nr. 4, 2000, und Jg. 15, Nr. 3, 2004; Ian Kershaw, Der NS-Staat, Hamburg 2009; Ernst Nolte (Hg.), Theorien über den Faschismus, Köln 1967; Stanley Payne, Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, Berlin 2001; Wolfgang Schieder, Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008; Gerhard Schreiber, HitlerInterpretationen 1923–1983, Darmstadt 1988; Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien, Darmstadt 1972 und 1997.

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heute gibt es keine allgemein gültige und anerkannte Faschismustheorie. Und bis heute ist sich die Wissenschaft nicht einig, welche historischen Phänomene unter dem Begriff zu fassen sind. Die in der aktuellen Theoriediskussion vorherrschende Tendenz, mit dem Faschismusbegriff eine generisch-vergleichende Perspektive auf rechte Diktaturen der Zwischenkriegszeit, also besonders auf das Ursprungsland Italien sowie Deutschland und Spanien zu werfen, geht nicht zuletzt zurück auf das 1938 durch den Sozialisten Angelo Tasca hervorgebrachte Postulat: „Faschismus definieren, heißt zuallererst seine Geschichte schreiben.“7 Diese in erster Linie historisch-komparative Vorgehensweise, die auf dem Vergleich politischer Herrschaften mit dem Ursprungsfaschismus in Italien abzielt, scheint ob ihres klaren Bezugsrahmens vielversprechend, wurde jedoch oftmals, besonders aber im Zuge der Faschismusdiskussion der Neuen Linken, außer Acht gelassen. An dieser Stelle soll sie jedoch berücksichtigt werden, um das spezifische Faschismusverständnis der 68er hervorzuheben. Der Faschismusbegriff stammt aus dem Italienischen und wurde abgeleitet vom lateinischen Ausdruck fascis, der das Rutenbündel der italienischen Liktoren, also ein Machtsymbol des antiken Rom, beschreibt. Als Symbol für die gebündelte Kraft einer Gruppe beziehungsweise für einen Bund selbst wurde der Begriff im 19. Jahrhundert vereinzelt von revolutionären linken Gruppierungen verwendet, ehe er von Benito Mussolini vereinnahmt wurde.8 Mittels der von ihm 1919 gegründeten Kampfbünde, den Fasci di Combattimento, konnte Mussolini bis 1922 gewaltsam gegen Sozialisten und Liberale vorgehend, seine Macht vor allem im strategisch wichtigen Norditalien ausdehnen und festigen, ehe er, obwohl seine 1921 gegründete antiparlamentarisch eingestellte Partito Nazionale Fascista nur 35 von 500 Mandaten besaß, am 28. Oktober 1922 vom italienischen König zum Ministerpräsidenten ernannt wurde.9 Mussolinis Selbstbezeichnung seiner Bewegung als Faschismus wurde von seinen Gegnern aus dem kommunistischen, sozialistischen, liberalen und konservativen Lager schon früh übernommen und so etablierten sich die Bezeichnungen Faschismus und Antifaschismus als Begriffe des politischen Kampfes der 20er und 30er Jahre in Italien und Europa.10 Mit Mussolini war ein neuer Typ des Politikers auf den Plan getreten, denn er war einerseits Duce del Fascismo, also Führer der faschistischen Bewegung, und andererseits gleichzeitig Capo del Governo, der Regierungschef Italiens.11

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Angelo Tasca, Glauben. Gehorchen. Kämpfen, Wien 1969, S. 374. Zitiert aus der deutschen Übersetzung. Das Original erschien 1938 in französischer Sprache, 1950 folgte eine italienische Ausgabe. Vgl. Wolfgang Altgeld/Rudolf Lill, Kleine italienische Geschichte, Bonn 2005, S. 371–389; Wippermann, Faschismustheorien, 1997, S. 1. Vgl. Schieder, Faschistische Diktaturen, S. 33–39. Vgl. Payne, Geschichte des Faschismus, S. 537 und Wippermann, Faschismustheorien, 1997, S. 3f. Vgl. Schieder, Faschistische Diktaturen, S. 38f.

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Es ist nun nicht verwunderlich, dass auch Angelo Tasca mit Bezug auf das italienische Beispiel den Aufstieg Hitlers zum Reichskanzler sowie die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur als Faschismus nach italienischem Vorbild klassifizierte. Schließlich drängen sich die Ähnlichkeiten, trotz einiger wesentlicher Unterschiede zwischen beiden Diktaturen und ihren Führern, gerade zu auf: Das militärische Auftreten, die Uniformierung, die politischen Schlägertrupps, der Führerkult, der integrale Nationalismus, der Antimarxismus, Antiliberalismus und Antiparlamentarismus. Umso interessanter ist es, dass im Zuge des 68er-Protest häufig der Faschismusbegriff verwendet wurde, um Gleichheiten und Ähnlichkeiten zwischen historischen Faschismen und den von ihnen verachteten und bekämpften liberal-demokratischen Staaten zu suggerieren.12 Welches Verständnis hinter einer solchen Verwendung des Faschismusbegriffs steckt, wird später zu zeigen sein. Zunächst jedoch muss der Begriff der 68er umrissen werden, der zwar in Wissenschaft und Öffentlichkeit vielfach gebraucht wird, dessen Inhalt jedoch nicht eindeutig ist: Wer waren die 68er? Was dachten sie und welche Ziele strebten sie an? Diese Fragen sind entscheidend, wenn man ihren Faschismusbegriff untersucht. Das Jahr 1968 ist eine Chiffre für das Zusammentreffen verschiedener bundesrepublikanischer und weltpolitischer Entwicklungen, die von 1967 bis 1969 eine bis dahin in der Bonner Republik nie dagewesene Protestbewegung hervorriefen. Da war zum Ersten die Entstehung einer Neuen Linken, einer selbsternannten „Dritten Kraft“ zwischen der Sozialdemokratie und dem Sowjetkommunismus, deren Ursprung in den USA und England zu finden ist und deren Ideen bald auch nach Frankreich, Italien und Deutschland ausstrahlten.13 Der US-amerikanische Soziologe Charles Wright Mills hatte den Begriff „New Left“ ins Leben gerufen und seit den späten 50er Jahren machten sich kleine intellektuelle Zirkel in den USA, Westeuropa und eben auch in der Bundesrepublik daran, den traditionellen Marxismus einer Revision zu unterziehen. Sie argumentierten, wie die Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey gezeigt hat, dass der Fokus des Neomarxismus nicht mehr bloß auf der Ausbeutung der Arbeiter, sondern vielmehr auf der Entfremdung des Menschen von seiner Lebenswelt zu liegen habe. Die bestehenden kapitalistischen liberal-demokratischen Systeme müssten mittels einer Transformation der

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Vgl. dazu kritisch Bauerkämper, Der Faschismus in Europa, S. 24; Heinrich August Winkler, Revolution, Staat, Faschismus. Zur Revision des historischen Materialismus, Göttingen 1978, S. 101. Vgl. zur Genese und Ausrichtung der Neuen Linken sowie für die folgenden Ausführungen Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er-Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001, S. 15f.; Michael Schmidtke, Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt am Main/New York 2003, S. 33–40 und S. 47–56.

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Gesellschaft, also durch Bewusstseinserweiterung der integrierten Massen, durch die Entwicklung und das Ausleben neuer Kulturideale und Lebensformen sowie durch die Bildung von subversiver Gegenmacht in den bestehenden Institutionen überwunden werden. Dementsprechend sei auch nicht mehr vom Proletariat als Trägerschicht der Revolution auszugehen. Ebenso wenig habe eine straff organisierte Partei das Geschick der entfremdeten Masse zu lenken.14 Nein, die führende Rolle bei der Transformation der Gesellschaft falle vielmehr Fachkräften, der jungen Intelligenz und gesellschaftlichen Randgruppen zu. Es verwundert kaum, dass größere Teile der linksgerichteten Studentenschaft, besonders des seit 1961 von der SPD getrennten Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) die Ideen der Neuen Linken aufgriffen und propagierten.15 Zum Zweiten ist die Entstehung der ersten Großen Koalition der bundesrepublikanischen Geschichte zu nennen, die unter der Führung von Georg Kiesinger und Willy Brandt im Dezember 1966 ihre Arbeit aufnahm. Die Koalition hatte von Anfang an mit einer starken wirtschaftlichen Rezession zu kämpfen, der sie jedoch mit einer Reihe von Reformen und der Etablierung der „Konzertierten Aktion“ entgegentrat.16 Weitaus problematischer gestaltete sich jedoch die Verabschiedung der Notstandsgesetze, die von Teilen der Bevölkerung als Wiederkehr des berühmten Weimarer Artikels 48 und somit als Werkzeug zur Aushebelung der demokratischen Ordnung kritisierte wurden. Schon seit 1958 bemühte sich die Regierung Adenauer, die für die Grundgesetzänderung nötige Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag zu erreichen. Schließlich wollte man die mit dem Deutschlandvertrag von 1952/55 entstandene Möglichkeit zur Erlangung größtmöglicher Souveränität nutzen und mit einer Notstandsverfassung die alliierten Vorbehaltsrechte für den Fall ausbrechender innerer Unruhen, Katastrophen oder Kriege verfassungsgerecht ablösen.17 Nach dem Scheitern von Gesetzesentwürfen in den Jahren 1958, 1960

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Vgl. zur Vorstellung der kommunistischen Kaderpartei W.I. Lenin, Was Tun? Brennende Fragen unserer Bewegung, Berlin (Ost) 1968. Vgl. Tilman P. Fichter/Siegwald Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von Helmut Schmidt bis Rudi Dutschke, Bonn 2008, S. 111–114. Vgl. Arnulf Baring/Gregor Schöllgen, Kanzler, Krisen, Koalitionen. Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel, München 2006, S. 101f.; Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 437–474; Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969 (=Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 19), München 2000, S. 104. Vgl. Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952 [und vom 23. Oktober 1954], in: Matthias Friedel (Hg.), Von der Teilung zur Wiedervereinigung. Dokumente zur Deutschen Frage in der Zeit des Kalten Krieges, Wiesbaden 2006, S. 111–114; Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968, in: Merith Niehuss/Ulrike Lindner (Hg.), Besatzungszeit, Bundesrepublik und DDR 1945–1969 (=Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 10), Stuttgart 1998, S. 315– 323.

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und 1963 schien nun eine günstige Situation gekommen zu sein, da für die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD die nötige Zweidrittel-Mehrheit realistisch war. Im von Studenten geführten Massenprotest gegen die im Mai 1968 verabschiedete Notstandsverfassung hat die 68er-Bewegung ihre wohl größte Ausdehnung erfahren, auch wenn sie die Verfassungsänderung nicht verhindern konnte. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die von vielen Seiten mit Sorge betrachteten Wahlerfolge der 1964 gegründeten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, die bis 1968 in sieben bundesdeutsche Landtage einziehen konnte, 1969 jedoch den Einzug in den Bundestag verpasste.18 Schließlich waren es auch internationale Konflikte, die die Potestbewegung von 1968 mobilisierten: So vor allem der US-amerikanische Kriegseinsatz in Vietnam, in dem die USA einen antikommunistisch ausgerichteten, sogenannten Stellvertreterkrieg gegen das hauptsächlich von der Sowjetunion und China unterstützte Nordvietnam Ho Chi Minhs führten.19 Oder aber der im Juni 1967 zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien geführte Sechs-Tage-Krieg. Darüber hinaus war auch erhebliches Protestpotential gegenüber der atomaren Hochrüstung der Supermächte im Zuge des Kalten Krieges vorhanden, welches mit der ursprünglich britischen Ostermarsch-Bewegung im Verlauf der 60er Jahre auch in Deutschland in immer größerem Maße ausgeschöpft wurde.20 Die angeführten Entwicklungslinien machen sehr deutlich, dass es sich bei den 68ern keineswegs um eine geschlossen Protestbewegung handelte – ob der vielen verschiedenen Einflüsse hatte sie gewiss kein fest umrissenes Programm. Es entwickelte sich vielmehr eine heterogene Bewegung mit verschiedenen, vornehmlich dem Marxismus und der Sozialpsychologie entlehnten Gedanken und Zielsetzungen, von denen die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins und die Ablehnung von Autorität und kapitalistischer Wirtschaftsordnung als zentrale Punkte hervorgehoben werden können.21 Die Protestbewegung verstand sich als außerparlamentarische Opposition zur Großen Koalition in Bonn und bestand zu einem Großteil aus Studenten, die ihr Bedürfnis nach der Reformierung der Ordinarienuniversität mit den tages- und

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Vgl. Manfred Görtemaker, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2004, S. 202; Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland, S. 108; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 9 und S. 447. Vgl. Michael Schmidtke, The German New Left and National Socialism, in: Philipp Gassert/Alan E. Steinweis (Hg.), Coping with the Nazi Past. West German Debates on Nazism and Generational Conflict, 1955–1975, New York/Oxford 2006, S. 176–193, hier S. 182. Vgl. Thomas Etzemüller, 1968 – Ein Riss in der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und 68erBewegung in Westdeutschland und in Schweden, Konstanz 2005, S. 71–73; Gilcher-Holtey, Die 68erBewegung, S. 16. Vgl. Wolfgang Kraushaar, Denkmodelle der 68er-Bewegung, in: APuZ B 22/23, 2001, S. 14–27.

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weltpolitischen Themen der späten 60er Jahre vermischten.22 Koordiniert wurde diese Opposition zum einen vom SDS, aus dessen Reihen Rudi Dutschke, das heute wohl bekannteste Gesicht der Protestbewegung, hervorging. Zum anderen übernahmen aber auch die nach Berliner Vorbild gegründeten außeruniversitären Republikanischen Clubs koordinierende Aufgaben – dabei, das haben die Forschungen des Zeitzeugen und Historikers Wolfgang Kraushaar gezeigt, wurden sie finanziell auch von der DDR unterstützt.23 Die Republikanischen Clubs sowie der SDS beeinflussten einen Großteil der gesellschaftstheoretischen Diskussionen, die den 68er-Protest vor allem von studentischer Seite her begleitete. Mit den SDS nahen publizistischen Organen, vor allem den zweimonatlich erscheinenden Zeitschriften Das Argument und neue kritik wurde eine Plattform geboten für vermeintlich essentielle, gesellschaftsanalytische Themen wie die Imperialismus- und eben auch die Faschismustheorie.24

2 Schlüsselbegriff Faschismus In seiner Untersuchung zur Sprache des 68er-Protests weist Joachim Scharloth darauf hin, dass der Begriff Faschismus zu den wichtigsten Schlagwörtern der außerparlamentarischen Opposition gehörte.25 Eine Aussage, die sich anhand von Quellenfunden stützen lässt: So wurde etwa die Bundesrepublik in einer 1969 gedruckten Flugschrift des Republikanischen Clubs Augsburg als faschistisch bezeichnet und den politischen Parteien Westdeutschlands vorgeworfen, sie seien „zur SA der NPD geworden!“ In einem Info-Heft des SDS, ebenfalls aus dem Jahre 1969, beschrieben die Autoren die Wirtschaftspolitik der Regierung Kiesinger ferner als „Mischung von ,New Deal‘ und faschistischer Wirtschaftslenkung.“26

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Vgl. Nolte, Studentenbewegung und Linksfaschismus, S. 237. Vgl. Kraushaar, 1968 als Mythos, S. 155f. Eine massive Abhängigkeit der APO von der DDR konstatiert etwa Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999, S. 182–233; so auch Peter Horvath, Die inszenierte Revolte. Hinter den Kulissen von ’68, München 2010. Kritisch zu dieser These stehen Tilman P. Fichter und Siegward Lönnendonker. Vgl. Fichter/Lönnendonker, Dutschkes Deutschland, Essen 2011, S. 23–30, S. 81–110 und S. 119. Der Zusammenhang zwischen SDS und Argument wird deutlich in der 1966 geschlossenen Vereinbarung zwischen SDS und ARGUMENT. Vgl. Bundesvorstand des SDS (Hg.), SDS-Korrespondenz Nr.1, Januar 1966, in: APO-Archiv, SDS Dokumente 2 (Korrespondenzen) 1966, S. 42. Vgl. Joachim Scharloth, Die Sprache der Revolte. Linke Wörter und avantgardistische Kommunikationsstile, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Bonn 2008, S. 223–234, hier S. 224. Republikanischer Club Augsburg (Hg.), RC-Info Nr. 2 vom 6. November 1969, in: APO-Archiv, SDS Dokumente 6 (Gruppen), 1969; Die Stabilisierung des Kapitalismus in der Bundesrepublik, in: Bundesvorstand des SDS (Hg.), SDS-Info 21, Zu den Septemberstreiks, in: APO-Archiv, SDS Dokumente 2 (Korrespondenzen) 1969, S. 48. Ähnliche Textstellen finden sich in zahlreichen im Selbstverlag

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Die häufige Verwendung des Faschismusbegriffs in Texten der 68er-Bewegung mag vor allem zwei Gründe haben. Zum einen die problematische Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer jüngsten Geschichte: Dem Nationalsozialismus, der Shoah und den personellen Kontinuitäten vom „Dritten Reich“ in die Bundesrepublik Deutschland, für die damals die NSDAP-Mitgliedschaft von Bundeskanzler Georg Kiesinger das wohl prägnanteste Beispiel wurde.27 Zum anderen, wenngleich eng damit verbunden, auch die delegitimatorische Funktion, die dem Faschismusbegriff von Seiten der 68er zugeschrieben wurde, um das politische System der Bundesrepublik in Misskredit zu bringen. In Bezug auf den erst genannten Punkt ist zu fragen: War 1968 das Jahr, in dem das Beschweigen der eigenen Vergangenheit entscheidend aufgebrochen wurde, in dem die NS-Vergangenheit vieler Deutscher endlich an die Öffentlichkeit gelangte – oder mit den Worten des Historikers Norbert Frei gesprochen: Gab es in diesem Jahr eine von den 68ern „[e]rtrotzte Aufklärung“?28 Nicht selten wird schließlich behauptet, so der Zeitzeuge und Historiker Götz Aly in seinem 2008 erschienenen Bestseller Unser Kampf, „die Revolte sei deshalb so heftig verlaufen, weil die Nazivergangenheit in der westdeutschen Öffentlichkeit einvernehmlich beschwiegen worden sei.“ Aly selbst verwirft diese Behauptung energisch und argumentiert, dass bundesrepublikanische Institutionen mehr für die Aufklärung getan hätten, „als die deutsche Gesellschaft ertragen konnte.“29 Tatsächlich trifft die These von der 68er-Bewegung als ursächlicher Impuls der deutschen Aufklärung der NS-Verbrechen nicht zu.30 „Jede Behauptung dieser Art,“ so Horst Möller, „ist so offensichtlich falsch, dass sie mit Unwissen allein nicht zu erklären ist.“31 Denn trotz der Tatsache, dass die westalliierte Entnazifizierung im Zuge der politischen Konstellationen und Notwendigkeiten des Kalten Krieges nicht umfassend und konsequent durchgeführt wurde, nahm eine Mehrheit der Deutschen ob der medialen oder persönlichen Konfrontation mit den Massenmorden in den na-

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erschienenen Texten aus der Zeit der Studentenunruhen. Eine der wohl größten Fundgruben für diese Texte ist das APO-Archiv in Berlin. Vgl. Udo Wengst, Das vorzeitige Ausscheiden von Heinrich Lübke aus dem Bundespräsidentenamt. Zweierlei „Vergangenheitsbewältigung“ im Systemkonflikt, in: Udo Wengst/Hermann Wentker (Hg.), Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonflikt, Berlin 2008, S. 161–182; Edgar Wolfrum, Aufruhr und Zuversicht, in: Theo Sommer (Hg.), 60 Jahre Bundesrepublik im Spiegel der Zeit, Hamburg 2009, S. 124–144, hier S. 125. Norbert Frei, Ertrotzte Aufklärung, in: Die Zeit, 5. April 2001. Aly, Unser Kampf, S. 150f. Vgl. Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–51, hier S. 43–48; Mausebach, Wende um 360 Grad?, S. 37f. Horst Möller, Unser letzter Stolz, in: FAZ, 9. Juni 2012, S. 8.

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tionalsozialistischen KZs, nicht selten auch aus pragmatischen Gründen, recht bald Abstand vom Nationalsozialismus.32 Bereits Mitte April 1945 wurden zum Beispiel ca. 1000 Weimarer Bürger gezwungen, die Leichenberge im KZ Buchenwald zu betrachten. Fotos von den Untaten der Nationalsozialisten im KZ Bergen-Belsen sorgten außerdem deutschland- und weltweit für Aufsehen.33 Schließlich ist ein weiteres Beispiel für die frühe Konfrontation mit den NS-Verbrechen im 1946 erschienenen, bis 1995 vielfach neuaufgelegten und viel gelesenen Buch Eugen Kogons über den SS-Staat zu sehen.34 Der 8. Mai 1945 wurde von vielen Deutschen als totale und wegen der Verbrechen schamvolle Niederlage begriffen. Für andere wiederum galt er, so Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985, als Befreiung.35 Dementsprechend setzte sich in der deutschen Öffentlichkeit, freilich aus verschiedensten Motiven, in den ersten Jahren der Bundesrepublik ein durchaus breiter, jedoch unreflektiert vereinfachter Konsens der Ablehnung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime durch. Der Nationalsozialismus wurde dieser Tage oftmals dargestellt als ein Ausbrechen der Deutschen aus ihren historisch-kulturellen Traditionen. Hitler wurde als Dämon gesehen und seine absolute Herrschaft als Naturgewalt interpretiert, die das „verführte“ deutsche Volk, das in dieser Perspektive fast schon eine Opferrolle einnahm, in den Abgrund gestürzt hätte.36 Organisationen und führende Personen des Nationalsozialismus wurden verteufelt, wenngleich zeitgleich einzelne Institutionen wie etwa die Wehrmacht als entlastet galten. Die ambivalente Haltung des Erinnerns mitsamt des selbst entlastenden Fokussierens auf die Person Hitler zeigt sich recht gut in der Antrittsrede des Bundespräsidenten Theodor Heuss aus dem Jahre 1949: „[F]ür die Völker ist es eine Gnade, vergessen zu können. Aber meine Sorge ist, dass manche Leute in Deutschland mit dieser Gnade Missbrauch treiben und zu rasch vergessen wollen. Wir müssen das im Spürgefühl behalten, was uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind [. . . ] wir dürfen es uns nicht so leicht machen, nun das vergessen zu haben, was die HitlerZeit uns gebracht hat.“37 32

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Vgl. Clemens Vollnhals: Entnazifizierung. Politische Säuberung unter alliierter Herrschaft, in: HansErich Volkmann (Hg.), Ende des Dritten Reiches. Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, München/Zürich 1995, S. 369–192, hier S. 371. Vgl. Möller, Unser letzter Stolz. Eugen Kogon, Der SS-Staat, München 1946. Vgl. Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.), Bulletin Nr. 52, 9. Mai 1985, S. 441–446. Vgl. Bernd Faulenbach, NS-Interpretationen und Zeit-Klima. Zum Wandel in der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit, in: APuZ B22/87, 1987, S. 19–30, hier S. 22. Theodor Heuss, Rede anlässlich der Wahl zum Bundespräsidenten, 1949, in: Theodor Heuss: Politiker und Publizist. Kommentiert von Martin Vogt, Tübingen 1984, S. 376–381, hier S. 378. Vgl.

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Der Historiker Hans-Ulrich Thamer interpretiert die 50er Jahre dementsprechend als eine Zeit der zwiespältigen Erinnerung. Er bezeichnet sie als Form der Ablehnung, „die sehr abstrakter Natur war und vor allem die Menschen nicht zwang, all das, was allmählich an nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtung ans Licht gefördert wurde, auf sich selbst zu beziehen.“38 Und Götz Aly pflichtet Thamer mit der These bei, dass nicht die bundesrepublikanischen Gewalten, auch nicht die bundesrepublikanischen Medien den Nationalsozialismus beschwiegen hätten, sondern dass es diese Tendenzen vor allem in den bundesdeutschen Familien gab, in denen sich die Elterngeneration mit den moralisch verurteilenden Nachfragen ihres eigenen Nachwuchses auseinandersetzen musste und an dieser Aufgabe in vielen Fällen scheiterte.39 Beeinflusst wurde die äußerst schmerzhafte und deshalb oftmals schwerfällige Auseinandersetzung des Einzelnen mit seiner Vergangenheit durch die in diesen Jahren vorherrschenden Totalitarismustheorien, die aus liberal-demokratischer Perspektive zur Analyse und Beschreibung der neuartigen Diktaturen des 20. Jahrhunderts entwickelt worden waren.40 Solche Totalitarismustheorien gehen davon aus, dass rechte Diktaturen wie der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus mit linken Diktaturen, so vor allem mit dem Sowjetkommunismus, verglichen werden können, um wesentliche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zwischen den einzelnen Diktaturen aufzudecken. Ohne Zweifel hat dieser Ansatz seinen wissenschaftlichen Nutzen, nur wurde er in der Bundesrepublik der 50er Jahre oftmals dazu missbraucht, im Sinne des Antikommunismus den Nationalsozialismus mit dem Bolschewismus nicht bloß zu vergleichen, sondern vollends gleichzusetzen, was eine Relativierung der deutschen Schuld bewirken konnte, indem durch den Hinweis auf das fortexistierende stalinistische System von deutschen Verbrechen abgelenkt wurde.41 Dennoch dauerte es nicht bis 1968, dass Deutsche anfingen, differenzierter und ausführlicher über die eigene Vergangenheit zu sprechen. Denn spätestens mit dem

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auch die Deutung bei Helmut Dubiel, Niemand ist frei von der Geschichte, München/Wien 1999, S. 49–55. Thamer, Die NS-Vergangenheit, S. 43; vgl. dazu auch Grunenberg, Antifaschismus, S. 168. Vgl. Aly, Unser Kampf, S. 150f.; außerdem Horst Möller, Worin lag das „national“ Verbindende in der Epoche der Teilung?, in: Hans Günter Hockerts (Hg.), Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. 307–324, hier S. 317. Vgl. dazu kritisch Bernd A. Rusinek, Von der Entdeckung der NS-Vergangenheit zum generellen Faschismusverdacht – akademische Diskurse in der Bundesrepublik der 60er Jahre, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 114–148, hier S. 116. Vgl. Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien, Darmstadt 1997; Bruno Seidel/Sieg fried Jenkner (Hg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968. Vgl. Etzemüller, 1968, S. 19.

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Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958 und der Diskussion um die Schändung jüdischer Friedhöfe und Synagogen 1958/59 öffnete sich die Debatte in erstaunlicher Weise.42 Noch 1958 wurde eine „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg eingerichtet. Als politische Reaktion auf Hakenkreuzschmierereien in westdeutschen Städten installierte die Bundesregierung 1960 ferner eine hochrangig besetzte Kommission, um sich in Fragen politischer Bildungspolitik, insbesondere aber in Bezug auf den Umgang der Westdeutschen mit der NS-Vergangenheit, beraten zu lassen.43 Überdies wurde in den 60er Jahren im Bundestag mehrfach kontrovers über die rechtliche und moralische Seite der Verjährung von Straftaten, die im „Dritten Reich“ begangen wurden, debattiert. Größere öffentliche Aufmerksamkeit zogen schließlich auch der Eichmann-Prozess von 1961 und die Frankfurter Ausschwitz-Prozesse der Jahre 1963–1968 auf sich.44 Ein weiterer wichtiger Impuls für das Aufbrechen des eingefahrenen Geschichtsbildes kam zudem aus dem kulturellen Bereich. Hier kann das Jahr 1959 als Schlüsseljahr gelten, in dem Bernhard Wicki seinen Film Die Brücke, Günter Grass und Heinrich Böll ihre Romane Die Blechtrommel und Billard um Halbzehn veröffentlichten.45 Die kontroverse Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus riss nun nicht mehr ab. 1960, das wird in der heutigen Geschichtswissenschaft oft übersehen, erschien Fritz Umgelters Aufsehen erregende und viel diskutierte Fernsehproduktion Am Grünen Strand der Spree, ein 5-Teiler in Spielfilmformat, der sich mit der jüngsten deutschen Geschichte auseinandersetzte. Gleich im ersten Teil der Reihe, dem Tagebuch des Jürgen Wilms wurde dem westdeutschen Fernsehpublikum eine gut 10-minutige Massenerschießung von Juden vorgeführt und die kritische Frage nach der Schuld des Einzelnen im Vernichtungskrieg im Osten gestellt.46 Und auch im Theater wurde der Nationalsozialismus nun kritisch ins Visier genommen, wofür beispielhaft Rolf Hochhuths Skandalstück Der Stellvertreter aus dem Jahre 1963 genannt werden kann. Schließlich leistete auch die wissenschaftliche Forschung ihren Beitrag zur Aufarbei42 43

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Vgl. Wolfrum, Geschichte als Waffe, S. 110. In der „Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung“ waren neben anderen renommierten Wissenschaftlern und Intellektuellen Max Horkheimer, Jürgen Habermas und Karl Dietrich Bracher tätig. Ihre beratende Arbeit erwies sich in kulturpolitischen Fragen, etwa bei der Entstehung des „Soldatenbuches“ oder bei der Entwicklung der „Bundeszentrale für politische Bildung“ als durchaus wirkungsvoll. Vgl. dazu das Aktenmaterial des BMI im Bundesarchiv, in: BArch B 106/54121–54131. Vgl. in kritischer Perspektive Detlef Siegfried, Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten 1958 bis 1969, in: Schildt, Dynamische Zeiten, S. 77–113, hier S. 78–91. Vgl. Thamer, Die NS-Vergangenheit, S. 34f. Vgl. Hans Scholz, Am grünen Strand der Spree, Hamburg 1955; verfilmt von Fritz Umgelter, Am grünen Strand der Spree. Erstausstrahlung 1960 im NWRV-Fernsehen Köln.

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tung, so etwa Forschungsprojekte des 1949 gegründeten Instituts für Zeitgeschichte in München, darunter das 1965 erschienene, unter anderem mit Beiträgen der Historiker Hans Buchheim und Martin Broszat versehene Standardwerk zur Anatomie des SS-Staates.47 Ferner auch der Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher mit seinen Studien über die Auflösung der Weimarer Republik und die Nationalsozialistische Machtergreifung aus den Jahren 1955 und 1960 sowie Walther Hofer mit seiner 1957 veröffentlichten kommentierten Edition nationalsozialistischer Dokumente der Jahre 1933–1945.48 Als Impuls für die Entwicklung der Mitte der 60er Jahre aufkommenden bundesrepublikanischen Faschismusdiskussion besonders links orientierter Intellektueller diente jedoch ein anderes Buch: Ernst Noltes 1963 veröffentlichte Pionierstudie Der Faschismus in seiner Epoche, die von Urs Müller-Plantenberg im ersten ArgumentSonderheft zur Faschismus-Theorie 1964 als Triumph der Wissenschaft über den Kalten Krieg gefeiert wurde, weil sie die Totalitarismustheorie überwunden und den Faschismusbegriff in die vergleichende Diskussion über den Nationalsozialismus eingeführt zu haben schien.49 Die durch Nolte entfachte Diskussion entfernte sich jedoch schon bald von seinem generisch-vergleichenden Ansatz, mit dessen Hilfe er den französischen, den italienischen und den deutschen Faschismus auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht hatte. Immer häufiger wurde nun zwar der Faschismusbegriff verwendet, was sich zum Beispiel an dem Erscheinen mehrere Sonderhefte des Arguments sowie einiger Beiträge in der neuen kritik zum Thema Faschismustheorien in den Jahren 1964–1970 erkennen lässt.50 Doch mit der zunehmenden Anwendung des Begriffs stieg auch die Vielzahl seiner Interpretationen. Tendenziell entfernte sich die damalige Faschismusdiskussion von einem historiographisch ausgerichteten Begriff hin zu einem vermeintlich gesellschaftsanalytischen, politikwissenschaftlichen Faschismusbegriff, der immer öfter

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Hans Buchheim u.a. (Hg.), Anatomie des SS-Staates, Olten/Freiburg 1965. Karl-Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1955; Ders., Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln u.a. 1960; Walter Hofer, Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945, Frankfurt am Main 1957. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963; vgl. das lobende Urteil von Urs Müller-Plantenberg, Neuere Literatur über den Faschismus, in: Das Argument Nr. 30, FaschismusTheorien I, 1964, S. 144–155, hier S. 145. Zur Bedeutung Noltes für den Faschismus-Begriff der 68er vgl. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt, Köln 2001, S. 112. Vgl. Wolfgang Fritz Haug/Christoph Müller-Wirth (Hg.), Das Argument. Sonderhefte zur Faschismus-Theorie. Nr. 30, Faschismus-Theorien I, 1964; Nr. 32, Faschismus-Theorien II, 1965; Nr. 33, Faschismus-Theorien III, 1965; Nr. 41, Faschismus-Theorien IV, 1966, (Staat und Gesellschaft im Kapitalismus); Nr. 47, Faschismus-Theorien V, 1968, (Faschismus und Kapitalismus); Nr. 58, Faschismus-Theorien VI, 1970. Vgl. ferner: neue kritik Nr. 47, April 1968. Für den Zusammenhang zwischen Argument und studentischer Faschismustheorie vgl. Kraushaar, Von der Totalitarismustheorie zur Faschismustheorie, S. 269–271.

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dazu verwendet wurde, das System liberal-parlamentarischer Staaten wie der USA und der Bundesrepublik mit dem Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen. Das Resultat dieser Entwicklung war die Entstehung eines deligitimatorischen Faschismusbegriffs, der vielfach gegen die Politik der Großen Koalition eingesetzt wurde und bisweilen auch dazu diente, das gesamte politische System sowie die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik moralisch, aber auch strukturell in Frage zu stellen.51 Für die 68er-Bewegung war also der Faschismusbegriff ein zentrales Werkzeug der Kritik und des politischen Kampfes, weshalb er zu einem Kernbegriff des Protest-Jargons avancierte. Für diesen Prozess war die vermeintlich ungenügende Aufarbeitung des Nationalsozialismus innerhalb der deutschen Gesellschaft Voraussetzung und dennoch nur ein Faktor. Ein anderer wichtiger Faktor ist dagegen in der fundamental kapitalismuskritischen Ausrichtung der Bewegung zu sehen.

3 Faschismusdeutungen Als in den frühen 60er Jahren die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, besonders aber die Diskussion um ehemalige Funktionsträger des „Dritten Reiches“ bzw. Mitglieder der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei, die auch in der Bundesrepublik wichtige Ämter bekleideten, immer größere Dimensionen annahm – nicht zuletzt übrigens, weil die DDR in der Bundesrepublik gezielte Enthüllungskampagnen gegen hohe Beamte und Repräsentanten des Staates führte – wuchs auch der Druck auf die westdeutschen Universitäten.52 Bestand nämlich bei der Studentenschaft und dem Mittelbau ohnehin ein dem Wesen der traditionellen Ordinarienuniversität geschuldetes Protestpotential, so wurde dieses Potential durch die NS-Verstrickung einzelner Professoren, aber auch durch die Tatsache der mangelnden Auseinandersetzung der Universitäten mit ihrer Rolle im „Dritten Reich“ freigesetzt. Auf studentischen Druck veranstalteten deshalb in den Jahren 1964 bis 1966 mehrere deutsche Universitäten, darunter München, Tübingen, Marburg und Berlin, Ringvorlesungen zur Rolle der Universität im Nationalsozialismus. Der Grad der Selbstkritik und die Substanz der Aufarbeitung in den Vorlesungen variierten dabei stark.53 Während etwa in Berlin nach strukturellen Einordnungen 51 52

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Vgl. Schmidtke, German Left and National Socialism, S. 180. Vgl. zur sogenannten Braunbuchkampagne der DDR Wengst, Das vorzeitige Ausscheiden von Heinrich Lübke, S. 161–164. Vgl. zum steigenden Druck auf die Universitäten Schmidtke, German Left and National Socialism, S. 177f.; Thamer, Die NS-Vergangenheit, S. 46–49. Vgl. Karl Christian Lammers, Die Auseinandersetzung mit der „braunen“ Universität. Ringvorlesung zur NS-Vergangenheit an westdeutschen Hochschulen, in: Schildt, Dynamische Zeiten, S. 148–165, hier S. 164f.

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der Universität in die nationalsozialistische Herrschaft gefragt wurde, beließ es der Münchner Rektor Ludwig Kotter bei der Aussage, die Universität habe, wie das gesamte Bürgertum, den Nationalsozialismus unterschätzt und sei diesem deshalb in die Fänge gegangen.54 Es war der Berliner Sozialwissenschaftler und Mitherausgeber des Arguments, Wolfgang Fritz Haug, der die Ringvorlesungen einer kritischen Betrachtung unterzog und sie mit dem polemischen Titel Der hilflose Antifaschismus bedachte.55 Neben Noltes Der Faschismus in seiner Epoche war Haugs 1967 veröffentlichte Studie ein weiteres Schlüsselwerk auf dem Weg zur Entstehung der linksgerichteten, vornehmlich universitären Faschismusdiskussion. Auch gab Haugs bei Suhrkamp erschienenes Buch einen Vorgeschmack darauf, wie die entstehende Faschismusdiskussion sich entwickeln würde. So bewertete er vor allem den unpolitischen Geist an den Universitäten, gemeint war damit sowohl der Zeitraum von 1933 bis 1945 als auch die Zeit der 60er Jahre, sehr kritisch und sprach in diesem Zusammenhang von der möglichen „Einrichtung eines neuen modifizierten Faschismus.“56 Ferner sprach er liberal-demokratischen Perspektiven ein kritisches Bewusstsein ab und sah die Möglichkeit der Bekämpfung und Deutung des Faschismus ausschließlich im kritischen Sozialismus gegeben.57 Während also Nolte in seinen Studien einen historisch vergleichenden Begriff des Faschismus definierte, trat Haug für einen gegenwartsbezogenen Faschismusbegriff ein, der faschistische Tendenzen in liberal-parlamentarischen Staaten wie etwa der Bundesrepublik aufdecken sollte. Interessanterweise bedeutete dies einen Rückgriff auf marxistische und sozialistische Faschismustheorien der 20er, 30er und 40er Jahre, auf eine Zeit also, die durch eine massive Polarisierung politischer Positionen geprägt war und in der sich wissenschaftliche Theorien zum Faschismus mit Kampfbegriffen des politischen Alltags vermischten, so dass letztendlich die Deutung des Faschismus auf die Formel Faschismus gleich Kapitalismus verkürzt und im Kampf gegen den Kapitalismus die Hauptaufgabe eines Antifaschisten gesehen wurde.58 Die DDR 54

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Vgl. Ludwig Kotter, Vorwort, in: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München, München 1966, S. 9–12, hier S. 11; Hans-Joachim Lieber, Eröffnungsworte, in: Nationalsozialismus und die deutsche Universität. Universitätstage 1966. Veröffentlichung der Freien Universität Berlin, Berlin 1966, S. 5–7, hier S. 6. Vgl. die Deutung bei Thamer, Die NSVergangenheit, S. 48. Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus, Frankfurt am Main 1967. Ebd., S. 81. Vgl. Haug, Der hilflose Antifaschismus, S. 80f. und S. 100. Noch deutlicher in Wolfgang Fritz Haug, Ideologische Komponenten in den Theorien über den Faschismus, in: Das Argument Nr. 33, Faschismus-Theorien III, 1965, S. 1–35, hier S. 3f. Für die 68er war der Antifaschismus eine treibende und integrierende Kraft. Vgl. Bauerkämper, Der Faschismus in Europa, S. 23f.; Gerhard Fels, Der Aufruhr der 68er, Bonn 1998, S. 18; Grunenberg, Antifaschismus, S. 145.

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sollte diese Argumentation später übernehmen und auch in der Faschismusdiskussion der 68er wurde in unzähligen Einzelveröffentlichungen, Flugblättern, Plakaten, aber auch in bedeutenden publizistischen Organen der Bewegung, zum Beispiel eben in den Zeitschriften Das Argument, Kursbuch und neue kritik, auf marxistische und sozialistische Theorien zurückgegriffen.59 Besonders taten sich dabei die viel rezipierten Politikwissenschaftler Johannes Agnoli, Reinhard Kühnl und Reinhard Opitz hervor, aber auch DDR-Wissenschaftler wie Kurt Gossweiler und Eberhard Czichon spielten eine entscheidende Rolle.60 Hinzu kam ferner die verstärkte Berücksichtigung sozialpsychologischer Theorien zum autoritären Charakter in sogenannten bürgerlichen, spätkapitalistischen Gesellschaften. Waren die Diskussionsbeiträge vor allem in den Jahren 1964 bis 1967 noch von einer gewissen Ausgewogenheit und kritischen Haltung gegenüber allzu vereinfachenden Theorien geprägt, ordnete sich die theoretische Diskussion über den Faschismus mit der Radikalisierung der Studentenproteste in den Jahren 1967 bis 1969 den politischen Gegebenheiten unter, so dass es vermehrt zur Reproduktion sehr vereinfachter und unhistorischer Faschismusbegriffe kam.61 Dies mündete letztendlich in der Entstehung provozierender Parolen und Transparente, die von vielen Demonstranten etwa zum Protest gegen die Notstandsverfassung und den Vietnamkrieg gebraucht wurden.62 Nachfolgend seien nun zwei Beispiele für diesen Prozess genannt, die als exemplarisch für die Entwicklung der Faschismus-Diskussion der 68er gelten können, weil sie die Hinwendung zu einer monokausalen Erklärung des Faschismus illustrieren.

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Vgl. zur Verortung des Kursbuches im Jahr 1968 Henning Marmulla, Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68, Berlin 2011; sowie den Beitrag von Kristof Niese in diesem Band. Vgl. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967; Eberhard Czichon, Der Primat der Industrie im Kartell der nationalsozialistischen Macht, in: Das Argument Nr. 47, 1968, S. 168–192; Kurt Gossweiler, Großbanken, Industriemonopole, Staat. Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914–1932, Berlin (Ost) 1971; Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft, Reinbek bei Hamburg 1971; Reinhard Opitz, Über Faschismus-Theorien und ihre Konsequenzen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1970, S. 1267–1284. Vgl. beispielsweise Wolfgang Fritz Haugs kritische Haltung zum „mechanisch vereinfachten“ orthodox-marxistischen Faschismusbegriff in Haug, Ideologische Komponenten, S. 6; vgl. ferner Christl Hopf, Das Faschismusthema, S. 76–79. Zum Zusammenhang von Radikalisierung und Vereinfachung vgl. Sieg fried, Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich, S. 105; Wolfrum, Geschichte als Waffe, S. 112. In der Protest-Bewegung von 1968 war die Gleichsetzung der USA und der Bundesrepublik mit dem Nationalsozialismus gang und gäbe. Auf vielen Transparenten standen dementsprechend Slogans wie „USA=SA=SS“ oder „Keine neuen NS-Gesetze“. Vgl. dazu Schmidtke, German New Left and National Socialism, S. 182.

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Der marxistische Faschismusbegriff: Faschismus als Agent des Kapitals In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es im Zuge der Oktoberrevolution in Russland sowie der auf den Ausgang des Ersten Weltkrieges folgenden gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Entwicklungen in verschiedenen Staaten Europas zu einer Polarisierung der politischen Extreme. In Russland setzte sich der Bolschewismus mit aller Härte gegen seine Feinde durch und in Italien und Deutschland konnten die Faschisten und Nationalsozialisten mit einer Mixtur aus Gewaltausübung und Legalitätskurs in Abständen von gut zehn Jahren die Macht an sich reißen. In diesen Jahren entwickelte sich eine unter der Vorherrschaft der III. Kommunistischen Internationalen (Komintern), also unter der geistigen Führerschaft Moskaus stehende Faschismustheorie. Diese lässt sich zusammenfassen in der Definition, die auf dem V. Weltkongress der Komintern im Jahre 1924 ins Leben gerufen und danach immer wieder bestätigt wurde, bis sie schließlich 1933 ihre endgültige Ausformung erhielt. Sie besagt, dass im Faschismus „die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“63 zu sehen sei. Stalin fügte dem hinzu: „Der Faschismus ist eine Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokratie stützt. Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus.“64 Damit waren zwei Konstanten der marxistischen Faschismustheorie formuliert, die auch im Faschismusbegriff der 68er eine große Rolle spielten: Die These vom Faschismus als Agent des Kapitalismus und folglich des Bürgertums sowie die Verortung der SPD im Gefüge der faschistischen, sprich kapitalistischen Herrschaft. Beide Zusammenhänge finden sich bei führenden Theoretikern der Faschismusdiskussion der 68er wieder. So zum Beispiel bei dem Berliner Politikwissenschaftler Johannes Agnoli, der 1972 Professor für Politikwissenschaft an der FU Berlin werden sollte, nachdem er zu einem der einflussreichsten Denker der APO aufgestiegen war.65 Agnoli ging von einem Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft, Kapitalismus und Faschismus aus und meinte in der politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik faschistische Züge zu erkennen. Er argumentierte mit Bezug auf den italienischen Korporativismus der Faschisten, einer politisch organisierten, auf Einvernehmlichkeit statt Konflikt basierenden Zusammenarbeit verschiedener Interessengruppen innerhalb der Gesellschaft, dass die bundesrepublikanische Wirtschaftspolitik der Konzertierten Aktion und, im Allgemeinen, das Konzept der

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Protokoll des XIII. Plenums des EKKI 1933, S. 277, zitiert nach: Wippermann, Faschismustheorien, 1997, S. 21. Josef Stalin, Werke, Bd. 6, Berlin (Ost) 1952, S. 253. Vgl. Aly, Unser Kampf, S. 43.

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Sozialen Marktwirtschaft als tendenziell faschistisch zu bezeichnen seien.66 Die Gesellschaft der Bundesrepublik, so Agnoli 1972, sei dabei, „ein System zu reproduzieren, von dem heute nicht mehr davon gesprochen wird, dass es faschistisch sei, obwohl es vor einigen Jahren eindeutig hieß, dieses System sei gerade das Kennzeichen des faschistisch verstandenen Sozialfriedens [. . . ]. Das ist das Wesen des Korporativismus, das ist es, was kontinuierlich als irreversible Komponente vom Faschismus in unsere Gesellschaft hineingegangen ist.“67 In seinem 1968 in der Zeitschrift neue kritik veröffentlichten Aufsatz „Thesen zur Transformation der Demokratie und zur außerparlamentarischen Opposition“ führte Agnoli ferner aus, dass es die kapitalistische Herrschaftsklasse in der Bundesrepublik verstanden habe, die Arbeiterklasse in einem „pluralen System von Berufskategorien“ aufzulösen und somit „der objektiven Polarisierung der Gesellschaft von der subjektiven, organisatorischen und bewußtseinsmanipulativen Seite her entgegenzutreten.“68 Den Parteien der Großen Koalition, also auch der SPD, warf er vor, sie seien der politische Teil der herrschenden monopolkapitalistischen Klasse, sie seien „deren staatliche Funktion.“69 Damit hatte Agnoli, wenn auch in einer differenzierten Argumentation, die Thesen vom Zusammenhang zwischen Kapitalismus und faschistischer Struktur sowie vom Sozialfaschismus, also der Zusammenarbeit der Volksparteien CDU/CSU und SPD bei der Stabilisierung der kapitalistischen Herrschaft, aufgegriffen und weiterentwickelt. Die bürgerliche, in ihren Strukturen tendenziell faschistische Herrschaft, so empfahl er, müsse die APO mit dem „Druck der Straße“ beantworten.70 Seine Vorstellungen von diesem ‚Druck’ konkretisierte er freilich kaum. Er beließ es vielmehr bei Andeutungen: „Im übrigen bin ich der Meinung, dass Revolutionäre nicht Texte interpretieren, sondern die Verhältnisse verändern sollten“, so lautete – angelehnt an das berühmte in der Humboldt Uni zu Berlin ausgestellte Karl Marx-Zitat – seine Aufforderung an die Studenten.71

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Vgl. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie und andere verwandte Schriften, Hamburg 2004 (1967), S. 15–17, S. 24 und S. 59–61. Agnoli, Zur Faschismusdiskussion, S. 21. Johannes Agnoli, Thesen zur Transformation der Demokratie und zur außerparlamentarischen Opposition, in: neue kritik 47, 1968, S. 24–33, hier S. 26. Ebd., S. 27. Vgl. ebd., S.33. Ebd., S. 24.

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Sozialpsychologische Theorien des Neomarxismus: Faschismus, autoritärer Charakter und die Manipulation der Massen In zwei Pionierstudien aus den Jahren 1934 und 1945 betonten die Psychologen Wilhelm Reich und Erich Fromm, dass faschistische Herrschaft nicht allein auf kapitalistische Strukturen, sondern zu einem gewichtigen Teil auch auf unterdrückende und radikalisierende Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, besonders aber der bürgerlichen Familie zurückzuführen sei. Beide Theoretiker stellten einen Kausalzusammenhang zwischen bürgerlicher Familienstruktur und dem faschistischen Charakter her, der sich vor allem darin zeige, dass die in bürgerlichen Familien widernatürlich unterdrückte Sexualität und persönliche Freiheit das Streben des Einzelnen wecke, Macht über andere auszuüben und in übernatürlichen Mächten aufzugehen. Fromm spricht in diesem Zusammenhang vom autoritären Verhalten, durch das die Persönlichkeitsstruktur des Faschismus, oder besser gesagt, des Faschisten entstehe.72 Theodor W. Adorno und Sozialwissenschaftler der University of California griffen die Arbeiten Reichs und Fromms auf und versuchten mittels einer breit angelegten Untersuchung in der amerikanischen Mittelschicht Aussagen über die Beständigkeit und Verbreitung von autoritären, pseudokonservativen und potentiell faschistischen Persönlichkeitsstrukturen in der Gesellschaft zu treffen. Das Ergebnis der Studien zur Authorian Personality. Studies in Prejudice wurde 1950 veröffentlicht und besagte, dass in bürgerlichen Gesellschaften wie den USA der autoritäre Charakter, sich zeigend in Konformität, Gewaltbereitschaft, Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit weit verbreitet und dass diese Charakterdisposition durch Manipulation leicht zu entfesseln sei. Die bürgerliche Gesellschaft sei demnach anfällig für faschistische Herrschaft.73 Ähnlich argumentierte auch Herbert Marcuse, der den Faschismus als Produkt der liberal-kapitalistischen Gesellschaft beschrieb.74 Denn in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, so Marcuse, sei die Freiheit bedeutungslos geworden, Konsum sei zum wichtigsten Inhalt des Lebens aufgestiegen, der Einzelne sei völlig von den natürlichen Bedürfnissen und Inhalten des Lebens entfremdet worden – sozial befriedet durch Konsum und manipuliert durch die Medien und staatlichen Institutionen. 72 73

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Vgl. Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1971 (1934), S. 55, S. 67f. und S. 127f.; Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Zürich 1945, S. 24–28. Vgl. Theodor W. Adorno u.a., The Authoritarian Personality. Studies in Prejudice, New York 1950; vgl. ferner allgemein zu sozialpsychologischen Faschismustheorien Klaus Fritsche, Faschismustheorie: Konzeptionen, Kontroversen und Perspektiven, in: Franz Neumann (Hg.), Handbuch politische Theorien und Ideologien, Bd. 1, Opladen 1995, S. 229–290, hier S. 240–244. Vgl. Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, in: Wolfgang Abendroth (Hg.), Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt am Main 1967, S. 39–74, hier S. 47.

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Den Menschen der späten Industriegesellschaft beschrieb Marcuse 1964 in einem seiner Schlüsselwerke als „eindimensional“, er werde beherrscht durch Gruppen, die die Herrschaft über die Produktionsverhältnisse und den staatlichen Apparat innehaben.75 Der Krieg in Vietnam unter Federführung der USA erschien ihm als Beweis dafür, dass die USA das historische Erbe des Faschismus angetreten habe, wie er in einem Schreiben an Max Horkheimer bekannte.76 Der Faschismusforscher Wolfgang Wippermann hat diese Erklärungsversuche des Faschismus dahingehend kritisiert, dass sie zu sehr von individualpsychologischen Kriterien ausgehen und zu wenig über strukturelle Bedingungen des Faschismus aussagen. Ferner könnten sie nicht erklären, warum nicht alle Menschen, die in einer bürgerlichen Familienstruktur aufwachsen, zu Faschisten werden.77 Für die 68er war Marcuse wegen seiner sozialwissenschaftlich-neomarxistischen, gesellschaftskritischen Theorien dennoch eine zentrale Figur. Seine Thesen wurden aufgegriffen, weiterentwickelt und zu Schlagwörtern der APO umformuliert.78 Einen wesentlichen Beitrag in diesem Prozess leistete der in Argentinien geborene, an der FU Berlin promovierte Politikwissenschaftler Hugo Celso Felipe Mansilla. Dieser verglich in seiner 1968 erschienenen Neomarxistischen Kritik des Faschismus spätbürgerliche Gesellschaften wie die Bundesrepublik Deutschland mit dem Faschismus und kam zu dem Ergebnis, dass der wesentliche Unterschied zwischen beiden Phänomenen in der Verwendung terroristischer Mittel läge.79 In der Bundesrepublik seien solche nämlich nicht mehr notwendig, weil das Proletariat durch Manipulation, soziale Konzessionen sowie das Heben des Lebensstandards, also durch die Eindimensionalisierung des Menschen, ruhiggestellt sei. Die dafür notwendige Ausbeutung sei auf die Länder der Dritten Welt verschoben worden und Kapital sowie technischer Fortschritt werde von der herrschenden Klasse, den Eliten aus Wirtschaft, Rüstung und Bürokratie, missbraucht, um den Emanzipationsprozess der Massen zu stoppen.80 Mansilla argumentiert diesbezüglich, die Gefahr des Faschismus sei noch lange nicht gebannt, denn in spätbürgerlichen Staaten werde 75 76 77 78

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Vgl. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, München 2008 (1967), S. 38 und S. 262. Vgl. Susanne Kailitz, Von den Worten zu den Waffen. Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage, Wiesbaden 2007, S. 93. Vgl. Wippermann, Faschismustheorien, 1997, S. 78f. In einem 1967 vom Allensbach-Institut für die Bundesregierung erstellten Ergebnisbericht zur Umfrage „Student und Politik“ wird Marcuse als einer der zehn einflussreichsten Denker der Studenten-Bewegung beschrieben. Vgl. Institut für Demoskopie in Allensbach, Umfrage „Student und Politik“, Juli 1967, in: BArch, 136/3034, S. 26. Vgl. H.C.F. Mansilla, Faschismus und eindimensionale Gesellschaft, Neuwied 1971, S. 156; H.C.F. Mansilla, Neomarxistische Kritik des Faschismus, in: Berliner Zeitschrift für Politologie 9. Jg., H.2, 1968, S. 27–42, hier S. 41f. Bereits 1972 wurden Mansillas Schriften kritisch analysiert von Wippermann, Faschismustheorien, 1972, S. 39–42. Vgl. Mansilla, Faschismus und eindimensionale Gesellschaft, S. 157f.

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versucht, die „zur weiteren Emanzipation drängenden Momente, wie die objektive Vernunft und Selbstbestimmung, gewaltsam zu eliminieren, um die fundamentale Herrschaftsstruktur jener Gesellschaftsstruktur zu verewigen.“81 In der Bundesrepublik wie auch in den USA meinte er Tendenzen zu einem neuen Faschismus auf der Basis fortexistierender kapitalistischer Strukturen zu erkennen und legte die Hoffnung auf dessen Verhinderung, ähnlich wie Marcuse, auf die nicht integrierten und manipulierten Gruppen der Gesellschaft – also vor allem auf die Studenten.82 Für die Faschismusdiskussion der 68er waren die beiden genannten Ansätze, der marxistische und der sozialpsychologisch-neomarxistische Ansatz, die ausschlaggebenden Varianten des Faschismusbegriffs. Zwar gab es damals durchaus auch differenziertere Überlegungen zum Faschismus, zum Beispiel die von Wolfgang Abendroth angestoßene und im Argument geführte Diskussion der sozialistischen Rezeption von Karl Marx‘ Bonapartismustheorie zur Erklärung der Herrschaft verselbstständigter Exekutiven.83 Doch blieben diese Diskussionsansätze meist ohne Breitenwirkung, da sie sich auf dezidiert historische Phänomene konzentrierten und somit kaum zur aktuellen Gesellschaftskritik an der Bundesrepublik Deutschland herangezogen werden konnten. Der Faschismusbegriff der 68er war vielmehr eine Mixtur aus den oben angeführten Theorien. Das ist nur zu verständlich, musste er doch nicht nur zur theoretischen Diskussion gereichen, sondern, vor allem auf den großen Massen-Demonstrationen und Kongressen der 68er, auch eine Funktion als politischer Kampfbegriff erfüllen. Beispielhaft für die Verwendung dieses verschiedene Theorierichtungen vereinenden Faschismusbegriffs durch die 68er seien nun abschließend zwei Aussagen Rudi Dutschkes genannt. Dieser behauptete in einem Interview am 3. Januar 1968: „Faschismus ist kein Generationsproblem, sondern Ausdruck kapitalistischer Produktionsverhältnisse, die eine autoritäre Grundstruktur produ-

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Ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 188. Mansilla ging in diesem Zusammenhang sogar soweit, dass er behauptete, der Antisemitismus von einst hätte sich in der Bundesrepublik zu einer Anti-Haltung gegenüber der kritischen und revolutionären, nicht integrierten Bevölkerungsschicht (gemeint sind vor allem die sozialistischen Studenten) entwickelt! Vgl. ebd., S. 197. Vgl. beispielsweise August Thalheimer, Über den Faschismus, in: Wolfgang Abendroth (Hg.), Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt am Main 1967, S. 19–38; vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit Thalheimer Rüdiger Griepenburg/K.H. Tjaden, Faschismus und Bonapartismus. Zur Kritik der Faschismustheorie August Thalheimers, in: Das Argument Nr. 41, Faschismus-Theorien IV, 1966, S. 461–472.

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zieren. Dadurch wird auf Provokation aggressiv und emotional reagiert, anstatt sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen.“84 Diese Einschätzung führte er nur zwei Tage später auf einer Veranstaltung vor Schülern in Baden-Baden weiter aus: „Die wirkliche Gefahr für [. . . ] die Bundesrepublik ist nicht die NPD, ist nicht irgendeine kleine neonazistische Gruppe, sondern die Gefahr, die heute in diesem Lande vorhanden ist, ist der Faschismus in den Institutionen, ist der Faschismus in der Struktur [. . . ]. Der Faschismus steckt in unserer Struktur, die Struktur ist kapitalistisch und die haben wir zu stürzen.“85 Rudi Dutschkes Interpretation der politischen und sozioökonomischen Strukturen der Bundesrepublik der 60er Jahre erscheint aus heutiger Perspektive entrückt und hysterisch. Für viele seiner Mitstreiter in der APO galt sie jedoch als realistische sowie schlüssige Perspektive auf die „spätkapitalistische Gesellschaft“ der Bonner Republik. In der vorliegenden Studie wurde in drei Arbeitsschritten dargelegt, wie es zu solch einer Wahrnehmung kommen konnte und was viele 68er unter dem Begriff Faschismus verstanden. Abschließend werden nun die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst und thesenartig interpretiert: −

Der Faschismusbegriff spielte für die 68er eine entscheidende Rolle. Zum einen, weil er das innerfamiliäre Problem der unzureichenden individuellen Aufklärung des Nationalsozialismus aufgriff und somit in vielen Fällen als Katalysator für einen Generationenkonflikt zwischen den Nachkriegskindern der 40er sowie frühen 50er Jahre und ihren Eltern diente. Und zum anderen, weil er für die einflussreichen linksgerichteten Teile der APO ein Werkzeug darstellte, mit dem sich liberale Demokratien wie die Bundesrepublik sowie die USA kritisieren und darüber hinaus auch moralisch desavouieren ließen. Der Politikwissenschaftler Georg Fülberth spricht dementsprechend nicht von einem Faschismusbegriff der 68er, sondern von einem „Faschismusvorwurf“.86 Und

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Peter Johnson, Interview mit Rudi Dutschke über die Vorfälle an der Kaiser-WilhelmGedächtniskirche, 3. Januar 1968, digitalisiert in: http://www.dra.de/online/hinweisdienste/wort /2004/dezember24.html#hoerzitat, Quelle Nr. DRA Wiesbaden B5523158; ab Minute 1.20, (abgerufen am 17. Oktober 2011). Rudi Dutschke, Rede auf einer öffentlichen Protestveranstaltung in Baden-Baden vor demonstrierenden Schülern, 5. Januar 1968, digitalisiert in: http://www.dra.de/online/hinweisdienste/wort /2004/dezember24.html#hoerzitat, Quelle Nr. DRA Wiesbaden B009288958; ab Minute 0.58, (abgerufen am 17. Oktober 2011). Georg Fülberth, Stellvertreter Faschismus, in: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hg.), Hochschule und Demokratie. Debattenbeiträge zu 40 Jahren Studentenbewe-

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Götz Aly bringt die Sache auf den Punkt, wenn er sich erinnert: „Als Faschisten galten damals alle, die sich dem revolutionären Gedankengut versperrten oder gar dagegen angingen.“87 −

Innerhalb der bundesdeutschen Faschismusdiskussion der 60er Jahre existierten verschiedene Ansätze, den Faschismus zu analysieren und seine Entstehung zu erklären. Mit der voranschreitenden Radikalisierung der 68er-Bewegung kam es jedoch zu einer Vereinfachung der verschiedenen Theorien auf den Zusammenhang Kapitalismus gleich Faschismus. Diese Entwicklung hin zu einer genuin marxistischen Perspektive ermöglichte es, die Politik der Großen Koalition mit dem Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen und wirkungsmächtig zu diskreditieren. Hans-Ulrich Thamer ist deshalb beizupflichten in seiner These, dass die marxistische Faschismustheorie eine zentrale Rolle in der erregten Faschismusdebatte einnahm und diese mit der Zeit dominierte.88



Die durch Ernst Noltes Pionierstudien in der Bundesrepublik etablierte generisch-vergleichende Faschismusforschung wurde durch die Radikalisierung der Debatte im Zuge des 68er-Protests, besonders aber durch die immer weiter voranschreitende Dogmatisierung der Debatte hin zu einer marxistischen Faschismustheorie, aus der Bahn geworfen und glich nur wenige Jahre nach ihrem Aufstieg, wie Wolfgang Wippermann es treffend formuliert hat, einem „Scherbenhaufen“.89 Es ist vor allem der englischsprachigen Geschichts- und Politikwissenschaft zu verdanken, dass generisch-vergleichende Forschungsansätze außerhalb der Bundesrepublik weiterentwickelt wurden und somit heute für historische Studien parat stehen.90



Die Entwicklung der Faschismusdebatte der 68er sagt auch über die 68erBewegung im Allgemeinen etwas aus. Denn während zu Recht in vielen Veröffentlichungen auf die demokratisierenden und liberalisierenden Wirkungen der Bewegung hingewiesen wird,91 so offenbarte sich in der Verwendung vornehm-

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gung, Hochschulreform und außerparlamentarischer Opposition, BdWi-Studienheft 2008, S. 30– 32, hier S. 32. Aly, Unser Kampf, S. 92. Vgl. Thamer, Die NS-Vergangenheit, S. 39. Wippermann, Vom „erratischen Block“ zum Scherbenhaufen, S. 213. Vgl. zu dieser Entwicklung auch Wolfgang J. Mommsen, Weder Leugnen noch Vergessen befreit von der Vergangenheit, in: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 300–321, hier S. 310. Vgl. Wippermann, Faschismustheorien, 1997, S. 9. Beispielsweise bei Hans Vorländer, Verfassungspatriotismus als Modell, in: Thomas Hertfelder/Andreas Rödder (Hg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007, S. 110–120, hier S. 117.

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lich orthodox- und neomarxistischer Faschismusbegriffe durch die 68er das republikfeindliche Potential, das in ihr steckte. In dem Scheitern der politischen Ziele der 68er kann somit eine Entwicklung gesehen werden, die das politische System der Bundesrepublik als wehrhafte und stabile Demokratie ausgewiesen hat.92

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Vgl. zur These des politischen Scheiterns Aly, Unser Kampf, S. 185–210; Kraushaar, 1968 als Mythos, S. 34; Gilcher-Holtey, Die 68er-Bewegung, S. 115f.; Kurt Sontheimer, So war Deutschland nie, München 1999, S. 109–111; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 320.

Positionen der „68er“ zur nationalen Frage in Deutschland1 Matthias Stangel

1 Einführung „De-Nationalize: Europa – Deutschland – Köln. . . alles scheiße!“ Unter diesem Motto riefen Gruppierungen der extremen Linken zu einer Demonstration am 8. Mai 2009 in Köln auf und unlängst wurde am 2. Oktober in Bonn im Rahmen einer „Antinationalen Demonstration“ von einem linksradikalen Bündnis appelliert „Organisiert den Vaterlandsverrat!“2 In beiden exemplarischen Fällen schien sich damit nicht zuletzt durch den provokant-harschen Ton nur eine als weithin feststehend geltende These zu bestätigen: Die Ablehnung der Nation durch das (hier extrem) linke Milieu. Dabei gehören das politisch-historische Phänomen der „Nation“ sowie die darunter zu subsumierenden Begrifflichkeiten, wie beispielsweise „nationale Identität“ oder „nationale Frage“, ohnehin zu den im öffentlichen sowie wissenschaftlichen Diskurs umstrittenen und somit mitunter auch schwer definierbaren Kategorien.3 Doch 1

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Dieser Aufsatz basiert auf der demnächst erscheinenden Dissertation des Verfassers mit dem Arbeitstitel: „,. . . warum ich aber dennoch stolz bin.‘ Die Neue Linke und die Nation: Deutschlandpolitische Konzeptionen und Tendenzen in der außerparlamentarischen Opposition (APO).“ Zur Vertiefung der hier dargestellten Aspekte siehe diese ebenso thematisch breiter angelegte Untersuchung. Auf den Anfang Mai 2009 im Kölner Stadtgebiet vom Verfasser gesichteten Plakaten wurde unter zitiertem Motto zu einer – so wörtlich – „linksradikalen Demo“ vor dem Kölner Hauptbahnhof aufgerufen; die Appelle der Bonner Demonstration anlässlich des Tags der deutschen Einheit 2011 finden sich unter: www.friede-freude-eierkuchen.net/2-oktober/ (Abrufdatum: Oktober 2011). Siehe zu diesem Themenkomplex nur exemplarisch Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte, Nation und Nationalbewusstsein, in: Dies. (Hg.), Handbuch zur deutschen Einheit. 1949–1989–1999, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 572–578; vgl. ebenfalls Dieter Blumenwitz, Der Nationenbegriff und die Deutsche Frage, in: ZfP 3, 1985, S. 268–278; Tilman Mayer, Prinzip Nation. Dimensionen der nationalen Frage am Beispiel Deutschlands, Opladen 1987; Panajotis Kondylis, Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001, der dementsprechend ein eindeutiges Urteil fällt: „Unsachlich und ideologisch über die Nation zu reden ist die Regel und wird wohl die Regel bleiben.“ Vgl. S. 103. Speziell zum Begriff der „nationalen Identität“ vgl. Werner Weidenfeld, Die Identität der Deutschen. Fragen, Positionen, Perspektiven, in: Ders. (Hg.), Die Identität der Deutschen, München/Wien 1983, S. 13–49; Ders., Was ist nationale Identität?, in: Gerd Langguth (Hg.), Die Intellektuellen und die nationale Frage, Frankfurt am Main/New York 1997, S. 45–62; Hellmut Diwald, Deutschland – aber was ist es? Thesen zur nationalen Identität, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hg.), Was ist deutsch? Die Unvermeidlichkeit, eine Nation zu sein, Asendorf 1988, S. 51–62; dazu gegensätzlich: Amartya Sen, Die Identitätsfalle.

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in diesem Zusammenhang wird besonders die politische Linke gewissermaßen einheitlich, wenn auch in verschiedenen Abstufungen, als national enthaltsam bis anti-national wahrgenommen: Mit dieser Beobachtung werden gleichermaßen die parlamentarisch etablierten Ausformungen, wie etwa weite Teile der Parteien Die Grünen oder Die Linke, aber auch das extremere Erscheinungsbild des Schwarzen Blocks auf der Straße sowie in publizistischer Form die so genannte „antideutsche“ Fraktion im Dunstkreis der Zeitschriften bahamas, konkret oder jungle world identifiziert. Andererseits lässt sich in der historischen Gesamtperspektive ebenso feststellen, dass sich die politische Linke im Laufe des 19./20. Jahrhunderts sehr wohl der nationalen Frage angenommen und dabei zu weiten Teilen auch eine nationale Gesinnung aufgewiesen hat: So kann die Nationalstaatsbildung, die mit ihren politischen Ursprüngen in den Unabhängigkeits- und Revolutionsbewegungen im Grunde eine Emanzipationsbewegung sowie ein Ergebnis der Aufklärung war, in ihren Anfängen durchaus als eine progressive, eine „linke“ Bewegung charakterisiert werden.4 In konkret-politischer Hinsicht denke man zudem nur etwa an das zwischen dem linken und dem rechten Spektrum oszillierende, schillernde Phänomen des „Nationalbolschewismus“ in der Zwischenkriegszeit, die Programmerklärung der KPD Zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes vom August 1930 oder aber auch die nationale Haltung Kurt Schumachers in der deutschen Sozialdemokratie nach 1945. In theoretischer Hinsicht kann mit Blick auf die ideologischen Leitbilder der Linken ausgeführt werden, dass sich das Verhältnis des Marxismus-Leninismus zur Kategorie der Nation größtenteils als Sympathie mit Einschränkungen beschreiben lässt. Insbesondere sollten jedoch die im leninistischen Theorem angelegte antiimperialistische und antikoloniale Stoßrichtung oder die im emporstrebenden Maoismus verankerte Bedeutung der nationalen Selbstbestimmung die revolutionären, betont befreiungsnationalistischen Erhebungen in der Dritten Welt und damit auch die politische Agenda der späteren außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik beeinflussen.5

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Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, Bonn 2007; ferner Otto Depenheuer, Nationale Identität und europäische Gemeinschaft. Grundbedingungen politischer Gemeinschaftsbildung, in: Günter Buchstab/Rudolf Uertz (Hg.), Nationale Identität im vereinten Europa, Freiburg im Breisgau 2006, S. 55–74; Ekkehard Klausa, Deutsche Leitkultur – Wende eines Tabuthemas?, in: Hans-Jörg Bücking/Eckhard Jesse (Hg.), Deutsche Identität in Europa, Berlin 2008, S. 17–34; Volker Kronenberg, „Verfassungspatriotismus“ im vereinten Deutschland, in: APuZ 28, 2009, S. 41–46; Irene Götz, Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln/Weimar/Wien 2011. So Friedrich Dieckmann, Die Linke und die Nation. Aachener Ansichten, in: Merkur 9–10, 1994, S. 726–770, hier S. 768. Siehe dazu insbesondere Hans Mommsen, Arbeiterbewegung und Nationale Frage, Göttingen 1979; Peter Brandt/Herbert Ammon (Hg.), Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen

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Gleichzeitig wird beim Blick auf die bundesdeutsche Realität nach 1945 jedoch ebenso deutlich, dass die Diskreditierung und Pervertierung der nationalen Idee durch den Nationalsozialismus insbesondere die moralischen Vorstellungen der politischen Linken im Innersten berührten. Dies hat maßgeblich dazu geführt, dass das Ziel der nationalen Einheit immer weniger als progressive, linke Thematik angesehen wurde, sondern im Gegenteil bei der Linken als Irrweg sowie Gefährdung für Frieden und Sicherheit in Europa und darüber hinaus die Teilung Deutschlands vermehrt als verdiente Strafe der Geschichte für die nationalsozialistischen Verbrechen galten. Die damit einhergehende Distanz zu Begriffen wie „Nation“, „Heimat“, „Vaterland“, „Volk“ oder auch „Patriotismus“, die bis heute immer noch größtenteils pauschal dem rechten Lager zugeschrieben werden, sowie die Brandmarkung nationaler Forderungen als reaktionär haben dabei ihre extremste und pathologische Ausformung in den eingangs zitierten, aktuellen Beispielen erfahren. Bei jeder Untersuchung zu der übergreifenden Thematik Linke und Nation offenbart sich also generell ein von Ambivalenzen und offenen Fragen gekennzeichnetes Spannungsfeld. Von besonderem Interesse ist nun, wie sich speziell eines der bis heute umstrittensten Phänomene der Geschichte der Bundesrepublik, nämlich die Neuen Linken in der außerparlamentarischen Opposition – im gängigen Sprachgebrauch verkürzt auf die griffige Formel „die 68er“ – zu eben jenen, nicht minder umstrittenen, nationalen Kategorien verhielten. Hinsichtlich der außerparlamentarischen Opposition, kurz: APO, ist trotz der mittlerweile Regalkilometer füllenden Literatur festzustellen, dass aufgrund der anhaltend hitzig geführten Debatten, einer oftmals mangelnden Objektivität und den ständig neuen Erkenntnissen und Enthüllungen eine zu wünschende Historisierung der mit der Chiffre „1968“ verbundenen Ereignisse nach objektiven und wissenschaftlichen Kriterien noch nicht in vollem Umfang und mit einem endgültigen Ergebnis zu erwarten ist.6 Als wesentliche

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Einheit seit 1945, Reinbek bei Hamburg 1981; Jürgen Hofmann, Die Crux mit der Nation. Anmerkungen zu einer widersprüchlichen Beziehung, in: Marxistische Blätter 1, 2008, S. 3–11; Stefan Bollinger (Hg.), Linke und Nation. Klassische Texte zu einer brisanten Frage, Wien 2009. Siehe nur exemplarisch die konträren Positionen und Urteile von Albrecht von Lucke, 1968 oder die Emanzipation des Bürgers, in: NG/FH 3, 2008, S. 4–8; Ders., 1968 versus 1989. Der Deutungskampf um das Erinnern, in: Ä&K 140–141, 2008, S. 193–197; Oskar Negt, Demokratie als Lebensform. Mein Achtundsechzig, in: APuZ 14–15, 2008, S. 3–8; dazu gegensätzlich: Hartmuth Becker/Felix Dirsch/Stefan Winckler (Hg.), Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution, Graz 2004; Gerd Langguth, Mythos ’68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke. Ursachen und Folgen der Studentenbewegung, München 2001; Ders., 1968 – eine Kulturrevolution? Warnung vor einer Verklärung der Studentenrevolte, in: Academia 2, 2008, S. 93f.; Karlheinz Weißmann, Gründungsmythos in Gefahr. Falsche Fragen, falsche Ziele, falsche Verbündete: Die deutsche Linke und das Desaster von ’68, in: JF, 5. Juni 2009, S. 13. Angesichts der immer noch existierenden Grabenkämpfe fällt daher die Einschätzung, die Historisierung habe „in breiter Form“ begonnen, etwas zu optimistisch aus. Zu diesem zitierten Urteil siehe Franz-Werner Kersting, Jugendliche und linker Radikalismus nach „1968“, in: Frank Becker/Thomas Großbölting/Armin

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Erkenntnis bleibt festzuhalten, dass der Begriff „APO“ keineswegs eine einheitliche Organisation mit einem geschlossen Programm und homogenen Zielvorstellungen bezeichnet: Vielmehr handelte es sich um eine Sammelbezeichnung für eher netzwerkartig verknüpfte Gruppierungen aus dem gesamten linken Spektrum der Bundesrepublik, die außerhalb des etablierten Systems auf den primär bedeutsamen Themenfeldern Abrüstung, Notstandsgesetze, Hochschulreform und Vietnamkrieg spontan und informell miteinander kooperierten. Dabei vertraten die einzelnen Gruppen in voller Selbständigkeit eigene Positionen und bewegten sich in ihren Zielsetzungen zwischen Revolution und Reform.7 Bei der leitenden Frage nach einer Positionierung der Neuen Linken in der nationalen Frage sowie den deutschlandpolitischen Konzeptionen und Tendenzen in der außerparlamentarischen Opposition sollen im Folgenden der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und dann Rudi Dutschke im Mittelpunkt der Ausführungen stehen.8 Eine Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes für den hier vorgegebenen Rahmen ist einerseits angesichts des vielschichtigen Gesamtphänomens generell notwendig, andererseits erscheint aber gerade diese Auswahl aufgrund einer nicht von der Hand zu weisenden Relevanz schlüssig: Auch wenn die gängige Reduzierung der gesamten außerparlamentarischen Opposition auf die Tätigkeiten des SDS sowie eine

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Owzar (Hg.), Politische Gewalt in der Moderne. Festschrift für Hans-Ulrich Thamer, Münster 2003, S. 323–336, hier S. 328; treffender Christoph Kleßmann, 1968 in Ost und West. Historisierung einer umstrittenen Zäsur, in: Osteuropa 7, 2008, S. 17–30. Dieser stellt eingangs fest: „Anhänger, Sympathisanten und Kritiker der Achtundsechziger lassen sich in Diskussionen um 1968 oft eher von persönlichen Erfahrungen als von wissenschaftlicher Nüchternheit leiten.“ Hierzu wird verwiesen auf die übergreifenden sowie spezifischeren Darstellungen, die überwiegend eine fundierte Analyse und dabei ein vergleichsweise nur selten anzutreffendes Maß an Objektivität bieten: So etwa Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, 3 Bde., Hamburg 2003; Ders., 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000; Ders., Denkmodelle der 68er-Bewegung, in: APuZ 22–23, 2001, S. 14–27; Ders., Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008; Ders., Die Achtundsechziger, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 20/20008, S. 92–109; ebenso Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Frankfurt am Main 2004; Ders., Der Muff von tausend Jahren. Ein Aufstand gegen die Kriegsgeneration?, in: Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hg.) 1968. Die Revolte, Frankfurt am Main 2007, S. 139– 160; Ders., Rotwelsch und Zeichensprache, in: Andreas Schwab/Beate Schappach/Manuel Gogos (Hg.), Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung, Frankfurt am Main 2008, S. 262–270; siehe auch noch Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998; Dies., Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2008. Mit dem Begriff der „nationalen Frage“ ist bis zur Wiedervereinigung, stark abgekürzt, die spezielle Situation der Teilung Deutschlands nach 1945 umschrieben worden. Folglich umfasste der Begriff der „Deutschlandpolitik“ die nationale Frage und damit einhergehend jenen zwischen Außen- und Innenpolitik angesiedelten Bereich politischer Konzeptionen und Aktionen, der sich mit den ungelösten rechtlichen, symbolischen und politischen Problemen befasste, die sich aus der Teilung Deutschlands sowie der Existenz zweier deutscher Staaten zwischen 1949 und 1990 ergaben. Siehe dazu Wilhelm Bleek, Deutschlandpolitik, in: Uwe Andersen/Wichard Woyke, Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1997, S. 144–147; Heinrich Potthoff , Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990, Berlin 1999.

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begriffliche Begrenzung des Gesamtphänomens auf eine reine „Studentenbewegung“ zu kurz greifen: Die Studentenbewegung war ein gewichtiger Strang im gesamten Überbau der APO und dieser studentische Teil wurde wiederum maßgeblich vom SDS dominiert – also der SDS als „Kerntruppe der Neuen Linken“ (Schmidt) und damit in der Gesamtheit als Vorreiter und Motor der Bewegung.9 Die Bedeutung Rudi Dutschkes wiederum ergibt sich zum einen daraus, dass dieser bis heute als Führungsperson der Studentenproteste, also als der „68er“ schlechthin und gewissermaßen als die personifizierte Revolte wahrgenommen wird. Zum anderen haben sich unlängst widerstreitende Positionen in der Forschung herauskristallisiert, die eine eingehendere Betrachtung nach dem Maßstab der wissenschaftlichen Objektivität geradezu herausfordern: Für die eine Seite steht „1968“ bis heute für bedingungslosen Internationalismus und eine sich verfestigende negative Haltung zur Nation auf der Linken, für die andere Seite (hier sind insbesondere die so genannten „Renegaten“ zu nennen) war gerade die Galionsfigur Dutschke, wenn nicht sogar gleich die gesamte APO, erkennbar nationalrevolutionär ausgerichtet.10

2 Zu den deutschlandpolitischen Zielsetzungen des SDS Die Auseinandersetzung über die Deutschlandpolitik spielte bereits eine gewichtige Rolle im Streit des SDS mit der SPD Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre, an dessen Ende die Trennung per Unvereinbarkeitsbeschluss im November 1961 stand: Hier zeigte sich etwa, dass einerseits trotz der noch nach außen vertretenen restriktiven Auffassung des Bundesvorstandes gegenüber Kontakten zur DDR nicht gänzlich verhindert werden konnte, dass Mitglieder oder Gruppen des SDS bereits in den 1950er Jahren Verbindungen zur Freien Deutschen Jugend (FDJ) unterhielten oder diese intensiv suchten. Andererseits reichte die Nähe zum orthodoxen Kommunismus der DDR aber auch bis in den Bundesvorstand, was insbesondere im Zuge der gelungenen Unterwanderung von Anti-Atom-Kongressen im Jahre 1959 durch

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Vgl. die zeitgenössische Einschätzung bei Giselher Schmidt, Hitlers und Maos Söhne. NPD und Neue Linke, Frankfurt am Main 1969, S. 167, und ferner das retrospektive Urteil von Kraushaar, Achtundsechzig, S. 291. Zur Veranschaulichung der gegensätzlichen Positionen vgl. exemplarisch den Aufruf „Nationalisten waren wir nie!!“ ehemaliger SDS-Mitglieder vom 15. Februar 1999, in: www.isioma.net (Stand: Oktober 2010); dagegen Günter Maschke/Horst Mahler/Reinhold Oberlercher, Kanonische Erklärung zur Bewegung von 1968, in: Staatsbriefe 1, 1999, S. 16f.; Horst Mahler/Franz Schönhuber, Schluss mit dem deutschen Selbsthass. Plädoyers für ein anderes Deutschland, Berg am Starnberger See 2000; zusammenfassend Wolfgang Kraushaar, Die neue Unbefangenheit. Zum völkischen Nationalismus ehemaliger 68er, in: Mittelweg 36, Nr. 2, 1999, S. 61–72.

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eine Gruppe um die Zeitschrift konkret und die diesbezüglichen Verstrickungen des damaligen SDS-Bundesvorsitzenden Oswald Hüller deutlich werden sollte.11 Auch wenn deshalb keineswegs von einer kommunistischen Steuerung des gesamten SDS gesprochen werden kann, so blieben aber ebenso klare Stellungnahmen des Bundesvorstandes an anderer Stelle bezeichnenderweise aus: Beispielsweise lehnten zwar einzelne Gruppen und Mitglieder des SDS in scharfer Form den Mauerbau am 13. August 1961 ab, doch zum einen kam es zu keiner eindeutigen Verurteilung durch den Bundesvorstand. Zum anderen ist bemerkenswert, dass sich gerade der unmittelbar von der Teilung betroffene Landesverband in Berlin diesen Protesten nicht anschloss, sondern etwa in seinem Jahresbericht 1961 unter dem Punkt „Personalien“ lapidar vermerkte: „Norbert Adrian, der langjährige Landesvorsitzende des SDS, kann seit dem 13. 8. keine Veranstaltung des SDS mehr besuchen; er wohnt in Ostberlin.“12 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Aktenfunde aus dem Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv zudem belegen, dass der Berliner Landesvorsitzende der Jahre 1961/62 und spätere Angehörige des Bundesvorstandes, Klaus Wrobel, in der Zeit von 1960 bis mindestens 1963 ebenfalls eine intensive Verbindung zu den Organen der DDR unterhalten hatte.13 In den Jahren 1959–1962 erarbeite sich der Gesamtverband eine selbständige Position, aber nicht nur indem er besonders durch die sich bereits andeutende Hinwendung zur Neuen Linken sein systemoppositionelles Profil schärfte, sondern da er sich zu der Zeit gerade auch in der Verteidigungs- und Deutschlandpolitik durch zunehmend eigene Konzeptionen von der Sozialdemokratie unterschied: In dieser von Willy Albrecht bezeichneten „Umbruchperiode“14 markierte insbesondere die 16. Delegiertenkonferenz im Oktober 1961 einen maßgeblichen Wendepunkt in der offiziellen 11

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Zur deutschlandpolitischen Haltung des SDS im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der SPD siehe grundlegend „Grundsatzerklärung des SDS zu Ost-West-Kontakten (angenommen auf der X. Delegiertenkonferenz in Göttingen vom 21. bis 23. Oktober 1955)“, in: AdsD. SPD-PV. Abt. Jugend u. Bildung, Ref.: Hochschulfragen. Box: 1989, Titel: SDS 1968, 1969/70; zum Versuch des Bundesvorstandes, eine restriktive Haltung gegenüber den Gruppen einzunehmen, siehe z.B. BV des SDS (Hg.), „Gesamtdeutsche Arbeit“, in: Rundschreiben Nr. 7 vom 22. März 1961, S. 5. Der Einfluss der konkret-Gruppe sowie insbesondere auch die enge Beziehung Hüllers zu dieser wird anhand der Akten dargestellt bei Bettina Röhl, So macht Kommunismus Spaß! Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Akte Konkret, Hamburg 2006; zuletzt ebenfalls bestätigt vom ehemaligen Herausgeber Klaus-Rainer Röhl, Mein langer Marsch durch die Illusionen. Leben mit Hitler, der DKP, den 68ern, der RAF und Ulrike Meinhof, Wien 2009. Aus SDS LV Berlin (Hg.), Jahresbericht 1961, in: APO-Archiv. SDS LV Berlin. Ordner: SDS „Kränzchen“ 61/62. Die Aktennotiz des Zentralrates der FDJ „Notiz über Klaus Wrobel“ (verfasst wohl 1963/64) findet sich in: SAPMO-BArch. DY 24, 117717; siehe dazu auch den von „Klaus S.“ verfassten „Bericht über eine Aussprache zwischen unserem Jugendfreund Klaus S., Klaus Wrobel und Horst Mahler am 22. Mai 1962“, in: Ebd. Dazu Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn/Bad Godesberg 1994; zur Ge-

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Berlin- und Deutschlandpolitik des SDS. Denn hier erklärte der Bundesvorstand im Beschlussprotokoll: „Die Hoffnung auf die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 und – in der heutigen Situation – auch auf die Wiedervereinigung sind gefährliche Illusionen, die den Nährboden für einen künftigen Nationalismus bilden.“15 Seine neuen, eigenen Ziele formulierte der SDS zu diesem Zeitpunkt zwar noch verpackt in eine Kritik an der Deutschlandpolitik der Bundesregierung: Indirekt drangen aber schon die Forderungen nach einer Änderung des Berlin-Status, einer de-factoAnerkennung der DDR und der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze durch.16 Diese Positionen explizierte der Studentenbund dahingehend, dass er zum einen immer öfter nicht mehr von der SBZ, sondern von der DDR sprach (natürlich ohne Anführungszeichen). Zum anderen trat der SDS seit dem Jahr 1963 nun auch offen für die Anerkennung der DDR und der innereuropäischen Nachkriegsgrenzen ein und plädierte dafür, dass diese Forderungen nicht länger in der politischen Diskussion tabuisiert werden dürften.17 Entsprechend wurden aus den Reihen des SDS fortan die Deutschlandpolitik der Bundesregierung, insbesondere die so genannte „Politik der Stärke“ gegenüber der DDR wie auch die Forderungen nach einer Rückführung der deutschen Ostgebiete nach 1945, als „Großmachtchauvinismus“ verurteilt. Exemplarisch drückten sich diese Positionen des Studentenbundes etwa in einer abweisenden Haltung gegenüber den Vertriebenenverbänden oder auch besonders deutlich im Zuge der wiederkehrenden Kritik des SDS am 17. Juni als nationalem Gedenktag aus.18

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schichte des SDS vgl. ebenso Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von Helmut Schmidt bis Rudi Dutschke, Essen 2007. Aus Beschlussprotokoll der XVI. o. DK des SDS, in: AdsD. SPD-PV, hier Punkt II.3, S. 2. Zur deutschlandpolitischen Positionierung des SDS zu diesem Zeitpunkt vgl. insbesondere Michael Schumann, Zur Situation des SDS 1961. Referat, in: APO-Archiv. Ordner: SDS 61/62. Diese Ansichten des SDS aus dem Jahre 1963 finden sich in Form einer öffentlichen Verlautbarung z.B. in SDS-BV Pressereferat: Pressemitteilung vom 23. März 1963. Der SDS reagierte hier zustimmend auf vorausgegangene Ausführungen des Vorsitzenden der britischen Labour Party, Herold Wilson, zu einer Anerkennung der DDR sowie der Oder-Neiße-Grenze. So hielt der SDS etwa „die von den Parteien genährte Hoffnung auf Rückkehr in die alte Heimat für eine gefährliche Illusion“. Aus einem Brief von Urs Müller-Plantenberg, Ulrich K. Preuß, Andreas Lennert an die Redaktion der Zeit vom 28. April 1964, in: APO-Archiv. SL UMP, Ordner: SDS II. Jan. 64 – Dez. 65; zur Kritik des SDS bzw. einzelner Gruppen am offiziellen „Tag der deutschen Einheit“ vgl. etwa SDS-Gruppe Köln (Hg.), Zum 17. Juni – eine polemische Betrachtung, in: neues. Mitteilungen des SDS (Gruppe Köln) 4, 1963, S. 1; SDS an der Universität Bonn (Hg.), Offener Brief zum Tag der deutschen Einheit vom 20. August 1966, in: APO-Archiv. SL Léfèvre, Ordner: SDSDokumente 1; HS, „Tag der deutschen Einheit“: Tag der Angeleimten, in: Oberbaumblatt, Nr. 2 vom 17. Juni 1967, S. 1.

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Im bereits angesprochenen Jahr 1963 hatte der SDS auf der 18. DK im September die wegweisenden Regelungen über die Kontakte zur DDR getroffen. Im abschließenden Protokoll wurden die Entscheidungen dokumentiert, „daß der SDS sich konkrete Kenntnisse über die gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation des Ostblocks und vor allem der DDR aneignet und sich kritisch mit den dort geschaffenen Verhältnissen auseinandersetzt. [. . . ] Für einen politischen Studentenverband dürfen sich die ‚Ostkontakte‘ nicht auf ‚menschliche Kontakte‘ beschränken. [. . . ] Bei Kontakten mit der Studentenschaft der DDR können Instanzen der FDJ nicht umgangen werden. Kontakte mit der FDJ bedeuten nicht die Billigung ihrer Politik“.19 Diese Festlegungen korrespondierten mit dem Selbstverständnis des Gesamtverbandes als kritischer Studentenbund, der sich seine Positionen mittels Information und Diskussion erarbeiten wollte. Gleichzeitig wollte der Bundesvorstand hiermit aber auch eine verbindliche Grundlage für Kontakte, Treffen und Seminare mit dem ostdeutschen Jugendverband auf der Gruppen- und Bundesebene schaffen. Dies spiegelte die Bemühungen des Vorstandes wider, in der Deutschlandpolitik des Gesamtverbandes eine klare Linie zu zeigen und insbesondere auch gegenüber dem Gebaren einiger Gruppen, die vermehrt Kontakte zur DDR in Eigeninitiative suchten, die Oberhand zu behalten. Hier zeigte sich, dass die Verbandsspitze schon immer mit der generellen Eigenständigkeit der Gruppen und Landesverbände sowie speziell auf dem Felde der Deutschlandpolitik mit den diesbezüglich ganz eigenen Motiven des traditionalistischen Flügels zu ringen hatte. Insgesamt verdeutlichten die kontinuierliche Akzeptanz der Zweistaatlichkeit und die damit verbundene Forderung nach direkten Kontakten zwischen den deutschen Staaten sowie insbesondere nach einer Anerkennung der DDR zweierlei: Zum einen eine intensive Beschäftigung des SDS mit deutschlandpolitischen Themen bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre und damit eben sehr wohl auch ein Interesse an der nationalen Frage. Allerdings gab der Studentenbund auf diese Frage seine eigenen Antworten, die mehrheitlich nicht mehr die Option einer Wiedervereinigung beinhalteten. Zum anderen zeigte sich damit der Weg eines in die Deutschlandpolitik der Sozialdemokratie eingebundenen Studentenverbandes hin zur unabhängigen „Anerkennungspartei“. Auch wenn dabei im Grunde wesentliche Punkte der ostund deutschlandpolitischen Konzeptionen der späteren sozialliberalen Bundesregie19

Aus dem Beschlussprotokoll der XVIII. ordentlichen DK des SDS, in: BV des SDS (Hg.), SDSInformationen, Nr. 4 vom 10. Oktober 1963, S. 5f.

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rung vorweggenommen wurden, trafen diese Profilierungsversuche bis weit in die 1960er Jahre noch auf den Widerstand gerade auch der Sozialdemokraten. Auf dieser Basis vollzogen sich die nun offiziellen Kontakte zwischen einzelnen Gruppen des SDS, aber auch zwischen dem Bundesvorstand und der FDJ: Speziell zur Deutschlandpolitik fand im Dezember 1966 ein gemeinsames Seminar beider Verbände statt. Dieses erste Aufeinandertreffen auf Bundesebene und insbesondere auch die immer wieder aufgetretenen Unstimmigkeiten im Vorfeld dokumentierten in mancher Hinsicht das Aufeinanderprallen zweier Welten: Auf der einen Seite stand ein ostdeutscher Jugendverband, der einzig die deutschlandpolitischen Konzeptionen der SED vertrat und sich erhoffte, den einflussreichen SDS im Westen für ebendiese Ziele zu gewinnen. Auf der anderen Seite befand sich ein Studentenbund, der viel Wert auf seine Unabhängigkeit legte, zudem überwiegend ein anderes Sozialismusverständnis als die Vertreter der DDR hatte und darüber hinaus auch deutlich die Akzent- und Interessenverschiebung in seiner Programmatik erkennen ließ: So erklärte hier der Bundesvorsitzende Reimut Reiche in seinem Einleitungsreferat, dass „uns im SDS die ‚Deutschlandpolitik‘ als Wiedervereinigungspolitik nicht mehr interessiert.“20 Damit unterstrich der Bundesvorstand des SDS seine Absage an eine Wiedervereinigung nach den Mustern der offiziellen Politikvorstellungen und dies beinhaltete automatisch auch die Ablehnung des Wiedervereinigungsmodells der DDR: Eine Einheit wurde, wenn überhaupt, nur noch nach einer grundlegenden Revolutionierung beider deutscher Staaten auf der Basis eines vom SDS vertretenen Sozialismus in Betracht gezogen.21 Die Ergebnisse und Folgen dieses Bundesseminars 1966 sind differenziert zu betrachten: Zwar lässt sich einerseits durchaus feststellen, dass die Thematik der nationalen Frage für die Führungsschichten des SDS seit Mitte der 1960er Jahre an Brisanz verloren hatte, da in ihren Augen die wesentlichen deutschlandpolitischen Punkte geklärt waren: Für den Gesamtverband war die Wiedervereinigung erkennbar keine aktuelle Option mehr und eine zukünftige Deutschlandpolitik konnte daher allenfalls noch die Regelung der deutsch-deutschen Beziehungen auf der Ebene zweier getrennter Staaten betreffen. Zudem war aber auch insgesamt das Interesse an diesen Fragen rapide geschwunden, da die politischen Entwicklungen in Asien und Lateinamerika sukzessive die Aufmerksamkeit der Mehrheit im SDS auf sich zogen. 20

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Aus dem Einleitungsreferat von Reimut Reiche auf dem Seminar des SDS mit dem Zentralrat der FDJ am 9./10. Dezember 1966 in Frankfurt am Main, in: APO-Archiv. SDS-BV, Ordner: SDS/FDJ Deutschlandpolitik, Moskau-Reise 1965, 1964–68. Diese Position explizierte insbesondere der 2. Bundesvorsitzende Peter Gäng in seinen Ausführungen auf diesem Seminar (siehe ebd.); vgl. auch eine Zusammenfassung der gegensätzlichen Positionen in Bernhard Blanke (Hg.), Ende und Anfang einer sozialistischen Deutschlandpolitik – das Seminar von FDJ und SDS, in: nk 40, 1967, S. 37–47.

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Doch andererseits wurde infolgedessen die Beschäftigung mit deutschlandpolitischen Themen mitnichten vollends eingestellt und ebenso wenig wurden die Kontakte zur DDR abgebrochen, weder auf Bundes- und schon gar nicht auf Gruppenebene des SDS. Beispielsweise wurde noch entgegen der gängigen Darstellung in der Forschungsliteratur sehr wohl ein weiteres Bundesseminar im Juli 1967 zwischen dem SDS und der FDJ veranstaltet.22 Weitere Seminare auf oberster Ebene waren zwar auch danach noch konzipiert worden, scheiterten aber daran, dass sich als Folge der Niederschlagung des Prager Frühlings am 21. August 1968 das Verhältnis zwischen beiden Seiten doch merklich abkühlte.23 Insgesamt zeigte sich im gesamten Verlauf der 1960er Jahre ein schillerndes Verhältnis zwischen beiden Organisationen, bestehend aus mitunter harscher Kritik des SDS an der FDJ sowie Konflikten auf gemeinsamen Veranstaltungen, einer anschließenden Abkühlung der Beziehungen und plötzlich doch wieder zustande gekommenen Briefwechseln sowie weiteren Kontakten. Dabei hatte beispielsweise auch die ansonsten deutlich antiautoritär und damit gegenüber der DDR kritisch eingestellte SDS-Gruppe in West-Berlin um Rudi Dutschke trotz aller Differenzen teilweise eng mit der dortigen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands–Westberlin (SED–W, ab 1969: SEW) zusammengearbeitet und ebenfalls materielle Hilfe aus der DDR angenommen, so etwa bei der Organisation ihrer Demonstrationen sowie im Rahmen des Vietnamkongresses 1968.24 22

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So behauptet etwa Wolfgang Kraushaar irrtümlicherweise, dass im Dezember 1966 „der SDSBundesvorstand [. . . ] ein erstes (und letztes) gemeinsames Seminar“ mit der FDJ durchführte. Aus Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, S. 101 [Hervorhebung, M.S.]; zur organisatorischen und inhaltlichen Absprache des Seminars, welches vom 25.–28. Juli 1967 in Berlin stattfand, siehe z.B. einen Brief von Reimut Reiche an Horst Kapson vom 30. April 1967, in: APO-Archiv. SDS-BV. Ordner: SDS/FDJ Deutschlandpolitik, Moskau-Reise 1965, 1964. Zu den Ereignissen und anschließenden unterschiedlichen Einschätzungen vgl. u.a. ZAG der FDJ (Hg.), Information über das Seminar zwischen der FDJ und dem SDS vom 25.–28.7. 67 in Berlin, in: SAPMO-BArch. DY 24, 117938; SDS-BV (Hg.), Rundschreiben, Nr. 7 – 67/68 vom 7. Januar 1968. Hier zeigte sich aber auch, dass die Ereignisse in der CSSR ebenfalls noch einmal prinzipiell den Graben zwischen den antiautoritären Kräften und den Parteigängern der sozialistischen Länder sowie den Befürworten ihrer Politik in- und außerhalb des SDS vertieften. Vgl. dazu etwa Olaf Ihlau, KP-Flügel im SDS strebt Bündnis mit Arbeitern an. NRZ-Gespräch mit dem SDSVorstandsmitglied Lederer, in: NRZ, 19. September 1968, S. 7; Hartmann, Bernd [= Erster Vorsitzender des SDS NRW, M.S.], Die Ereignisse in der CSSR aus marxistischer Sicht, Abdruck in: Neues Deutschland, 11. Oktober 1968; Peter Weiss/Erich Fried, Die Entwicklung hat auch ihr Gutes, in: konkret, 10/1968, S. 12ff.; demgegenüber eindeutig kritisch Dutschke, so exemplarisch Rudi Dutschke, Reale Kriege und realer Sozialismus. Wie die Solidarität um jeden Preis uns um die Waffe der Kritik beraubt, in: links 109, 1979, S. 10ff. In seinen retrospektiven Äußerungen bekannte sich etwa Dutschke zu den Bündnissen mit den Anhängern der DDR in den 1960er Jahren: „In Sachen Vietnam plädierte ich im SDS für eine Zusammenarbeit mit der Westberliner SED und FDJ, ohne jemals mit den wesentlichen Differenzen hinter dem Berg zu halten.“ Aus Rudi Dutschke, Offener Brief für Wolf: Kritik und Selbstkritik, in: Thomas Rothschild (Hg.), Wolf Biermann. Liedermacher und Sozialist, Reinbek bei Hamburg

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Ein Fazit zu den deutschlandpolitischen Konzeptionen und Positionierungen des SDS muss also entsprechend berücksichtigen, dass die hier präsentierten Entwicklungen und Ergebnisse stets auch differenziert zu betrachten sind, da sich in ihnen immer auch die unterschiedlichen Motive eines heterogenen Studentenbundes widerspiegeln. Pauschale Urteile sind daher, wie schon im Falle der ebenfalls äußerst vielschichtigen APO, in den allermeisten Fällen nicht zutreffend: So ist einerseits die kontinuierliche Akzeptanz der Zweistaatlichkeit durch den SDS nicht pauschal mit der Annahme eines durchweg positiven DDR-Bildes innerhalb des Studentenbundes gleichzusetzen. Denn insbesondere die Antiautoritären verbanden die in diesem Zuge angestrebten Kontakte zur DDR mit der Hoffnung auf eine Revolutionierung der jeweiligen Gesellschaftssysteme in beiden deutschen Staaten – eine Vorstellung, die die Vertreter der DDR und die antiautoritären Studenten, entgegen so mancher Wahrnehmung aus dieser Zeit, zu sich misstrauisch bis feindlich beobachtenden Kontrahenten werden ließ. Hier zeigte sich, dass der Wandel der deutschlandpolitischen Konzeptionen keineswegs mit einer vorbehaltlos positiven Beurteilung der DDR einherging, sondern der Mehrheits-SDS nahm für sich das Recht einer Kritik von links an der DDR in Anspruch. Andererseits kann trotz dieser Beispiele einer kritischen Haltung zur DDR ebenso wenig in der Retrospektive behauptet werden, der „ganze“ SDS sei auf einem strikten Anti-DDR-Kurs gewesen.25 Hierbei handelt es sich ebenso um eine pauschal getroffene Fehleinschätzung, da in diesem Fall nicht nur allzu leicht die vielfach innerhalb der westdeutschen Linken generell anzutreffenden Befindlichkeiten ignoriert werden26 , sondern ganz speziell wiederum komplett die Haltung und Konzeptionen des traditionalistischen Flügels im SDS ausgeblendet werden. Dieser identifizierte sich seit jeher mit dem leninistischen Parteienprinzip, trat für eine Einheitsfront mit den Gewerkschaften und den Arbeiterjugendorganisationen ein und ließ deutliche Sympathien für das politische System der DDR erkennen. Nach

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1976, S. 67–85, hier S. 70; dazu übergreifend Olav Teichert, „Mit APO immer, gegen Sowjets nimmer.“ Über die Beziehungen zwischen der SED–W und der APO in West-Berlin, in: Eckhard Jesse/Hans-Peter Niedermeier (Hg.), Politischer Extremismus und Parteien, Berlin 2007, S. 425– 444; konkret zur Unterstützung des Vietnamkongresses im Februar 1968 durch die DDR siehe N.N., „Die Pyrotechnik kam aus der DDR“. Interview mit Günter Amendt, in: konkret 5, 2008, S. 17. Solche falschen Pauschalurteile finden sich z.B. bei Peter Unfried, „Wir alle diskutierten die Stadtguerilla“. Interview mit Klaus Theweleit, in: taz journal, 1/2006, S. 21–33, hier S. 30; Von Christoph Dieckmann, Geliebte Kommunardenschar!, in: Zeit Geschichte 2, 2007, S. 70–78, hier S. 74. So räumt ehrlicherweise das ehemalige SDS-Führungsmitglied Christian Semler ein: „Mochte die DDR auch potthässlich, obrigkeits- und staatsfixiert, unterdrückerisch und noch dazu ökonomisch notorisch uneffektiv sein – sie war wenigstens antifaschistisch. Deshalb galt sie oft unterm Strich als ‚das bessere Deutschland‘ [. . . ]“. Aus Christian Semler, 1968 im Westen. Was ging uns die DDR an?, in: APuZ 45, 2003, S. 3–5, hier S. 4.

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der kontinuierlichen Hinwendung des Gesamtverbandes zum Internationalismus seit 1966 nutzten die Traditionalisten nun entsprechend noch verstärkter das Vakuum in der Deutschlandpolitik für die Fortführung der eigenen Linie und besonders der Forcierung ihrer Kontakte in die DDR.27 Jedoch gab es innerhalb des Studentenbundes auch Ausnahmen, bei denen sich die bisher angesprochenen Sachverhalte in vielerlei Hinsicht noch einmal vollkommen anders darstellten. Hierbei stößt man unweigerlich auf die diesbezüglichen Positionierungen des wohl prominentesten SDS-Mitglieds: Rudi Dutschke.

3 Die Bedeutung nationaler Elemente in den sozialistischen Konzeptionen Rudi Dutschkes Während der SDS mit großer Mehrheit seine deutschlandpolitische Position von einer strikten Befürwortung der deutschen Einheit aus den 1950er Jahren zu einer sukzessiven Akzeptanz der Zweistaatlichkeit in den 1960er Jahren gewandelt hatte, ist es kein Geheimnis, dass für Dutschke die deutsche Teilung ein ungelöstes Problem blieb, gerade auch aus sozialistischer Perspektive.28 So stellte er gerade zum eingangs beschriebenen, vielschichtigen Verhältnis der Linken zur Nation fest: „Kann ich ‚Marxist‘ sein, ohne mir zugleich bewußt zu sein, daß ich Deutscher bin? So stellt sich mir die Frage öfter“.29 Dass die Beschäftigung mit

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Hier soll nur beispielhaft auf die Positionierung der Bonner SDS-Gruppe verwiesen werden, welche die Bündnisstrategie einer Einheitsfront nach leninistischem Prinzip propagierte, die realsozialistischen Länder sowie insbesondere das System der DDR gegen die „romantische Schwärmerei“ ihrer antiautoritären Genossen für den antikolonialen Kampf in der Dritten Welt verteidigte und dementsprechend auch die Konzeptionen von Rudi Dutschke scharf attackierte; siehe dazu etwa die „Thesen zur politischen Ortsbestimmung der SDS-Gruppe Bonn (Beraten und angenommen am Wochenendseminar der Gruppe Bonn in Kendenich, 16./17. September 1967)“, in: SAPMO-BArch. DY 24, 119877. Die somit nur konsequente Annäherung zwischen den Traditionalisten im SDS und den Vertretern der DDR sowie die in diesem Rahmen inhaltlichen Überschneidungen können exemplarisch anhand eines gemeinsamen Seminars in Markgrafenheide (29. Mai–11. Juni 1967) nachverfolgt werden; vgl. das anschließend positive Urteil der FDJ über die Haltung der Bonner Gruppe und insbesondere über ihren Wortführer Hannes Heer in „Einschätzung der westdeutschen Studenten, die am Seminar in Markgreifenheide teilgenommen haben“ vom 15. Juni 1967, in: SAPMO-BArch. DY 24, 117938, S. 12. Zur bisherigen Untersuchung der deutschlandpolitischen Position Dutschkes siehe insbesondere Wolfgang Kraushaar, Rudi Dutschke und die Wiedervereinigung. Zur heimlichen Dialektik von Internationalismus und Nationalismus, in: Mittelweg 36, Nr. 2, 1992, S. 12–48; Ders., Leiden an der deutschen Frage, in: taz, 14./15. Juni 2003, S. 8; Gretchen Dutschke-Klotz, Rudi Dutschke – „ein deutscher Sozialist“, in: Mittelweg 36, Nr. 2, 1992, S. 49–56; Rüdiger Hentschel, Zwischen Berliner Kommune und Berliner Republik. Deutschlandpolitische Konzepte bei Rudi Dutschke, in: Richard Faber/Erhard Stölting (Hg.), Die Phantasie an die Macht? 1968 – Versuch einer Bilanz, Berlin/Wien 2002, S. 50–81. Aus Rudi Dutschke, Aufrecht gehen. Eine fragmentarische Autobiographie, hg. von Ulf Wolter, Berlin 1981, S. 77.

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der Situation des eigenen Landes dabei auch aus der Biographie Dutschkes resultierte, der – nicht zuletzt aus patriotischen Gründen – den Wehrdienst bei der NVA verweigerte und schließlich bei seinem Weg nach West-Berlin die schmerzliche Trennung von seiner Familie hinnehmen musste, wird ebenso deutlich: „Die ‚deutsche Frage‘ war mir nie fremd, ich verließ die DDR nicht, um in ein ‚Exil‘ zu gehen. Zwar in fremde Verhältnisse, aber nicht in ein fremdes Land.“30 Immer wieder wurde dabei erkennbar, wie Dutschke sich nicht selten hin- und hergerissen fühlte in seiner Haltung zum, so ein Tagebucheintrag, gleichermaßen „geliebten, aber auch verachteten Deutschland“:31 Einerseits die Ablehnung der politischen Systeme in beiden Teilen Deutschlands und andererseits die tiefe Verbundenheit mit dem ganzen Land: „Mir fiel die Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland ebenso schwer wie die der DDR. Ich verstand darunter eine Verewigung des Spaltungszustandes. Sollten meine Brüder ihren Geburtsort Koblenz nie kennenlernen, sollte ich als einer aus dem Brandenburgischen den Rhein nie sehen? Das wollte ich nicht hinnehmen.“32 Die Frage nach einer möglichen Wiedervereinigung „von links“ beschäftigte ihn entsprechend bis zu seinem Tode. In politischer Hinsicht befürwortete er zwar ebenso die formelle Anerkennung der DDR, jedoch vor allem, um damit seine Ablehnung gegenüber der offiziellen Wiedervereinigungskonzeptionen von Bundesrepublik und DDR auszudrücken. Entsprechend ernüchtert von den realen historischen und politischen Entwicklungen in der nationalen Frage betonte er zur Zeit der APO im Rahmen seiner eigenen Konzeptionen, dass eine zukünftige deutsche Einheit nicht durch das Zusammenführen der bestehenden Gesellschaftssysteme zu erreichen sei, sondern dass sowohl die Vorbedingungen als auch die Wiedervereinigung selbst etwas völlig Neuartiges darstellen müssten. Für Dutschke stellte sich die nationale Frage nämlich immer auch als soziale Frage, d.h. die Überwindung der Spaltung wurde eng verknüpft mit dem gemeinsamen Klassenkampf der Arbeiterklassen in beiden deutschen Staaten: 30 31 32

Hier entnommen aus Rudi Dutschke, Leserbrief an den Vorwärts („bezieht sich auf ‚Vorwärts‘ vom 30. August 1979“), in: HIS-Archiv. NL RD. RUD 163, 01–08, Mappe: 01, hier S. 2. So ein Tagebucheintrag vom 7. Januar 1971, aus: Gretchen Dutschke-Klotz (Hg.), Rudi Dutschke. Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963–1979, Köln 2005, S. 153. Aus Dutschke, Gekrümmt vor dem Herrn, in: Baudis/Clausert (Hg.), Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens, S. 553 bzw. S. 552; Dutschkes Bruder Helmut stellt rückblickend fest, dass die deutsche Teilung für Rudi „etwas Unnatürliches“ gewesen sei und dieser Zustand, symbolisiert durch den Mauerbau, in einer nicht zu unterschätzenden Weise sein politisches Wirken bestimmt hätte: „War Rudi denn überhaupt ein Achtundsechziger? Genauso könnte man sagen, er war ein Einundsechziger!“ Aus: Moritz Schwarz, „Die deutsche Einheit stand für ihn im Mittelpunkt.“ Gespräch mit Helmut Dutschke, in: JF, 24. Dezember 1999, S. 4f., hier S. 5.

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„Wenn soziale Probleme von der nationalen Frage separiert werden, so kann der politische Klassenkampf weder angemessen gegen die Monopolbourgeoisie in der BRD noch gegen die Monopolbürokratie in der DDR geführt werden. Die Spaltung behindert den politischen Klassenkampf.“33 In diesem Zusammenhang hatte Dutschke dann ebenso verdeutlicht, dass sich seine Zielsetzung gleichermaßen gegen den westlichen Kapitalismus und insbesondere gegen den real existierenden Sozialismus sowjetischer Prägung richtete, den er vor allem in den 1970er Jahren scharf kritisierte.34 Insgesamt kam er damit der Vorstellung eines Dritten Weges zwischen den Blöcken sehr nahe, wollte darunter aber weniger die schematische Erfüllung gängiger Vorstellungen, sondern vor allem eine allumfassende Emanzipation verstanden wissen. Zum anderen stellte er aber unmissverständlich klar, dass ein sich im Zuge des deutschen Weges zum Sozialismus artikulierendes Nationalbewusstsein nur dann positiv verstanden werden könnte, wenn es sozialistisch ausgerichtet war und sich entsprechend dem proletarischen Internationalismus verpflichtet fühlte. Damit galt für Dutschke automatisch jede andere Form des Nationalismus als bürgerlich, chauvinistisch und reaktionär, was einen Zusammenschluss mit der politischen Rechten in dieser Frage ausschloss und sich in den 1970er Jahren beispielsweise auch in Dutschkes Ablehnung gegenüber direkten Kooperationsangeboten aus dem entgegengesetzten Spektrum niedergeschlagen hatte.35 Demgegenüber verdeutlicht eine bis dato unbeachtete Notiz aus dem Nachlass Dutschkes aber auch eine in emotionaler und pathetischer Hinsicht noch tiefere Ebe-

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Aus Dutschke, Manuskript „Denk mal dran. Ohne Denkmal der Geschichtslosigkeit zu werden!“ (1977), in: HIS-Archiv. NL RD. RUD 600, 01–05/610, 01–04, Mappe: 600, 03, hier S. 3. Siehe dazu etwa Rudi Dutschke, Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus. Lenin, Lukács und die Dritte Internationale, Berlin 1974; Ders., Der Kommunismus, die despotische Verfremdung desselben in der UdSSR und der Weg der DDR zum Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, in: Rudi Dutschke/Manfred Wilke (Hg.), Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 261– 304; Ders., Über den Unterschied zwischen despotischem und demokratischem Kommunismus, in: ED Nr. 18/IX vom 28. Februar 1975, S. 21–24; Ders., Ohne Freiheit kein Sozialismus, in: das da 7, 1976, S. 42–43. Angestoßen wurden diese Hoffnungen der politischen Rechten auf eine mögliche Querfront vor allem durch eine Artikelserie Dutschkes zur nationalen Frage im Jahre 1978. Vgl. Rudi Dutschke, Wer hat Angst vor der Wiedervereinigung?, in: das da/avanti 4, 1978, S. 22f.; Ders., Breschnew, das DDR-Manifest und die deutsche Frage, in: das da/avanti 6, 1978, S. 14f.; Zur nationalen Frage, in: das da/avanti 10, 1978, S. 21ff.; dann als Reaktion etwa Henning Eichberg, National ist revolutionär! Was Rudi Dutschkes Thesen zur „Nationalen Frage“ für die Linken bedeuten, in: das da/avanti 11, 1978, S. 16f.; Günther Nenning, Deutsche Einheit? NS-Nostalgie!, in: das da 3, 1979, S. 66; sowie Dutschkes Replik auf beide: Nennings Thesen zur nationalen Frage. Leserbrief, in: das da 6f., 1979, S. 65.

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ne in seinem Heimatgefühl. Denn dort findet sich auf einem lose beiliegenden Zettel das gleichermaßen patriotische wie auch differenzierende Urteil des Sozialisten Dutschkes zur eigenen Nation: „Die Schwierigkeit ein Deutscher zu sein: (Warum ich aber dennoch stolz bin) Wie jedes Volk das Recht, die Pflicht und das Bedürfnis hat, auf sein Land stolz zu sein, und mögen noch so viel Rückschläge gewesen sein.“36 Dieses Bekenntnis des „Stolzes“ auf das eigene Land dürfte seinen Genossen und sogar Dutschkes eigener Familie bisher entweder gänzlich unbekannt gewesen sein und/oder wäre aufgrund der inhaltlichen Tragweite auf das Unverständnis, wenn nicht gar den Widerstand, der antinationalen Linken gestoßen.37 Da Dutschke Zeit seines Lebens und insbesondere in den 1960er Jahren diese Mischung aus Unverständnis, Desinteresse und gar Widerstand der politischen Linken gegenüber der nationalen Frage sehr wohl spürte, brachte er nur vereinzelt und dann auch vielfach in verklausulierter Form seine nationalen Konzeptionen zum Ausdruck. So stellten auch seine in Artikelform geäußerten Überlegungen zu einer Freien Stadt West-Berlin aus dem Jahre 1967 eine der wenigen Ausnahmen dar, in der Dutschke weitestgehend offen (wenn auch unter einem Pseudonym) einen möglichen Weg zu einer sozialistischen Wiedervereinigung erörtert hatte: In Verbindung mit einem parallel geäußerten Hinweis auf die Notwendigkeit einer „zweiten Front“ für Vietnam ging Dutschke insgesamt dann von einer gemeinsamen Stoßrichtung gegen die Hegemonie der Supermächte in Mitteleuropa durch eine Erhebung des Ostens gegen die sowjetische Vorherrschaft sowie die revolutionär-sozialistische Wiedervereinigung Deutschlands als Folge einer gegen die westliche Hegemonie durchgesetzte Rätedemokratie in der Teilstadt aus.38 In solchen Momenten deutete sich bereits Dutschkes 36

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So eine Notiz Dutschkes auf dem Innenblatt des Buches von Joachim Schumacher, Die Angst vor dem Chaos. Über die falsche Apokalypse des Bürgertums, Frankfurt am Main 1972, in: HISArchiv. NL RD. Ohne Signatur. So erklärte Rudis Sohn Marek Dutschke noch im Jahre 2001 in einem nun offenkundigen Widerspruch zu dem Fund in Dutschkes Nachlass: „Nie wäre ihm ein Satz über die Lippen gekommen wie: ‚Ich bin stolz, Deutscher zu sein.‘ Wie kann man stolz auf eine Eigenschaft sein, an deren Zustandekommen man nicht beteiligt war?“ Siehe Rudi-Marek Dutschke, Spuren meines Vaters, Köln 2001, S. 17; aber auch die Witwe hat das Engagement ihres Mannes in der nationalen Frage zwar nie gänzlich abgestritten, aber gleichzeitig auch nie verhehlt, dass sie persönlich gegenüber einer Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands „sehr skeptisch [war], denn die Teilung war aus amerikanischer Sicht eine Notwendigkeit, um den Faschismus zu zerschlagen und seine Auferstehung zu verhindern.“ Aus Dutschke-Klotz, Rudi Dutschke – „ein deutscher Sozialist“, in: Mittelweg 36 Nr. 2, 1992, S. 53f. Aufgrund dieser erkennbaren Diskrepanz müssen die seitens der Familie edierten Quellen stets kritisch hinterfragt werden, da doch eine Auswahl zu befürchten ist, die das Ziel verfolgt, Rudi Dutschke im Nachhinein vor allem als Internationalist und bloß nicht als „allzu national“ gesinnt erscheinen zu lassen. Vgl. zu diesem strategischen Überlegungszusammenhang Dutschkes z.B. Ders. (= hier R.S.), Zum Verhältnis von Organisation und Emanzipationsbewegung. Zum Besuch Herbert Marcuses, in:

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später noch stärker akzentuierte Zielsetzung einer sozialistischen Nation an, zu erreichen durch nationale Klassenkämpfe, ohne jedwede Einmischung von außen und verbunden mit einer notwendigen Auflehnung gegen die Supermächte. Es ist immer erkennbar gewesen, dass sich Dutschke mit dieser Haltung prinzipiell von der Mehrheit im SDS sowie generell vom linken Spektrum der Bundesrepublik unterschied, da man dort eine Wiedervereinigung, selbst unter linken Vorzeichen, nicht nur für unrealisierbar hielt, sondern eben größtenteils auch gar nicht wünschte. Seine in diesem Zusammenhang vorgenommene Akzentuierung des Internationalismus in den 1960er Jahren muss daher zu großen Teilen im Kontext der Themensetzung der außerparlamentarischen Opposition insgesamt gesehen werden und entsprang zum einen sicherlich einem tiefen Internationalismus Dutschkes – war zum anderen aber eben auch das Zeichen einer strategischen Anpassung an die sukzessive Fokussierung der Neuen Linken auf die politischen Veränderungen in der Dritten Welt. Dutschke selbst stellte in der Rückschau zur Überbetonung des Internationalismus und der damit unabwendbar einhergehenden Zurückdrängung der nationalen Frage in den Konzeptionen der Protestbewegung fest: „Zu der fundamentalen Frage der nationalen Geschichte und Identität, zur Rekonstruktion deutscher Klassenkampfgeschichte stießen wir noch nicht vor; der abstrakte und dennoch historisch noch unvermeidliche, tief moralisierende Internationalismus hatte zweifellos Elemente der Fremdbestimmung und der Sehnsucht nach einer echten Identität in sich.“39 Damit lässt sich Dutschkes Haltung zur deutschen Frage während seiner Jahre im SDS im Nachhinein auch vielfach nur schwer oder auf interpretatorischem Wege erschließen. In den 1970er Jahren hingegen äußerte sich Dutschke öfter und akzentuierter zur nationalen Frage, so dass auch erst unter Einbeziehung dieser Äußerungen seine Verlautbarungen aus den 1960er Jahren rückwirkend in einem klareren Licht erscheinen, auch wenn letztlich wohl immer noch Fragen offen bleiben und Räume für Spekulationen gegeben sein werden.

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Oberbaumblatt Nr. 5 vom 12. Juni 1967, S. 1 bzw. S. 4ff.; seine Konzeption einer „zweiten Front“ erläuterte Dutschke etwa in einer Rede auf einer Veranstaltung des SDS zum „17. Juni“ in der Neuköllner Hasenheide 1967. Der entsprechende Tagebucheintrag vom 17. Juni 1967 zu ebendieser Veranstaltung lautet: „Erstmalig wurde von unserer Seite eine ‚zweite Revolution‘ für die DDR, Osteuropa und SU gefordert – die wirkliche 2. Front f[ür] Vietnam; für unsere Arbeit auch sehr wichtig.“ Aus Dutschke-Klotz (Hg.), Rudi Dutschke. Jeder hat sein Leben ganz zu leben, S. 53f.; vgl. dazu auch Dutschkes Ausführungen auf der so genannten „Pichelsdorfer Konferenz“ im IG MetallHeim Pichelsdorf am 24./25. Juni 1967. Siehe dazu die Protokolle in: HIS-Archiv. NL Dutschke. RUD 240, 01–09. Mappe: 07; auch Michaela Karl, Rudi Dutschke. Revolutionär ohne Revolution, Frankfurt am Main 2003, S. 154ff. Dazu Dutschke, Aufrecht gehen, S. 91.

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Betrachtet man Dutschkes Äußerungen aus den 1960er und 1970er Jahren im Rahmen einer ganzheitlichen und differenzierenden Analyse, so wird übergreifend deutlich, dass Dutschke zunächst generell die Bereiche der nationalen und internationalen Frage nicht als gegensätzlich oder gar widersprüchlich zueinander, sondern eher in einem dialektischen Zusammenhang betrachtete: Nation, Internationalismus und Sozialismus waren innerhalb seiner Konzeptionen miteinander verwoben und bedingten sich entsprechend gegenseitig, denn die deutsche Wiedervereinigung war für ihn nur als sozialistische denkbar und musste in den internationalen Kontext eingeordnet werden. So machte sich Dutschke einen Ausspruch von Marx und Engels aus dem Kommunistischen Manifest zu Eigen: „Der Klassenkampf ist international, in seiner Form aber national.“40 In diesem Kontext kritisierte Dutschke dann vor allem auch die Vernachlässigung der deutschen Frage durch die politische Linke aus der Zeit der APO: „Hat es jemals in der Geschichte einen Befreiungs- und Veränderungskampf jenseits der realen Spannung von sozialer und nationaler Frage im internationalen Klassenkampfkomplex gegeben? Bei nur wenigen von uns waren diese Fragen keimhaft gegeben. Doch der Internationalismus, der nicht über die realen sozial-nationalen Widersprüche vermittelt ist, gerät notwendigerweise in eine Sackgasse – wie umgekehrt gleichermaßen.“41 Es muss jedoch betont werden, dass in diesem Rahmen erst die nationale Revolution (Wiedervereinigung), die er als entscheidendes „Kettenglied“ sowie Beginn einer weltrevolutionären Tendenzwende ansah, und dann die (für ihn notwendige!) Weltrevolution realisiert werden sollte.42 Besonders deutlich wurde dieser Zusammenhang etwa Ende der 1970er Jahre, als sich Dutschke im Vergleich zu seinen Äußerungen der 1960er Jahre zunehmend mehr auf Europa als auf die Dritte Welt fokussierte und ein Junktim zwischen der nationalen und der kontinentalen Frage herstellte.43 40

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Rudi Dutschke, Die Deutschen und der Sozialismus, in: das da 7, Juli 1977, S. 2. Dutschke bezieht sich dabei auf eine Aussage im Kommunistischen Manifest: „Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler.“ Siehe dazu: Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. Grundsätze des Kommunismus, Stuttgart 1999 (Erstausgabe 1848), S. 32. Aus Dutschke, Warum ich Marxist bin, in: Raddatz (Hg.), Warum ich Marxist bin, S. 93. So formulierte Dutschke z.B. im Januar 1969 hoffnungsvoll: „Der Prozeß der ‚wirklichen deutschen Revolution‘, als Teil der internationalen Umwälzung, hat in der Tat begonnen – die Chancen von uns allen sind gestiegen“. Aus einem Brief an Karola Bloch vom 9. Januar 1969, in: Karola Bloch/Welf Schröter (Hg.), Lieber Genosse Bloch. . . Briefe Rudi Dutschkes an Karola und Ernst Bloch, Mössingen-Talheim 1988, S. 31. Auch hier blieb Dutschke seiner Auffassung treu, „daß der Kampf um die nationale Selbständigkeit immer verbunden ist auch mit einem internationalen Kampf, mit dem Klassenkampf“, zit. nach

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Für ihn musste die Frage nach Selbständigkeit nun für den ganzen Kontinent gestellt werden und dementsprechend verband er die deutsche Frage eng mit der Friedensfrage in Europa und formulierte aufgrund dessen das Ziel eines emanzipierten, von den Supermächten unabhängigen Europas, womit er gewissermaßen punktuell die linke „Mitteleuropa“-Diskussion in der Friedensbewegung der 1980er Jahre vorweg nahm.44 Hierbei zeigte sich auch immer wieder, was für Dutschke die entscheidenden Hindernisse auf dem Weg zu einer von ihm präferierten sozialistischen Wiedervereinigung waren: die fehlende Selbständigkeit und das fehlende Geschichtsbewusstsein. Damit stellte sich für ihn immer auch die Frage nach der Rolle der beiden Supermächte und damit eng verbunden die Frage nach der eigenen Identität: So sah er die deutsche Teilung (neben der von ihm betonten historischen Schuld Deutschlands) auch als durchaus gewolltes Resultat gegenseitiger Absprachen unter den Großmächten, die bereits auf den wesentlichen Konferenzen schon zur Zeit des Krieges getroffen worden waren. Dementsprechend war in seinen Augen die Politik der Siegermächte im europäischen Machtvakuum nach 1945 vorrangig von deren eigenen Interessen geprägt, die die Großmächte nun entgegen früherer Verlautbarungen und ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der europäischen Länder gezielt durchsetzten. Entsprechend stellte Dutschke fest: „Warum sind sie noch im Lande? Der Faschismus ist weg, warum wird Deutschland nun auch noch gespalten? Warten die Kinder und Frauen aus den anderen Ländern nicht auf ihre Väter usw.? Wird aus einem Befreier nicht schnell ein Besetzer, wenn er nicht bereit ist, mal wieder zu verschwinden?“45 Infolgedessen waren die Loslösung und Unabhängigkeit der beiden deutschen Staaten von den jeweiligen Besatzungsmächten und Bündnissystemen ein wesentlicher

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Rudi Dutscke, Redemanuskript „Zur nationalen Frage“, in: HIS-Archiv. NL RD. RUD 440, 07–13, Mappe: 08, S. 1/2. Zur Bedeutung der Lösung der nationalen Frage als „Kettenglied“ der internationalen Weltrevolution vgl. ebd., ebenso den Tagebucheintrag vom 18. Mai 1969, in: DutschkeKlotz (Hg.), Rudi Dutschke. Jeder hat sein Leben ganz zu leben, S. 85: „Die ‚Nationale Frage‘, das Problem der deutschen Wiedervereinigung als revolutionäres Kettenglied des Angriffs gegen Spätkapitalismus und Revisionismus, muß endlich reflektiert werden, der Konterrevolution darf nicht der revolutionierende Boden der ,nationalen Befreiung‘ innerhalb eines globalen SozialismusKontextes überlassen bleiben.“ Zu diesem Themenkomplex siehe z.B. Peter Brandt/Herbert Ammon, Wege zur Lösung der „Deutschen Frage“. Der emanzipatorische Anspruch der Linken unter dem Zwang zur Realpolitik, in: Befreiung 21, 1981, S. 39–78; Rolf Stolz (Hg.), Ein anderes Deutschland. Grün-alternative Bewegung und neue Antworten auf die Deutsche Frage, Berlin 1985; Peter Brandt, Schwieriges Vaterland. Deutsche Einheit, Nationales Selbstverständnis, Soziale Emanzipation, Berlin 2001. Aus Dutschke, Warum ich Marxist bin, in: Raddatz (Hg.), Warum ich Marxist bin, S. 88 [Hervorhebungen im Original].

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Aspekt in seiner nationalen Konzeption und ein wichtiger Schritt zur Lösung der deutschen Frage. Damit stellte sich diese bei Dutschke, im Unterschied zur Mehrheitsposition des SDS, in einer erweiterten Dimension als komplexe Frage nach Selbständigkeit, Emanzipation und nationaler Souveränität. Dazu Dutschke: „[. . . ] Ein gespaltenes Dasein, eine weitere Eliminierung eines geschichtlichen Klassenbewußtseins der deutschen Arbeiterklasse, die Verhinderung einer Wiedergewinnung, – dies war das Ziel und die Folge der Politik der Großmächte. Wir wurden befreit und gleichzeitig neu besetzt. Sich dieser Dimension bewußt zu werden, fällt den meisten von uns noch heute schwer.“46 In diesem Zusammenhang betonte Dutschke dann auch die für ihn elementare Bedeutung einer Vergegenwärtigung der eigenen Geschichte und der mit diesem Geschichtsbewusstsein notwendigerweise korrespondierenden Identität, die er als maßgebliches Moment im Emanzipationsprozess betrachtete: „Die deutsche Sozialismusfrage ist auch eine Frage der Identifikationsgeschichte. Sozialisten und Kommunisten aus anderen europäischen Nationen haben einen ungeheuren Vorteil: Sie haben noch eine nationale Identität, nicht die Identität der Bourgeoisie, sondern eine nationale Identität des Volkes und der Klasse, in Relation zur sozialen Bewegung. Durch die Zerstörung der deutschen Kultur- und Produktionszone nach dem 2. Weltkrieg, durch die Teilung des Landes, ist eine Situation entstanden, wo die Arbeiterklasse in diesem Land einen besonderen Identitätsverlust erlitten hat.“47 Zum einen verwies er in diesem Zuge interessanterweise auf den bis heute eigentlich eher die politische Rechte beschäftigenden Komplex einer gebrochenen Identität bzw. eines mangelnden Selbstbewusstseins der Deutschen, hervorgerufen durch Schuldgefühle als Folge der Vergangenheitsbewältigung. So hielt er eine Reduzierung der deutschen Geschichte auf den Abschnitt des „Dritten Reiches“ beziehungsweise eine kollektive Schuldzuweisung an das gesamte deutsche Volk von außen und deren sukzessive Verinnerlichung durch die Deutschen selbst für ursächlich bei der Herausbildung einer negativen Identität, aus der heraus sich dann nicht das notwendige Selbstbewusstsein für den „aufrechten Gang“ im Klassenkampf gewinnen lasse. Dutschke hierzu wörtlich: 46 47

Dutschke, Zur Sowjetgesellschaft. Teil 2, in: links 90, 1977, hier S. 24f. So Dutschke in N.N., Interview mit Rudi Dutschke, in: Das Gesicht 35, 1976, S. 3.

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„Daß von außen, von den anderen Ländern, uns so oft gesagt wird: ‚Die schlimmen Deutschen‘, oder ‚die bösen Deutschen‘, ist Unsinn. Das dürfen wir nicht aufnehmen vom sozialistischen Standpunkt. Wenn die vom bösen Deutschen oder so etwas reden, und wir das noch mitspielen, dann sind wir natürlich erst recht in der Niederlage drin, und werden nicht in der Lage sein, deutsche Verhältnisse und deutschen Sozialismus im Rahmen des internationalen Zusammenhangs zu reflektieren. Also [. . . ] gilt es, die nationale Besonderheit als solche zu reflektieren, und damit auch wieder Identität zu gewinnen.“48 Zum anderen betonte Dutschke jedoch wiederholt, dass sich die deutsche Frage nur im europäischen Gesamtzusammenhang lösen lasse, dieser aber andersrum auch nicht ohne die Berücksichtigung der jeweils spezifischen „nationalen Besonderheiten“ denkbar sei. Im Rahmen seiner dialektischen Auffassung von Internationalismus und Nationalbewusstsein stellte dieser Begriff der „nationalen Besonderheiten“ für ihn ein Synonym für die jeweils eigene Lebens- und Kulturgeschichte sowie Klassenkampferfahrung eines Landes – und das heißt also letztlich für die nationale Identität – dar.49 Der Weg zu einem allumfassenden und differenzierten Geschichtsbewusstsein als Grundlage der nationalen Identität, und damit auch ein gewichtiger Teil zur Lösung der deutschen Frage, lag für Dutschke neben der Emanzipation von den Großmächten vor allem auch in einer Annäherung der beiden deutschen Staaten sowie besonders in den Kontakten und Bündnissen zwischen den dort lebenden Deutschen.50 Hierbei hatte Dutschke dann des Öfteren die nationale Geschichtslosigkeit vieler sei-

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Ebd., S. 10. Dennoch vermied es Dutschke in seinen Konzeptionen, seinen „deutschen“ Sozialismus synonym als „nationalen“ Sozialismus zu deklarieren, da er so wohl offensichtlich der missverständlichen sowie leicht zu stigmatisierenden Nähe zum historischen Begriff des Nationalsozialismus aus dem Wege gehen wollte. Hierzu noch einmal Dutschke: „Wie werden wir als revolutionäre Sozialisten und Kommunisten in den zwei deutschen Staaten uns darüber klar, daß unser größtes Hemmnis der Verlust, die Verhüllung, die Geschichtslosigkeit über die wirkliche Produktions- und Lebensgeschichte unseres Landes darstellt? Unser Internationalismus wird nur ein echter, wenn wir unsere eigene nationale Geschichte in ihrer Besonderheit als solche erkennen, durchschauen und dementsprechend politisch handeln.“ So in Rudi Dutschke, Es geht um das sozialistische Problem der Wiedervereinigung. Interview mit Rudi Dutschke, in: Blickpunkt 23, 1973, S. 32–36, hier S. 33. Nach Dutschkes Verständnis musste es darum gehen, „die historische und nicht nur geographische Nähe der DDR, des anderen Teils eines in zwei Staaten gespaltenen Landes, zu begreifen und zu empfinden.“ Aus Rudi Dutschke, Die Deutschen und der Sozialismus, in: das da 7, 1977, S. 2f., hier S. 2. Entsprechend eindringlich warb er für die Möglichkeit einer oppositionellen Vernetzung mit dem Fernziel eines revolutionären Systemumsturzes in Ost und West: „Ohne Annäherung der beiden deutschen Staaten, noch viel mehr: ohne reale Annäherung der Menschen wird die Zurückgewinnung von Identität und Geschichte schier unmöglich werden. Ganz zu schweigen von der Kooperation der sozialistischen und demokratischen Opposition in beiden deutschen Staaten.“ So in Dutschke, Aufrecht gehen, S. 83.

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ner Genossen kritisiert, denen die einseitige Thematisierung von Missständen auf der ganzen Welt oder in der Bundesrepublik wichtiger erschien als die Situation im anderen Teil des eigenen Landes. Dazu Dutschke: „Da traf ich vor kurzem einen Jung-Kommunisten in Hamburg und diskutierte über Repression in der BRD. Auf meine Frage, ob es nicht sinnvoll wäre die Repression in der DDR mitheranzuziehen, sagte er: ,Portugal ist mir näher als die DDR‘. Der Geschichts- und Realitätsverlust ist groß, – da muß so viel geklärt, aufgeklärt werden.“51 Dutschke sprach also, entgegen manch retrospektiver Auffassungen,52 sehr wohl von „nationalen Besonderheiten“ oder der „geschichtlich nationalen Substanz“ eines Landes und auch wörtlich von der hierbei immer gemeinten „nationalen Identität“. Für ihn war der Identitätsbegriff aber keineswegs völkisch fundiert oder ethnisch begrenzt, sondern in erster Linie historisch begründet und er blieb seiner Auffassung aus den 1960er Jahren treu: Der Komplex einer „deutschen Sozialismussache“,53 das heißt, die Verbindung aus nationaler und sozialer Frage, war nicht zu trennen von der internationalen Revolution beziehungsweise stand für ihn Ende der 1970er Jahre dann vielmehr in einem engen Zusammenhang mit der europäischen Frage. So betonte Dutschke, dass es nun um „eine Rückgewinnung europäischer Geschichte und im Rahmen der europäischen Geschichte der deutschen Geschichte“54 gehen musste, die 51 52

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Brief an Karola Bloch vom 10. Mai 1977, in: Bloch/Schröter (Hg.), Lieber Genosse Bloch. . . , S. 116. So stellte etwa Richard Stöss hierzu fälschlicherweise fest: „Ethnisch geprägte Begriffe wie ,nationale Identität‘ waren verpönt.“ Aus Robert Ide, „Ich bin kein Nationalist!“. Streitgespräch zwischen Bernd Rabehl und Richard Stöss, in: Osi Zeitung. Fachschaftszeitung am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin 39, 1999, S. 6f., hier S. 6; eine vergleichbar einseitige Auffassung des Begriffs der „nationalen Identität“ hatte Kraushaar, der zu Beginn der 1990er Jahre Dutschke, aufgrund seiner Ausführungen zur „geschichtlich nationalen Substanz“, ein „organologisches Substanzdenken“ unterstellte, mit dem dieser sich selber zum „Ideologen des Nationalen“ gemacht habe. Das Kernproblem dieser Thesen lag jedoch darin, dass Kraushaar, wohl maßgeblich unter dem Eindruck der zu Beginn der 1990er Jahre in weiten Teilen der Medien befürchteten Welle von Ausländerfeindlichkeit stehend, den Begriff der „nationalen Identität“ reflexhaft und pauschal als „Kennzeichen der Rechten“ bezeichnete und darüber hinaus dieses Verständnis mit Dutschkes linker Interpretation eines Nationalbewusstseins retrospektiv vermengte und diesem demzufolge eine „Blindheit“ gegenüber „der Affinität des Nationalen mit Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, Fremdenhass und dergleichen mehr“ attestierte. Vgl. Wolfgang Kraushaar, Rudi Dutschke und die Wiedervereinigung, in: Mittelweg 36, Nr. 2, 1992, S. 30; Ders., 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, S. 110. Von dieser verengten Auffassung ist Kraushaar aber abgerückt und bezeichnet die Verwendung des Begriffs der „nationalen Identität“ auch im Zusammenhang mit Dutschke allenfalls noch als „schwierig“ (Gespräch mit dem Verfasser vom 26. Mai 2008). N.N., Interview mit Rudi Dutschke, in: Das Gesicht, hier S. 1; vgl. auch den Entwurf zu dem „Offenen Brief“ an Biermann, in: HIS-Archiv. NL RD. RUD 420, 01–11, Mappe: 04, S. 8. Dutschke spricht hier über die „Interessen, Bedürfnisse und Ziele des deutschen Sozialismus.“ [Hervorhebung M.S.]. Aus Redeprotokoll zu „Berliner Dialog: 30 Jahre DDR“, in: HIS-Archiv. NL RD. RUD 500, 04, S. 62.

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frei vom Einfluss der beiden Großmächte war. Folglich ging Dutschke von einem nationalen Identitätsbegriff aus, der zwar in einem europäischen Zusammenhang stand, dabei aber auf jeden Fall eigenständig und unabhängig von den USA und der UdSSR war: „Ich kann keine nationale Identität echt gewinnen, wenn nicht gleichermaßen ich einen Blick habe auf den europäischen Kontinent, und europäischer Kontinent heißt ja nichts anderes als europäische Entwicklung von Produktivkräften, Kultur, gleichermaßen aber auch Klassenkampferfahrung. Die europäische Erfahrung ist nicht die amerikanische Erfahrung, ist auch nicht die russische Erfahrung.“55 Zu diesem Komplex stellte Dutschke dann übergreifend und ebenso deutlich fest: „Wir sind ein gespaltenes Volk, ein gespaltenes Land, ein identitätsloses Volk geworden, ein geschichtsloses Volk, auch ohne Klassenkampfkontinuität, und wir haben auf der einen Seite Russifizierung und auf der anderen Seite jene Amerikanisierung an der Oberfläche, die aber nicht authentische Selbstständigkeit möglich gemacht hat nach dem zweiten Weltkrieg. Das sind Realitäten, die ich nicht ignorieren kann.“56 Gerade diese Aussagen haben interpretatorische Spielräume eröffnet, ob und inwieweit die Betonung eines eigenen Weges zum Sozialismus sowie besonders die damit einhergehende Stoßrichtung gegen die beiden Supermächte auf einen möglicherweise befreiungsnationalistischen (Unter-)Ton in Dutschkes Zielsetzungen schließen lässt: In diesem Zusammenhang hat sich besonders um die diesbezüglichen Äußerungen von Bernd Rabehl, ebenfalls ein ehemaliges Mitglied des SDS und enger Weggefährte Dutschkes, eine Kontroverse entwickelt. Denn dieser vertritt die umstrittene These, dass Dutschke die Konzeption der nationalen Befreiung nach dem Vorbild der antikolonialen Aufstände in der Dritten Welt auf die beiden deutschen Staaten mit einer Stoßrichtung gegen die Besatzung sowie Fremdbestimmung durch die USA und die Sowjetunion übertragen hatte.57 Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, dass der Kern dieser Kontroverse objektiv und differenziert betrachtet werden muss: So ist zunächst deutlich 55 56 57

Aus ebd., S. 62 [Hervorhebung M.S.]. Siehe Rudi Dutschke, Was ist heute links? Dokumentation der ersten L 76-Tagung in Recklinghausen, in: L 76/7, 1978, S. 84–185, hier S. 103. Dazu exemplarisch Bernd Rabehl, Rudi Dutschke. Revolutionär im geteilten Deutschland, Schnellroda 2002; Ders., Nationalrevolutionäres Denken im antiautoritären Lager der Radikalopposition zwischen 1961 und 1980, in: wir selbst 3–4, 1998, S. 113–120; Ders., Dutschke als nationaler Demokrat und Nationalrevolutionär, in: Burschenschaftliche Blätter 3, 2006, S. 116f.; Ders., Mein Freund Rudi Dutschke. Die unbekannten Seiten eines deutschen Revolutionärs, Polarfilm 2008 (Hörbuch).

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geworden, dass Dutschkes komplexe Vorstellung eines selbstständigen (und damit eben auch nationalen) Weges zum Sozialismus sowie sein damit verbundenes Ziel einer umfassenden Selbstbestimmung und einer sozialistischen Wiedervereinigung durch die deutsche Teilung, den Besatzungszustand sowie die Bindung von Bundesrepublik und DDR an die jeweilige Supermacht im übergeordneten Rahmen des Ost-West-Konfliktes elementar beeinträchtigt wurden. In seinen Konzeptionen war damit als Lösung konsequenterweise die Emanzipation, demzufolge durchaus im Sinne einer Befreiung, von den Großmächten impliziert: zum einen in praktischer Hinsicht durch den Austritt aus den jeweiligen Militärbündnissen sowie zum anderen durch die Wiedergewinnung und Stärkung eines eigenen Geschichts- und Selbstbewusstseins – und damit einer eigenen Identität in klassenspezifischer, aber auch in nationaler Hinsicht. Dies wurde nicht nur in seinen Äußerungen bezüglich des qualitativen Umschwunges von den „Befreiern“ zu „Besatzern“ deutlich. Der Ruf nach einer eigenen Identität und die Stoßrichtung gegen die Supermächte kulminierten insbesondere in den von ihm verwendeten Begriffen der „Amerikanisierung“ und „Russifizierung“: Darunter wollte er selbst die „Produktions- und Lebensverhältnisse, die nach dem 2. Weltkrieg in verschiedenster Art und Weise aufgepfropft, großmachtsmäßig bestimmt wurden“58 , verstanden wissen und deutete damit einen gegen den Willen der autochthonen Bevölkerung durchgeführten Vorgang an. Wird also in diesem Punkt der interpretatorische Spielraum dafür eröffnet, dass Dutschke aufgrund der Bevormundung und der massiven Eingriffe der Supermächte in die beiden deutschen Staaten an eine Art „kolonialen“ Zustand gedacht hatte, so findet aber eben gerade dieser Begriff des „kolonialisierten Volkes“ keine Verwendung in seinem Vokabular. Auch hinsichtlich der damit verbundenen Frage, ob eine direkte Übertragung der Beispiele des antikolonialen Befreiungskampfes in der Dritten Welt auf die deutsch-deutsche Situation in Dutschkes Konzeptionen bewusst intendiert war, bleibt es bei Andeutungen und Indizien. Insgesamt kann also den Thesen Rabehls keineswegs in Gänze zugestimmt werden, im Gegenteil: An manchen Punkten können dessen Ausführungen durch die Äußerungen Dutschkes selbst widerlegt werden. Doch gleichwohl ist ebenso deutlich geworden, dass Rabehl in einem nicht zu unterschätzenden Maße wiederum auch zu58

Aus Rudi Dutschke, Leserbrief an den Vorwärts, in: HIS-Archiv. NL RD. RUD 163, 01–08, Mappe: 01, hier S. 2; vgl. dazu auch die Aussage von Gretchen Dutschke-Klotz, die zu Dutschkes Betonung einer eigenen Identität und der damit verbundenen Rolle der Besatzungsmächte nach 1945 erklärte: „Den Identitätsverlust der Deutschen aus der nachfaschistischen Zeit hielt Rudi Dutschke für ein Hemmnis in der internationalen sozialistischen Revolution. Auf der einen Seite, im Westen, erfolgte die Amerikanisierung, die von ihm als wirtschaftliche Durchdringung gesehen wurde, auf der anderen Seite, in der DDR, die Russifizierung, eine Verbürokratisierung.“ Aus Dutschke-Klotz, Rudi Dutschke – „ein deutscher Sozialist“, in: Mittelweg 36, Nr. 2, 1992, S. 55.

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zustimmen ist: Denn keinesfalls dürfen der hohe Stellenwert der nationalen Frage in Dutschkes Konzeptionen sowie sein ureigenes Nationalbewusstsein und der Wunsch nach einem „deutschen Weg“ zum Sozialismus verkannt werden – und dass hinter all dem eben auch die Vorstellung einer Befreiung von den Supermächten auf deutschem Boden stand. Dutschkes Position ist also durchaus als national-revolutionär zu verstehen – aber nur in dem Sinne, dass die revolutionäre Lösung der nationalen Frage unbestreitbar eine essentielle Rolle in seinen Konzeptionen spielte. Damit ergibt sich ein differenziertes Gesamtbild: Einerseits waren und sind Dutschkes Zielsetzungen aufgrund der eindeutig linken und globalen Wendung sowie der fehlenden Verabsolutierung der Nation nicht kompatibel mit den heutigen Entwürfen so mancher Renegaten und ebenso wenig deckungsgleich mit den Einstellungen der historischen Nationalrevolutionäre bzw. Nationalbolschewisten. Daher muss auch seine Instrumentalisierung als neue Galionsfigur der politischen Rechten immer noch mehr als nur eine Frage aufwerfen. Andererseits zeigt sich in diesem Zusammenhang genauso, dass Dutschkes hier dargelegte Positionierung in der nationalen Frage, seine deutschlandpolitischen Konzeptionen und sein Selbstverständnis als linker Patriot bis heute eben auch oftmals unterschätzt beziehungsweise so bewusst ignoriert worden sind, dass zukünftig ebenso das antinational ausgerichtete, radikal-linke sowie grün-alternative Spektrum der Gegenwart seinen weiteren Bezug auf Dutschke hieran messen und entsprechend hinterfragen muss.

4 Schlussbetrachtung Als übergreifendes Gesamtresümee kann festgehalten werden, dass trotz der eindrucksvollen Beispiele für den Linkspatriotismus Rudi Dutschkes nicht von einer nationalen Linie in der außerparlamentarischen Opposition gesprochen werden kann. Dazu hätte sich (a), wenn auch nicht die gesamte Protestbewegung, so doch zumindest ein deutlich überwiegender Teil der Neuen Linken in (b) einer beständigen Weise mit der Deutschlandpolitik beschäftigen und dabei vor allem (c) eine positive Haltung zur Kategorie der Nation ausdrücken sowie weiterhin das Ziel einer Wiedervereinigung unter linken Vorzeichen verfolgen müssen. Stattdessen kann in Bezug auf die Stellung des SDS zur nationalen Frage durchaus dem generalisierenden Urteil Manfred Scharrers zugestimmt werden: „Wir waren enthusiastische Internationalisten und identifizierten uns mit den nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt.

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Im eigenen Land war uns fast alles Nationale suspekt. Die Bundesrepublik war nicht unser Staat.“59 Es hat in der jüngeren Geschichte aber durchaus immer wieder „nationale Ausreißer“ oder aber ganze Phasen einer Renaissance der nationalen Frage auf der Linken gegeben. So soll abschließend an dieser Stelle noch kurz auf das innerhalb des linksextremen Spektrums durchaus als Massenphänomen zu bezeichnende, vielschichtige, schillernde und bis heute nicht gänzlich erforschte Milieu der K-Gruppen der 1970er Jahre verwiesen werden, welches sich im Niedergang der APO als Folge- und Spaltprodukt der Neuen Linken herausbildete.60 Diese neu entstandene Bewegung in der Bundesrepublik zeichnete sich zwar durch eine gemeinsame ideologische Basis aus, nämlich die Orientierung am Maoismus und die Stoßrichtung gegen den als revisionistisch entartet wahrgenommenen Sowjetkommunismus. Doch hinsichtlich der politischen Programmatik waren zwischen den verschiedenen Organisationen teilweise gravierende Unterschiede festzustellen, denn einzelne Gruppierungen beschäftigten sich darüber hinaus intensiv mit der nationalen Frage: Hier stachen aus diesem Gesamtphänomen insbesondere die KPD (AO), KPD/ML und MLD61 dadurch hervor, dass in der Programmatik und Propaganda der Gruppierungen die deutsche Frage einen zentralen Stellenwert einnahm und sie in diesem Kontext mitunter durch einen vergleichsweise aggressiven Nationalismus auffielen.62 Dabei hatte die Lösung der sozialen und nationalen Frage für sie eine grundlegend andere Dimension als es beispielsweise in den Konzeptionen des SDS der Fall gewesen war, denn zum einen waren für die genannten K-Gruppen beide Fragen nicht voneinander separiert zu betrachten. Zum anderen wurden unter dem Komplex der deutschen 59

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So Manfred Scharrer, Auf der Suche nach der revolutionären Arbeiterpartei, in: Ä&K 140–141, 2008, S. 36; dazu ähnlich Kraushaar: „Das Unwort der Achtundsechzigerbewegung lautete ganz zweifellos Nation.“ Aus Kraushaar, Achtundsechzig, S. 246. Hierzu finden sich Arbeiten ganz unterschiedlicher Qualität; es soll daher an dieser Stelle nur schlaglichtartig verwiesen werden auf Heiner Karuscheit, Zur Geschichte der westdeutschen MLBewegung, Gelsenkirchen 1978; Gerd Langguth, Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance. Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983; Jürgen Schröder, Ideologischer Kampf versus regionale Hegemonie. Ein Beitrag zur Untersuchung der „K-Gruppen“, Berlin 1990; Sebastian Gehrig/Barbara Mittler/Felix Wemheuer (Hg.), Kulturrevolution als Vorbild? Maoismen im deutschsprachigen Raum, Frankfurt am Main 2008; Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Frankfurt am Main 2004; sowie insbesondere auf die elektronische Datenbank „Materialien zur Analyse von Opposition (MAO)“ (www.mao-projekt.de). Kommunistische Partei Deutschlands (Aufbauorganisation); Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten; Marxisten-Leninisten Deutschlands. Zum Stellenwert der nationalen Frage innerhalb der Programmatik der genannten Organisationen soll z.B. erwähnt werden, dass etwa die MLD die einzige maoistische Gruppierung der Bundesrepublik war, die seit September 1978 in der Titelzeile ihres Zentralorgans sowohl die rote Fahne als auch die schwarz-rot-goldene abgebildet hatte. Für Beispiele eines aggressiveren und kulturell begründeten Nationalismus siehe beispielsweise ZK der KPD/ML (Hg.), Deutschland dem deutschen Volk! Erklärung des ZK der KPD/ML zur nationalen Frage, in: Der Weg der Partei 1, 1974.

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Frage eben nicht nur die Regelung der innerdeutschen Beziehungen, sondern explizit das Ziel der Wiedervereinigung verstanden und damit war für sie gleichzeitig auch untrennbar die Frage nach nationaler Souveränität, der Besatzungszustand sowie der Zusammenhang zwischen der globalen Rolle der Supermächte und der deutschen Situation verbunden. Diese Positionen ähnelten wiederum in vielerlei Hinsicht den Thesen Dutschkes aus den 1970er Jahren, unterschieden sich von diesen aber durch einen ungleich aggressiveren Duktus sowie eine streng an den Lehren Maos und Stalins orientierte ideologische Fundierung. Ebenfalls bezeichneten die Gruppierungen in diesem Zusammenhang dann im Gegensatz zu den Positionen des diesbezüglich noch zurückhaltenden Dutschkes das gespaltene Deutschland expressis verbis als von den Supermächten kolonisiertes Land.63 Denn analog zu den Verhältnissen in der Dritten Welt wurde das seit dem Zweiten Weltkrieg geteilte und besetzte Land entsprechend als unterdrückte Nation gesehen und in den antiimperialistischen Befreiungskampf eingeordnet, der sich hier gegen die gleichzeitig als Besatzungsmächte auftretenden und global agierenden imperialistischen Supermächte richtete. In all diesen Punkten führten KPD/ML, KPD und MLD also letztlich „eine Art Zweifrontenkrieg“ (Kraushaar),64 63

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Zur Veranschaulichung dieser Position nur exemplarische Zitate von MLD: „[. . . ] Solange das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes nicht verwirklicht ist, bleibt seine Freiheit immer eng und verkrüppelt. Keine fremde Macht hat das Recht, Truppen auf deutschem Boden zu stationieren, dem deutschen Volk ein gesellschaftliches System aufzuzwingen oder ihm einen fremden Willen zu diktieren und es auszubeuten [. . . ]“. Aus MLD (Hg.), Die Freiheit des deutschen Volkes, in: Die Neue Welt, Extrablatt Nr. 3, 5. Juni 1976, S. 2; KPD: „[. . . ] Der USA-Imperialismus hat seine Truppen in der BRD stationiert; in der BRD herrscht die Monopolbourgeoisie, die mit dem USA-Imperialismus verbündet ist und seiner Einmischung unterliegt. Die neue Bourgeoisie der DDR ist vollständig abhängig vom Sozialimperialismus, diese Abhängigkeit ist mit kolonialer Abhängigkeit vergleichbar [. . . ]“. Siehe Verlag Rote Fahne (Hg.), Kämpft mit der KPD (Bundestagswahlen 1976), S. 88f.; ebenso die KPD/ML: „[. . . ] die Regierung der DDR, die Honecker-Stoph-Clique, [hat] diesen Teil unserer Heimat in eine Kolonie des sowjetischen Sozialimperialismus verwandelt, in der der sowjetische Militärstiefel regiert, [. . . ] sie [leugnet] die Existenz einer deutschen Nation und ist bemüht, das Wort ‚deutsch‘ aus ihrem Sprachschatz zu streichen [. . . ]“. So in KPD/ML (Hg.), Wahlextrablatt zur Hamburger Bürgerschaftswahl 1974, in: Roter Morgen, Extrablatt 2, 1974, S. 4. So Kraushaar in Norbert Seitz, „Rudi, RAF und rote Socken.“ Gespräch mit Tilman Fichter, Wolfgang Kraushaar und Christian Semler, in: NG/FH 9, 2007, S. 47–53, hier S. 51. Dazu exemplarisch: „Erheben wir uns! Nehmen wir den revolutionären Kampf auf gegen das sich gegen die sozialen und nationalen Interessen des deutschen Volkes, gegen seine Freiheit, Unabhängigkeit und physische Existenz richtende Weltherrschaftsstreben der zwei Supermächte und ihre westdeutschen Komplizen und ostdeutschen Lakaien. Kämpfen wir für den Abzug aller fremden Truppen aus ganz Deutschland; für den Austritt Westdeutschlands aus der NATO und Ostdeutschlands aus dem Warschauer Pakt; für die Aufhebung aller Reste des Besatzungsstatuts in Westberlin, Ost- und Westdeutschland; für den Zusammenschluß der europäischen Völker im Kampf gegen das Weltherrschaftsstreben und die Kriegspolitik der zwei Supermächte; für die Unterstützung der gegen Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus, besonders gegen die zwei Supermächte kämpfenden Völker der Welt.“ Aus ZK der KPD/ML (Hg.), Für ein vereintes, unabhängiges, sozialistisches Deutschland!, S. 16.

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bei dem der Kampf gegen die imperialistischen Supermächte von der Weltbühne auf die Situation des von den Supermächten geteilten und besetzten Deutschlands übertragen wurde und sich dort dann parallel als nationaler Befreiungskrieg mit entsprechenden Rückschlüssen für die deutsche Frage stellte. Unter der von allen drei Gruppierungen verwendeten Parole „Für ein unabhängiges, vereintes und sozialistisches Deutschland!“ traten diese für eine Wiedervereinigung im Kampf sowohl gegen die Besatzungsmächte als auch die „Klassenfeinde“ in Bundesrepublik und DDR ein, wobei dies nur die Aufgabe des Volkes, d.h. der Arbeiterklasse unter der Führung der eigenen Organisation, sein konnte.65 Gemäß ihrer Parole waren für die Gruppen folglich die soziale und nationale Frage nicht voneinander zu trennen und ihre Lösung bestand aus einem Komplex von drei zusammenhängenden Faktoren: Dem nationalen Befreiungskampf gegen die Besatzungsmächte, der proletarischen Revolution gegen die Bourgeoisie in beiden deutschen Staaten mit der Errichtung des Sozialismus als Ziel und der Wiedervereinigung der beiden Teilstaaten zu einer deutschen Nation (wobei im Detail wiederum Unterschiede in der Programmatik der Gruppierungen erkennbar waren).66 Stellten diese Positionen aber bereits eine Ausnahme innerhalb des eigenen Milieus dar, so hat sich darüber hinaus bis heute gezeigt, betrachtet man übergreifend das gesamte linke Spektrum, dass dort die antinationale Haltung weit verbreitet und fest verwurzelt geblieben ist. Aufgrund dessen bildet auch das Urteil des Sozialisten Dutschkes zur eigenen Nation weiterhin die Ausnahme – ein Urteil, welches gleichermaßen so patriotisch wie auch differenzierend ausfiel, dass es daher zum Abschluss noch einmal wiederholt werden soll: „Die Schwierigkeit ein Deutscher

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Vgl. dazu nur exemplarisch Verlag Rote Fahne (Hg.), Kämpft mit der KPD für ein unabhängiges, vereintes und sozialistisches Deutschland! Agitationsbroschüre der KPD zu den Bundestagswahlen 1976, Köln 1976; ZK der KPD/ML (Hg.), Für ein vereintes, unabhängiges, sozialistisches Deutschland. Grundsatzerklärung der KPD/ML, Dortmund 1976; MLD (Hg.), Zum Tag der Deutschen Einheit: Das deutsche Volk muss seinen Widerstandswillen demonstrieren!, in: Die Neue Welt, Extrablatt Nr. 18, 10. Juni 1977. Für KPD und KPD/ML war die Parole „Für ein unabhängiges, vereintes und sozialistisches Deutschland!“ nahezu ein Markenzeichen, die MLD verwendeten im Wortlaut andere, aber sinngemäße und vom Inhalt gleiche Parolen. Hinsichtlich der Unterschiedlichkeit der Organisationen soll vor allem auf die besonders krude anmutenden Positionen der MLD verwiesen werden: Die Kleingruppe (ca. 200 Anhänger) forderte im Rahmen ihrer einseitigen Stoßrichtung gegen die UdSSR in einer für die extreme Linke der 1970er Jahre untypischen Weise nach außen die Stärkung der Bundeswehr, eine Aufrüstung mit der Neutronenbombe sowie den Zusammenschluss in einer internationalen Einheitsfront unter Einbeziehung der USA. Dazu korrespondierend propagierte sie auch innenpolitisch eine lagerübergreifende Einheitsfront bis hin zur CSU und verteidigte ausdrücklich die ihrer Ansicht nach durch die Sowjetunion bedrohte bürgerliche Demokratie der Bundesrepublik, womit die MLD im gesamten maoistischen, wie aber auch generell linken Spektrum der Bundesrepublik alleine standen.

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zu sein: (Warum ich aber dennoch stolz bin) Wie jedes Volk das Recht, die Pflicht und das Bedürfnis hat, auf sein Land stolz zu sein, und mögen noch so viel Rückschläge gewesen sein.“

Antiamerikanismus und Antiimperialismus um 1968: Proteste gegen die US-Außenpolitik Philipp Gassert

Der tatsächliche oder vermeintliche Antiamerikanismus der Neuen Linken um 1968 sorgt in aktuellen Kontroversen immer wieder für Widerstreit. Denn das metaphorische „1968“ wird in seinen Folgen für vieles verantwortlich gemacht. Es wird positiv für die Liberalisierung der politischen Kultur vereinnahmt, oder auch für die beginnende öffentliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus; im negativen Sinne wird es als Ursache von Fehlentwicklungen gesehen, vom Rückgang des Arbeitsethos bis zum Zerfall klassischer Familienstrukturen seit den 1960er Jahren.1 Auch die jüngsten Krisen im transatlantischen Verhältnis werden immer wieder auf „1968“ zurückgeführt. So meldete sich im Kontext der hitzigen Kontroverse über den Präventivkrieg gegen den Irak im April 2003 Altbundeskanzler Helmut Kohl mit der Aussage zu Wort, dass die Debatte aufgeheizt werde „durch einen unsäglichen Antiamerikanismus der politischen Linken. Viele derer, die heute in Regierungsämtern sitzen, demonstrierten gegen Amerika bereits in den siebziger und achtziger Jahren, ich erinnere nur an die Nachrüstungsdebatte. Gerhard Schröder, Johannes Rau und Joschka Fischer sind die prominentesten Vertreter dieses Antiamerikanismus.“2 Der von Kohl auf diese ungewöhnlich harsche Art angesprochene Nachfolger, vor allem aber auch dessen Bundesaußenminister Fischer, setzten sich vehement gegen den Vorwurf des Antiamerikanismus zur Wehr. Vor allem Fischer trat regelmäßig der Kritik entgegen, er huldige einem antiamerikanischem Vorurteil: „Vieles von dem, was Amerika repräsentiert, bewundere ich. Vor allem den radikalen Begriff von Freiheit, das Verständnis von ‚checks and balances‘ in dieser alten Demokratie und 1

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Inzwischen sind diese, in der Öffentlichkeit zwar nach wie vor zu hörenden, aber in der Gesamttendenz doch stark übertriebenen Zuschreibungen von der Forschung im Kontext der Historisierung der Wandlungsprozesse der Nachkriegsjahrzehnte relativiert worden, vgl. u.a. Axel Schildt/Detlef Sieg fried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; zum Forschungsstand vgl. Philipp Gassert, Das kurze „1968“ zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur: Neuere Forschungen zur Protestgeschichte der 1960er-Jahre, in: H-Soz-u-Kult, 30. April 2010, http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/forum/2010-04-001. Interview mit Helmut Kohl in: Die Welt, 3. April 2003.

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den Optimismus, diese Dynamik der Amerikaner. Anderes lehne ich ab: Todesstrafe, Waffengesetze, fehlende soziale Sicherheit. Und ich vermisse dort unsere alten Städte und die Gegenwart alter Geschichte. Jedes Mal, wenn ich mich in den USA aufhalte, spüre ich doch, wie sehr ich Europäer bin. Wenn Sie so wollen, fühle ich mich zwischen den Kontinenten zu Hause.“ Auf die Erlebnisse und Erfahrungen seiner Generation angesprochen, äußerte sich Fischer auch zum Vietnam-Krieg: „[Vietnam] war in meinem Amerika-Bild ein radikaler Bruch. Aus Befreiern wurden Unterdrücker [. . . ]. Das hatte zur Folge, dass es für mich von nun an ein doppelgesichtiges Amerika gab: Das eine, das in Vietnam als kolonialer Unterdrücker Krieg führte, und jenes, das gegen diesen Krieg protestierte und ihm widerstand. Für mich und andere Gleichgesinnte war es nie eine Frage, gegen die USA als Land zu sein, sondern wir verstanden uns als Teil gerade dieser in den Staaten sehr starken Protestbewegung. Der Anti-Vietnam-Protest war international.“3 Sowohl Kohl als auch Fischer suchten in dieser Kontroverse um den Antiamerikanismus ihre jeweiligen politischen Haltungen in einer brennenden Gegenwartsfrage zu untermauern. Es ist offenkundig, dass es ihnen nicht um eine wissenschaftliche Analyse der deutsch-amerikanischen Beziehungen ging, sondern dass „Antiamerikanismus“ hier Teil einer politischen Polemik wurde. Genau diese politische Alltagsrhetorik mit ihrem normativ eingefärbten Horizont erschwert aber den analytischen Gebrauch des Begriffs in der Wissenschaft, obwohl in der Forschung vor allem im frühen 21. Jahrhundert Antiamerikanismus erneut zu einem viel diskutierten Thema wurde, das eine umfangreiche Publikationstätigkeit nach sich zog.4 Dabei ging es in Debatten über die deutsche Haltung zu den USA und das deutsche Amerikabild überhaupt, weniger um ein wie auch immer zu charakterisierendes „Amerika“, als um die eigene Gesellschaft. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es eine lange Tradition, dass die Frage der Amerikafreundschaft oder -feindschaft, den Deutschen letztlich zu Klarheit über ihre eigenen Angelegenheiten verhelfen sollte. Es ging hier nur vermittelt um die USA, sondern vielmehr um die eigenen Verhältnisse, die an Amerika symbolisch festgemacht wurden.5 Pro- oder Antiamerikanismus der Deutschen, so die zentrale hier vertretene These, spiegeln daher meist nur in zweiter Linie eine reale Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft der USA: Wir haben es, auch im Falle von „1968“, im Antiamerikanismus nicht allein mit einer normativen Kritik an den gesellschaftlichen und 3 4 5

Interview mit Joschka Fischer in: Der Spiegel, 18. Mai 2002. Darunter die vierbändige Monumentalwerk von Brendan O’Connor (Hg.), Anti-Americanism: History, Causes, Themes, Oxford/Westport 2007. Vgl. Philipp Gassert, The Anti-American as Americanizer: Revisiting the Anti-American Century in Germany, in: German Politics and Society 27, 2009, S. 24–38.

Antiamerikanismus

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politischen Verhältnissen in den USA zu tun. Vielmehr stand und steht in Europa seit langem Amerika als Gesellschaft als Chiffre für die liberal-kapitalistische, plural und zivilgesellschaftlich verfasste Moderne, kurz: den Westen. Dieser erfuhr in den USA zwar nicht seine einzige, aber im 20. Jahrhundert doch seine insgesamt wirkmächtigste Ausformung. In vielerlei Hinsicht sind anti-amerikanische daher mit anti-liberalen bzw. mit anti-westlichen Tendenzen gleichzusetzen oder anders gewendet: Antiamerikanismus ist daher weltanschaulich motivierte Kritik an der liberalen Moderne, die es seit dem frühen 20. Jahrhundert wie kein anderes Land der Erde symbolisierte. In gewissem Sinne wurden nationale Eigenheiten universalisiert, was auch einer amerikanischen Selbstwahrnehmung entspricht.

Was meint Antiamerikanismus? Um den Begriff zu schärfen, muss am Anfang ein Exkurs zum deutschen und europäischen Amerikabild seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stehen. Denn seit um 1900 am Hudson und am Lake Michigan die ersten Wolkenkratzer in den Himmel wuchsen, repräsentierten die USA eine bestimmte Form der Ausprägung der Moderne, die sich mit den Stichworten, Kapitalismus, Liberale Demokratie, Massenkultur und Imperium (bzw. demokratischer Internationalismus) charakterisieren lässt. Die USA wurden nationaler Hauptrepräsentant einer gesellschaftlichen Formation, die sich im 20. Jahrhundert innerhalb der westlichen Welt nach langem konfliktreichem Ringen mit den alternativen Ordnungsmodellen des Faschismus und des Kommunismus durchsetzen sollte. Dies indes ist erst seit 1990 klar. Denn sowohl im Ersten und Zweiten Weltkrieg, als auch im Kalten Krieg war das liberal-kapitalistische System keineswegs eindeutig überlegen. Vor allem in dem hier untersuchten Zeitraum der 1960er Jahre war nicht ausgemacht, dass die um 1968 krisenhaft erschütterte liberale Demokratie und der Kapitalismus mehr Ausdauer als die ideologische Konkurrenz an den Tag legen würden, auch weil mit dem Maoismus eine scheinbare Alternative zum Staatssozialismus sowjetischer Prägung aufgetaucht war.6 Die Hochhauskulissen, die ein aus Europa kommender Reisender seit 1900 als visuell dominantes Element bei der Einfahrt in den Hafen von New York erlebte, unterstrichen als damals fast einzigartiges architektonisches Ensemble erstens die wirtschaftliche Dynamik der USA und die damit einher gehenden Formen wirtschaftlicher Amerikanisierung.7 Als prägnante Verkörperung wirtschaftlicher 6 7

Vgl. Gerd Koenen, Das Rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001, S. 259ff. Vgl. Alexander Schmidt, Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich, Berlin 1997, S. 242ff.

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Dynamik wurde der Wolkenkratzer daher im 20. Jahrhundert auch von den ideologischen und gesellschaftlichen Gegnern des Amerikanismus gerne kopiert. Schon um 1900 verstärkte sich sehr konkret die Furcht vor einer wirtschaftlichen Vereinnahmung durch die USA.8 Es war viel von einer amerikanischen Bedrohung die Rede, eine „Amerikanisierung“ Europas wurde befürchtet, in der Zwischenkriegszeit dann vom Dollarimperialismus und der Kolonisierung Europas durch eine ungeheuer aufstrebende junge Nation jenseits des Atlantiks aufgeregt gesprochen.9 In diesem Sinne war Amerikakritik und Antiamerikanismus stets auch Kritik am Kapitalismus und seiner destruktiven wirtschaftlichen Kräfte. Etwas älter als der wirtschaftliche Antiamerikanismus war zweitens die Auseinandersetzung mit und die Kritik am Regierungssystem der USA und damit an der amerikanischen Ausprägung der liberalen Demokratie.10 Diese Kontroverse geht bis auf die 1830er Jahre zurück, als der französische Aristokrat Alexis de Tocqueville zum ersten Mal wirkmächtig die sich im Zeitalter Andrew Jacksons ausbildende moderne (Massen-)Demokratie beschrieb. Er hatte dabei nicht nur eine bestimmte Form der Regierung im Auge, sondern verstand Demokratie letztlich als soziales Ordnungsmodell. Für Tocqueville war die zunehmende „Gleichheit der Bedingungen“ der zentrale gesellschaftliche Strang der demokratischen Entwicklung. Er betonte das Neuartige der demokratischen und marktwirtschaftlichen Doppelrevolutionen, die im frühen 19. Jahrhundert Amerika erfasst hatten. Indes nahm diese gesellschaftliche Umwälzung in den USA nur eine generelle Entwicklung vorweg: „Die gleiche Demokratie, die über die amerikanische Gesellschaft herrscht, [schien mir] in Europa sich rasch der Herrschaft zu nähern.“11 Dieses von Tocqueville formulierte Konvergenz-Modell machte im 20. Jahrhundert Karriere, als Amerikas Einfluss im Zenit stand. Amerikakritik war daher Kritik an dem liberalen Modell der Demokratie und rieb sich – wenn diese Kritik von rechts formuliert wurde – an den egalitären Tendenzen der umfassenden gesellschaftlichen Amerikanisierung. Kritik an den soziale und kulturelle Unterschiede einebnenden Tendenzen der Demokratie entzündete sich drittens insbesondere an den (massen-)kulturellen Manifestationen der US-Kultur. Hier zog Amerika sowohl von rechts als auch von 8 9

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Vgl. Philipp Gassert, The Specter of Americanization: Western Europe in the American Century, in: Dan Stone (Hg.), Oxford Handbook of Postwar European History, Oxford 2012, S. 188–200. Vgl. Mary Nolan, Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, Oxford 1994; Egbert Klautke, Unbegrenzte Möglichkeiten: „Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich. 1900–1933, Stuttgart 2003. Vgl. Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften von 1789 bis 1830, Stuttgart 1998. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika [1835/40]. Hg. von J. P. Mayer, Stuttgart 1985, S. 15.

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links stets heftige Kritik auf sich.12 Paradoxerweise wandten sich auch Teile der Neuen Linken der 1960er Jahre, ungeachtet der von Joschka Fischer angesprochenen Einflüsse der amerikanischen Populärkultur, gegen soziale Tendenzen der Vermassung und Vermarktung von Kultur. Dies trifft vor allem auf den aktiven politischen Kern der älteren, stark theoretisch orientierten „1968er“ zu, die von der Frankfurter Schule und den Thesen von Theodor Adorno und Max Horkheimer über die „Kulturindustrie“ (in der Dialektik der Aufklärung) beeinflusst worden waren,13 während der eher hedonistische Flügel rund um die Kommune 1 weniger heftige Abgrenzungen gegen eine amerikanisierte Massen- und Populärkultur zeigte.14 Hier gab es indes eine alte Tradition der massiven Zurückweisung amerikanischer Kultur, die in Deutschland weder spezifisch für die Linke noch für die Rechte war. Eine vierte Dimension des Antiamerikanismus stellt die antiimperialistische Tradition dar, die Bezug nehmend auf den demokratischen Internationalismus eines Woodrow Wilson, einen ersten Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit nahm.15 Diese Form der Kritik an der US-Außenpolitik hatte durchaus ihre Entsprechungen in der inneramerikanischen Debatte. Hier setzten sich die Antiimperialisten (zu denen als prominenter Vertreter etwa Carl Schurz gehörte) seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vehement gegen diesen in ihrer Sicht erfolgten Verrat an den antiimperialistischen Gründeridealen der Republik zur Wehr.16 Festmachen lässt sich diese Kritik an der später auch ins Deutsche und andere europäische Sprachen übertragenen Begriffsschöpfung der Dollar-Diplomatie.17 Amerika, die erste postkoloniale Schöpfung der modernen Geschichte, wurde hier zunehmend zur imperialen Macht, vor allem natürlich nach 1945, als die USA anders als nach 1919 nicht ihre Truppen aus Europa zurück zogen, sondern relativ klar mit den außenpolitischen Traditionen

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Vgl. Berndt Ostendorf, Rechter Antiamerikanismus? Kulturalistische Ausdeutungen der Globalisierungsangst, in: Frank Trommler/Elliott Shore (Hg.), Deutsch-amerikanische Begegnungen. Konflikt und Kooperation im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 320–341. Theodor Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung [1944], Frankfurt am Main 1969, S. 128–176 („Kulturindustrie: Aufklärung als Massenbetrug“). Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried (Hg.), Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in changing European Societies, 1960–1980, Oxford 1996; Martin Klimke/Joachim Scharloth, Maos Rote Garden? ,1968‘ zwischen kulturrevolutionärem Anspruch und subversiver Praxis – Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Handbuch 1968 zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart/Weimar 2007, S. 1–7. Vgl. Philipp Gassert, Amerika im Dritten Reich: Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 1933– 1945, Stuttgart 1997, S. 34ff. Vgl. Walter A. McDougall, Promised Land, Crusader State: The American Encounter with the World since 1776, New York 1997, S. 113f. Vgl. Scott Nearing/Joseph Freeman, Dollardiplomatie: Eine Studie über amerikanischen Imperialismus. Übersetzt von Paul Fohr. Geleitwort von Karl Haushofer, Berlin 1927 (US-Originalausgabe 1925).

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der Monroe-Doktrin brachen und ein permanent verstrickendes Bündnis vor allem mit der NATO eingingen. Sie waren nun dauerhaft weltpolitisch involviert. Damit sind wir mitten in der Frage der Begriffsdefinition, die eben dadurch verkompliziert wird, dass der Begriff diese hohe normative Aufladung besitzt und analytisch nur bedingt fruchtbar gemacht werden kann. Da sich hinter dem Begriff des „Antiamerikanismus“ in der Regel ein polemischer Vorwurf verbirgt, ist die Auseinandersetzung über die Definition selbst Teil der politischen Debatte. Antiamerikanismus, darin sind sich fast alle Autoren einig, meint erstens nicht jegliche Kritik an Amerika. Es muss zwischen (legitimer) Kritik an der US-Außenpolitik und ideologisch motivierter Ablehnung Amerikas unterschieden werden.18 Sonst verlöre Antiamerikanismus seinen Wert als erkenntnisanleitender Terminus, wenn er alle kritischen Äußerungen zu Politik und Gesellschaft der USA ohne Unterschied einschlösse. Natürlich gab und gibt es berechtigte Kritik an Entscheidungen amerikanischer Regierungen. Es gibt Missstände in Politik, Kultur und Gesellschaft, die man beklagen kann, ohne gleich Antiamerikaner zu sein. Definiert man Antiamerikanismus als einen Antiliberalismus, dann löst sich zweitens ein schon häufig konstatiertes Paradoxon auf, dass historisch Antiamerikanismus oft Antiamerikanismus mit Amerika gewesen ist. Es gilt eben zwischen der Vorstellung einer amerikanisch geprägten, liberalen Moderne als einer unter mehreren ideologischen Formationen des 20. Jahrhundert zu unterscheiden und dem weiteren Modernisierungsbegriff in der Nachfolge Max Webers, der regimeunabhängig auf „moderne“ Techniken und soziale Praktiken abzielt. So lässt sich für den italienischen Faschismus oder den Nationalsozialismus ohne weiteres zeigen, dass beide trotz kritischer Distanz zu Amerika für die amerikanische Moderne Bewunderung hegten, solange es vordergründig um die ökonomische, technologische und politische Machtentfaltung der USA ging.19

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Über diese grundsätzliche Unterscheidung ebenso wie die Schwierigkeiten einer messerscharfen Trennung bestehen in der Forschung seit langem Übereinstimmung, wenn die Anwendung dann aber auch Schwierigkeiten macht, vgl. schon Günter Moltmann, Deutscher Anti-Amerikanismus heute und früher, in: Otmar Franz (Hg.), Vom Sinn der Geschichte, Stuttgart 1976, S. 85–105, hier S. 85; Gesine Schwan, Antikommunismus und Antiamerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, Baden-Baden 1999, S. 18f.; Joachim Scholtyseck, Anti-Amerikanismus in der deutschen Geschichte, in: Historisch-Politische Mitteilungen 10, 2003, S. 23–41, hier S. 24; Andrei S. Markovits, Amerika, dich haßt sich‘s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2004, S. 16f. Vgl. Emilio Gentile, Impending Modernity. Fascism and the Ambivalent Image of the United States, in: Journal of Contemporary History 28, 1993, S. 7–29; Philipp Gassert, Nationalsozialismus, Amerikanismus, Technologie. Zur Kritik der amerikanischen Moderne im Dritten Reich, in: Michael Wala/Ursula Lehmkuhl (Hg.), Technologie und Kultur. Europas Blick auf Amerika vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Köln 2000, S. 147–172.

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Strukturell, wenn auch nicht inhaltlich, folgt die deutsche Neue Linke diesem tief in der europäischen Geschichte verwurzelten Muster. Ideologische Gegnerschaft zu der liberalen, „amerikanischen“ Moderne geht etwa mit Anleihen bei der amerikanischen Protestkultur einher, so dass z.B. Wolfgang Kraushaar meint, dass sich der antiimperialistische Antiamerikanismus durch eine „proamerikanische Protestkultur“ artikuliert habe, während Kaspar Maase vom „amerikanisierten Antiamerikanismus“ spricht, und Anselm Doering-Manteuffel unterstreicht, dass in „dialektischer Verbindung mit der kulturellen Amerikanisierung“ nach 1945 aus dem alten Antiamerikanismus der vorangegangenen Epoche „eine durchweg ideologisch begründete – antikapitalistische, antiimperialistische, antipragmatische – Abwehrhaltung“ hervorgegangen sei, die es erlaubte hätte, „sowohl ,Woodstock‘ mitzuvollziehen, als auch die Aversionen der Väter gegen die Vereinigten Staaten unter veränderten politischen Vorzeichen fortzuführen.“20 Zum Dritten ist Antiamerikanismus nicht mit dem Weiterleben negativer Stereotypen im deutschen Amerikabild zu verwechseln, wenn auch der Antiamerikanismus, egal ob links oder rechts, sich mit schöner Regelmäßigkeit dieser tief in alltäglichen Vorstellungen vieler Europäer wurzelnden Quellen bedient. Ob derartige Vorurteile jedoch Antiamerikanismus in einem spezifisch ideologischen Sinne konstituieren, ist jeweils zu prüfen. Daher ist es auch möglich, dass mit Antiamerikanismus in dem hier postulierten ideologischen Sinne, politische Freundschaften mit Menschen und Gruppen in den USA einhergehen, die ähnliche, antiliberale Zielvorstellungen vertreten. Eine derartige Distanzierung vom hegemonialen Liberalismus wird aber in einem inneramerikanischen Kontext nicht als anti-amerikanisch, sondern als „unamerikanisch“ („un-American“) bezeichnet. Es ist also möglich, enge persönliche und politische Freundschaften in die USA zu pflegen und dennoch die Kriterien eines Antiamerikanismus im ideologischen Sinne zu erfüllen. Derartige Allianzen hat es bereits in der Zwischenkriegszeit gegeben – damals jedoch weit überwiegend von rechts.21

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Wolfgang Kraushaar, Die transatlantische Protestkultur. Der zivile Ungehorsam als amerikanisches Exempel und als bundesdeutsche Adaption, in: Ders. 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000, S. 53–80, hier S. 54; Kaspar Maase, Diagnose: Amerikanisierung. Zur Geschichte eines Deutungsmusters, in: Transit 17, 1999, S. 72–89, hier S. 75; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 43; siehe auch Claus Leggewie, 1968 – Ein transatlantisches Ereignis und seine Folgen, in: Detlef Junker u.a. (Hg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges. Ein Handbuch, Bd. 2, Stuttgart 2001, S. 632–643. Als das Paradebeispiel für eine derartige Haltung in der Zeit vor 1945 könnte der führende Amerikaexperte des „Dritten Reiches“, Friedrich Schönemann dienen, dessen Freundschaft zu kritischen amerikanischen Intellektuellen wie H. L. Mencken alle Wechselfälle der Geschichte überlebte. Zu Schönemann vgl. Gassert, Amerika im Dritten Reich, S. 116f.

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Die Genese des Amerikabildes der neuen Linken In den 1950er Jahren war auf der linken Seite des politischen Spektrums Antiamerikanismus eher gedämpft zu vernehmen, obwohl die SPD bis zu ihrer Godesberger Wende 1959 in ihrer Zielprojektion offiziell an einer marxistischen Gesellschaftsanalyse festhielt und sich, der Theorie nach, in einem latenten Gegensatz zum hegemonialen Liberalismus amerikanischer Prägung befand. Die Erfahrung des Exils zwischen 1933 und 1945 hatte innerhalb der SPD den ideologischen Widerspruch zur liberalen Moderne amerikanischer Provenienz abgemildert, weil aus den USA nun zurückkehrende Remigranten trotz ihrer relativ geringen Zahl Einfluss auf die westdeutsche Sozialdemokratie ausübten und man „Amerika“ letztlich auch die Niederlage des Faschismus im Zweiten Weltkrieg zu danken hatte. Ihren Impulsen und der von den amerikanischen Gewerkschaften vorangetriebenen transatlantischen Netzwerkbildung ist es mit zu verdanken, dass sich SPD und DGB rasch “westernisierten“.22 Hinzu kam nolens volens die sozialdemokratische Systemkonkurrenz mit dem volksdemokratischen, Ostberliner Modell, von dem sich die SPD unter Kurt Schumacher klar distanzierte. So genoss die SED das zweifelhafte Privileg, die linke antiamerikanische Tradition zunächst allein hochzuhalten.23 In den 1950er Jahren war außerhalb der DDR der deutsche Antiamerikanismus vor allem auf der Rechten heimisch, wo konservative Intellektuelle und „Abendländer“, die zwischen 1933 und 1945 überwiegend Deutschland nicht verlassen hatten, sich amerikafeindlich gerierten.24 Dieser konservative Antiamerikanismus war aber Teil einer europaweiten Bewegung vor allem im katholischen und südeuropäischen Europa, was diesem nach 1945 erneuerten Antiamerikanismus der Rechten von seinen Vorläufern in den 1920er und 1930er Jahren doch erheblich unterschied.25 Diese vor allem kulturellen Vorbehalte gegenüber den USA reichten sehr weit bis in das gemäßigte, außenpolitisch pro-amerikanisch eingestellte konservative Lager um Konrad Adenauer, ohne dass diese Kritik nun im vollen Umfang die Qualität eines ideologischen Antiamerikanismus bekommen hätte.

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Vgl. Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003, S. 341ff.; Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen, S. 90ff. Vgl. Konrad H. Jarausch, Die USA und die DDR. Vorüberlegungen zu einer asymetrischen Beziehungsgeschichte, in: Uta A. Balbier/Christiane Roesch (Hg.), Umworbener Klassenfeind. Das Verhältnis der DDR zu den USA, Berlin 2006, S. 26–31. Vgl. Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005. Vgl. Philipp Gassert, Defending Europe against Bolshevism, Liberalism, and Americanism: RightWing Images of The West. 1930–1950, in: Riccardo Bavaj/Martina Steber (Hg.), German Images of ,the West‘: The History of a Modern Concept, New York (im Druck).

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So war für den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer die Zusammenarbeit mit den USA ein Gebot der westdeutschen Staatsräson, das, wie es der spätere CDUSchatzmeister Walther Leisler Kiep einmal formulieren sollte, „zweite Grundgesetz“ der Bundesrepublik Deutschland.26 Doch zugleich wehrte sich Adenauer gegen eine kulturelle und soziale „Amerikanisierung“ der Bundesrepublik und sprach den Amerikanern „einen wirklichen tragenden Gedanken” ab. Der große Bruder schickte Soldaten und Waffen, er griff mit dem Marschall-Plan Europa wirtschaftlich unter die Arme. Aber den ideologischen Abwehrkampf, wie ihn „der Widerstand gegen den Einbruch des totalitären Atheismus von Russland her” darstelle, den sollte man den Amerikanern besser nicht allein überlassen.27 Auch wenn deutsche Jugendliche in die Kinos strömten, um Rock around the Clock zu sehen und das dann auf dem Tanzboden nachahmten, was Ihnen Bill Haley vorexerziert hatte, dann brachte Amerika den abendländischen Abwehrkampf dank des zersetzenden Einstroms seiner Populärkultur doch erheblich ins Stottern.28 Konservative Kulturkritiker taten sich daher schwer mit dem transatlantischen Bündnis, dass scheinbar die europäische-abendländische Kultur mit zu unterminieren half. Im Verhältnis zu Amerika spaltete sich die Linke in den 1960er Jahren. Während Brandt als „deutscher Kennedy“ 1961 bewusst einen „amerikanisierten“ Wahlkampf führte29 , begann sich der radikale Flügel mit seiner antikapitalistischen und antiimperialistischen Kritik gegenüber Amerika neu zu positionieren. Das Godesberger Programm schuf Raum für eine linke Alternative zur SPD, nachdem der SDS aus der SPD ausgeschlossen worden war.30 Damit war Mitte der 1960er Jahre die antiamerikanische Kritik in Regionen jenseits des Parlaments abgedrängt, zumal in der CDU vorübergehend die Atlantiker dominierten.31 Dass die sich formierende Neue Linke, die in sich selbst eine höchst heterogene Bewegung darstellte, zunehmend gegen Amerika als Leitbild der liberalen Moderne polemisierte, wurde durch die

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Walther Leisler Kiep, Good-Bye America – was dann? Der deutsche Standpunkt im Wandel der Weltpolitik, Stuttgart 1972, S. 106. Konrad Adenauer in einem Gespräch mit dem Times-Journalist Leslie Hargrove am 25. Januar 1961 und mit Redakteuren der New York Times am 20. Februar 1962, zitiert nach Hans-Jürgen Grabbe, Das Amerikabild Konrad Adenauers, in: Amerikastudien/American Studies 31, 1986, S. 315–323. Vgl. Kaspar Maase, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992. Daniela Münkel, Als „deutscher Kennedy“ zum Sieg? Willy Brandt, die USA und die Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1, 2004, H. 2, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Muenkel-2-2004. Vgl. Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn 1994. Vgl. Tim Geiger, Atlantiker gegen Gaullisten. Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958–1969, München 2008, S. 295ff.

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Tatsache zum Teil verdeckt und gemildert, dass viele der „Antiamerikaner“ quasi „amerikanisch“ sozialisiert worden waren. Es ist eine mittlerweile weiten historisch interessierten Kreisen bekannte Tatsache, dass nicht wenige der führenden Köpfe des deutschen SDS, darunter Günter Amendt, Daniel Cohn-Bendit, Michael Vester und Karl Dietrich Wolff, während eines Aufenthaltes als Schüler oder Studenten in den USA politisiert worden waren und sich in den 1960er Jahren in einem wechselseitigen Austauschprozess über den Atlantik hinweg befanden. Das ging so weit, dass das Zentraldokument des amerikanischen SDS – das Port Huron Statement – in seinen internationalen Teilen stark von Vertretern der deutschen neuen Linken, vor allem Michael Vester, beeinflusst worden ist.32 Man wird den Aufstieg einer antiautoritären Neuen Linken in der Bundesrepublik, die sich vom traditionellen Marxismus in Form und Inhalt deutlich absetzte, nur vor dem Hintergrund dieses interkulturellen Austausches verstehen können. Dazu gehört auch, dass die unorthodoxen marxistischen Theorien der Weimarer Ära, etwa des deutschen Emigranten Karl Korsch, der großen Einfluss auf Rudi Dutschke ausübte, aber auch der Frankfurter Schule, neu rezipiert und quasi in die Bundesrepublik reimportiert wurden. Auch C. Wright Mills und Herbert Marcuse fanden ihren Weg zum Teil über den studentischen Austausch nach Deutschland zurück. Die amerikanischen Anleihen der deutschen Neuen Linken sind daher weniger im Bereich der Ideologie zu suchen – vieles war innerwestliches marxistisches Gemeingut seit ein oder zwei Generationen. Eine „Amerikanisierung“ sehe ich vor allem im Bereich der Protesttaktiken. Sit-in, Teach-in und Go-in fanden Eingang in das Wörterbuch der außerparlamentarischen Opposition.33

Der Protest gegen den Vietnamkrieg Als Katalysator einer massenhaften Abwendung von den USA seitens weiter Kreise der bundesdeutschen Linken – das hat das eingangs zitierte Interview mit Fischer verdeutlicht – gilt der Vietnamkrieg. Wie groß der Anteil des Protests gegen den Krieg für die Radikalisierung der deutschen Studentenbewegung gewesen ist, ist eine offene Frage. Hier spielte eine Reihe von Faktoren zusammen: Letztlich forderte die APO die westdeutsche Gesellschaft auf mehreren Ebenen heraus. Dabei war die Delegitimierung der NATO und des Bündnisses mit Amerika als „zweitem Grundgesetz“ 32 33

Vgl. Martin Klimke, The Other Alliance. Student Protest in West Germany and the United States in the Global Sixties, Princeton 2010, S. 10–39. Vgl. Philipp Gassert, Atlantic Alliances. Cross-Cultural Communication and the 1960s Student Revolution, in: Jessica Gienow-Hecht/Frank Schumacher (Hg.), Culture and International History, New York 2003, S. 135–156.

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der BRD eine Konfliktarena, in der die westdeutsche Regierung zweifellos besonders druckempfindlich war. Ein zweites war der generelle Antiimperialismus, heizten doch Befreiungsbewegungen in Algerien, Kuba und Südvietnam revolutionäre Phantasien an.34 Hinein spielte drittens das Moment der Enttäuschung über Amerika. So schreibt beispielsweise Ekkehart Krippendorff, der als Wissenschaftlicher Assistent eine Weile im Zentrum der Auseinandersetzungen an der Berliner Freien Universität stand, dass seine eigene „Linksbewegung“ in den USA ihren Ausgangspunkt genommen hätte. Anfänglich ein naiv begeisterter Kennedy-Jünger, sei er über die entwicklungspolitischen Interessen der Kennedy-Administration auf die Spur gesetzt worden.35 Der Anti-Vietnam-Protest bewirkte, dass Antiamerikanismus zum Gegenstand einer kritischen Debatte wurde. Dieser Meta-Diskurs wurde nun aber zunächst einmal gar nicht von konservativer Seite angestoßen. Vielmehr ging die Gegenbewegung gegen den Antiamerikanismus der studentischen Gruppen von einem der intellektuellen Vordenker der Neuen Linken aus, nämlich Max Horkheimer. Dieser verglich die Haltung linker Intellektueller angesichts der sowjetischen Bedrohung in Asien mit dem Appeasement der Oxforder Studenten vor dem Zweiten Weltkrieg, die sich damals geschworen hätten, nicht für König und Vaterland gegen Hitler zu kämpfen.36 Bei aller notwendigen Distanz zum kriegerischen Engagement der USA in Vietnam verwahrte sich Horkheimer in einem Vortrag im Frankfurter Amerikahaus Anfang Mai 1967 dagegen, die Fähigkeit zur Kritik an einem Fallbeispiel außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu erproben. Wer von Amerika rede, so Horkheimer unter Beifall seines (proamerikanischen) Publikums, dürfe nicht vergessen, „dass wir hier nicht zusammen wären und frei reden könnten, wenn Amerika nicht eingegriffen und Deutschland und Europa vor dem furchtbarsten Totalitarismus schließlich gerettet hätte.“ Über das „Grauenvolle“ in der Welt gäbe es keinen Zweifel. Dennoch wolle er denjenigen sagen, die sich „aus guten Gefühlen über Vietnam“ entsetzten, „dass es sehr viel Dinge immer im eigenen Land gibt, die man verbessern könnte.“37 34

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Vgl. Ingo Juchler, Die Studentenbewegungen in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland der sechziger Jahre. Eine Untersuchung hinsichtlich ihrer Beeinflussung durch Befreiungsbewegungen und -theorien aus der Dritten Welt, Berlin 1996; Michael Schmidtke, Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt am Main 2003, S. 263ff.; Quinn Slobodian, Foreign Front: Third World Politics in Sixties West Germany, Durham 2012. Vgl. Ekkehart Krippendorff , Die westdeutsche Linke und ihr Bild von den USA, in: Willi Paul Adams/Knud Krakau (Hg.), Deutschland und Amerika. Perzeption und historische Realität, Berlin 1985, S. 39–46. Notiz Pollocks über ein Gespräch mit Horkheimer, Mai 1966, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, Bd. 2: Dokumente, Frankfurt/Main 1998, Dok. Nr. 100, S. 204. Vortrag Horkheimers im Amerikahaus Frankfurt, 7. Mai 1967, in: Ebd., Dok. Nr. 115, S. 230.

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Horkheimers Kritik wurde ein Jahr später von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger aufgegriffen, als die Vietnam-Proteste nach der blutigen Tet-Offensive des Vietcong Ende Januar 1968 auch in der BRD eskalierten. Der Kanzler warnte vor Präsidium und Bundesausschuss der CDU vor einer „antiamerikanischen Stimmungsmache“ in der Bundesrepublik. Die Deutschen müssten sich davor hüten, „in einer arroganten Weise den Schulmeister der Amerikaner“ zu spielen – eine Formel, die schließlich auch Außenminister Brandt übernahm.38 Er mache sich nicht zum Anwalt der amerikanischen Politik, so Kiesinger. Es gäbe jedoch in der Bundesrepublik genügend Probleme, „die man anpacken kann, damit es auf unserer Welt besser wird.“ Was würde geschehen, wenn sich die Amerikaner „angewidert“ aus Deutschland zurückzögen? Er wisse, so Kiesinger weiter, dass dieser „Anti-Amerikanismus nicht nur seinen Grund in Vietnam habe, sondern noch in ganz anderen Bereichen.“ Der westdeutsche Regierungschef verstand den Antiamerikanismus als Vehikel einer Fundamentalkritik an der liberalen Demokratie und den bestehenden westdeutschen Verhältnissen.39 Während Horkheimer und Kiesinger es für besser hielten, sich angesichts der deutschen Geschichte gegenüber der amerikanischen Politik in Vietnam in Schweigen zu hüllen, erschien dies den Protagonisten der Neuen Linken als eine moralische Bankrotterklärung. Schon der erste Vietnam-Kongress des deutschen SDS im Frühjahr 1966 hatte sich daher auch an die Adresse der Bundesregierung gewandt und deren moralische und finanzielle Unterstützung des Vietnamkrieges vehement kritisiert.40 Trotz der im deutschen Falle unvermeidlichen vergangenheitspolitischen Bezüge wurden in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die ideologischen Grundlagen des Anti-Vietnam-Protests als eines neomarxistisch inspirierten Antiimperialismus immer deutlicher. Die Kritik ging dabei schnell über das humanitäre Anliegen einer Thematisierung der „barbarischen Kriegsführung“ der USA in Vietnam hinaus, und gewann eine grundsätzliche Qualität. Dutschke und andere führende Köpfe des SDS deuteten die „expansive Außenpolitik“ der USA in kritischer Wiederaneignung der älteren ökonomischen Imperialismustheorien als einen Versuch, innergesellschaftliche Widersprüche durch einen militärischen und kommerziellen Expansionismus an die Peripherie zu verlagern.41 38

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Protokoll der Sitzung des CDU-Bundesausschusses, 20. Februar 1968, Archiv für ChristlichDemokratische Politik, St. Augustin (ACDP), VII-001-023/3; zu den Hintergründen vgl. Herbert Leicher, Anti-Amis, in: Rhein-Zeitung, Koblenz, 24. Februar 1968; Günter Weisbrod, Vietnam scheidet die Geister, in: Die Welt, 22. Februar 1968. Rede Kiesingers anlässlich des gemeinsamen Parteitages der vier baden-württembergischen Landesverbände der CDU, 2. März 1968, in: Kurt Georg Kiesinger, Reden und Interviews 1968, Bonn 1969, S. 82–93, hier S. 85. Vgl. Juchler, Studentenbewegungen, S. 123. Vgl. Herbert Marcuse, Vietnam. Die Dritte Welt und die Opposition in den Metropolen. Eine Podiumsdiskussion, geleitet von Klaus Meschkat mit Rudi Dutschke, Peter Gäng, Herbert Marcu-

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Anders als bei den marxistischen Klassikern wurde der Klassenkampf von der Neuen Linken nicht länger als ein Konflikt im nationalen Kontext der Metropolen begriffen, sondern als eine Auseinandersetzung zwischen der spätkapitalistischen ersten und der dritten Welt. Die Aufstände und Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika schienen die von Herbert Marcuse stammende These von der „Übertragung des Klassenkampfes auf die internationale Arena“ zu stützen. Aus der Zusammenarbeit zwischen westlichen Studenten in den Metropolen und drittweltlichen Befreiungsbewegungen würde sich eine globale revolutionäre Umwälzung ergeben. Mit der im Januar 1968 eröffneten Tet-Offensive der Südvietnamesischen Befreiungsfront (FNL) schien dieser Punkt erreicht. Sie elektrisierte weltweit die Studentenbewegungen, so auch in Deutschland. Es war, wie sich ein Zeitgenosse erinnerte, „ein welterschütterndes Ereignis, das mir erlaubte mir vorzustellen, was die Russische Revolution für Menschen mit sozialistischen Idealen bedeutet haben muss. [. . . ] Nur wenige Meter von der amerikanischen Botschaft in Saigon tobte die Schlacht von Haus zu Haus, während die Flagge der FNL über Hue wehte. [. . . ] Es gab keinen Zweifel – die Weltrevolution war angebrochen.“42 Vietnam sei der Beweis, dass sich der „Imperialismus als Gesamtsystem [. . . ] total auf dem Rückzug“ befinde, wie Dutschke auf der internationalen Vietnam-Konferenz im Februar 1968 in Berlin argumentierte, die kurz nach der Tet-Offensive stattfand. Dem eindrucksvollen Aufmarsch der Befreiungsbewegungen in der dritten Welt müssten konkrete Aktionen in den Metropolen folgen. Das Abschlusskommuniqué der Konferenz fordert unter anderem „Zerschlagt die NATO“, konsequente Aufklärungsarbeit unter den in Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten, „um die Wehrkraft der US-Armee zu zersetzen“, sowie Anschläge auf amerikanische Einrichtungen in der Bundesrepublik.43 Der Antiamerikanismus der Neuen Linken war demnach ideologischer Natur, weil er sich anders als die Amerikakritik etablierter Figuren wie Horkheimer (und selbst Kiesinger) nicht auf eine notwendige Distanzierung von der amerikanischen Außenpolitik beschränkte, sondern Vietnam als Exempel einer der liberal-kapitalistischen Moderne inne wohnenden destruktiven Tendenz verstand. So diente der Vietnamkongress nicht allein dem Protest und der kritischen Diskussion des US-Engagements in Südostasien, sondern auch dem Aufbau einer weltweiten Widerstandsfront gegen das liberal-kapitalistische System, im Zeichen des Antiimperialismus. Antiamerikanismus war hier also Antiimperia-

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se, Bahman Nirumand (Diskussionsbeitrag), in: Horst Kurnitzky/Hans-Martin Kuhn (Hg.), Das Ende der Utopie. Mit Diskussionsbeiträgen von Rudi Dutschke, Wolfgang Lefèvre, Peter Gäng, Bahman Nirumand u.a., Berlin 1967, S.121–150, hier S. 137. Zit. nach Ronald Fraser, 1968. A Student Generation in Revolt, New York 1988, S. 176f. Zitate nach Juchler, Die Studentenbewegungen, S. 257–268.

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lismus. Schon das Veranstaltungsplakat verkündete: „Was uns offensteht, ist nicht so sehr die Waffe der Kritik als die bewaffnete Kritik!“44 Damit hatte sich der SDS deutlich von dem Postulat der Gewaltfreiheit verabschiedet, indem er dazu aufrief, den „Imperialismus in seinen jeweils verschiedenen Erscheinungsformen, so auch den westdeutschen Imperialismus, an jedem Ort und mit allen Mitteln anzugreifen, um die internationale Konterrevolution zu schwächen.“ Was die Revolutionäre unter „konkreten Maßnahmen“ gegen den Imperialismus der USA verstanden, ist inzwischen hinreichend bekannt. Dutschke hatte sich von dem Hauptsponsor des Vietnam-Kongresses, dem italienischen Verleger Feltrinelli, Sprengstoff besorgen lassen. Er plante Anschläge auf amerikanische Schiffe, die von Bremen aus Nachschub beförderten. Auch die Sprengung eines Antennenmastes des amerikanischen Senders AFN in Saarbrücken war beabsichtigt. Dutschke schreckte schließlich vor den terroristischen Taten zurück, weil er sich nicht sicher sein konnte, ob diese Anschläge nicht Risiken „für die Massen“ bedeuteten.45 Wenn auch derartige Planungen nicht von allen Gefolgsleuten Dutschkes goutiert wurden, sollte sich die Gewalt gegen Sachen, nur solche hielt Dutschke für legitim, im Laufe der 1970er Jahren zu antiamerikanischen Terrorakten steigern, die menschliches Leben unmittelbar in Mitleidenschaft zogen. Gudrun Ensslin, eine der führenden Persönlichkeiten der RAF, rechtfertigte schon den ersten Brandanschlag auf zwei Frankfurter Kaufhäuser im April 1968 damit, dass die deutsche Bevölkerung nicht gegen den Krieg in Vietnam protestiere: „Wir taten es aus Protest gegen die Gleichgültigkeit, mit der die Menschen dem Völkermord in Vietnam zusehen.“46

Antiamerikanischer Terrorismus In ihrer weit überwiegenden Mehrheit haben die Anhänger der APO und von „1968“ sich mit derartigen Terrorakten nicht identifiziert, zumal der Terrorismus der APO mit der ihm innewohnenden Dynamik bald seiner eigenen Logik folgte. Andererseits gehört das antiamerikanische Spiel mit der Lunte während des Vietnam-Kongresses zur unmittelbaren Vorgeschichte des westdeutschen Terrorismus der 1970er Jahre, der sich insbesondere auch gegen die amerikanische Militärpräsenz in der BRD richtete und nicht allein gegen Vertreter des westdeutschen Establishments wie Schleyer und Ponto. So verübten westdeutsche Terrorgruppen und ihre Sympathisanten unter anderem Anschläge auf die Amerika-Häuser in Frankfurt (Januar 1969), Berlin

44 45 46

Koenen, Rotes Jahrzehnt, S. 60. Vgl. Ulrich Chaussy, Die drei Leben des Rudi Dutschke. Eine Biographie, Berlin 1993, S. 208. Zit. nach Schmidtke, Aufbruch der jungen Intelligenz, S. 279.

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(Dezember 1969) und München ( Januar 1971). Im Mai 1972 wurden die amerikanischen Armeehauptquartiere in Frankfurt und Heidelberg das Ziel terroristischer Anschläge, denen mehrere amerikanische Soldaten zum Opfer fielen. Im Juni 1976 war das Frankfurter Hauptquartier erneut Ort eines Bombenanschlages, im August 1976 das Hauptquartier der amerikanischen Luftwaffe in Ramstein, bei dem zwanzig amerikanische Soldaten verletzt wurden. Im selben Jahr explodierte ein Sprengsatz bei Radio Free Europe in München und es wurde ein Brandanschlag auf das Büro des Erkennungsdienstes der amerikanischen Armee in Gießen verübt. Im September 1981 erfolgte ein Attentatsversuch auf den amerikanischen Oberkommandierenden Kroesen in Heidelberg. Im folgenden Jahr verzeichneten deutsche Behörden insgesamt 60 Anschläge auf amerikanische Einrichtungen, so allein vier im Juni 1982 kurz vor dem Besuch von Ronald Reagan in Bonn. Im August wurden zwei Menschen durch eine Autobombe auf dem amerikanischen Militärflughafen in Frankfurt getötet, 20 weitere wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Im Dezember 1984 scheiterte ein Anschlag auf eine NATO-Schule in Oberammergau, im August 1985 kamen im Zusammenhang mit einem Anschlag auf die Frankfurter Air Base drei Amerikaner ums Leben. Im August 1986 detonierte in Hanau ein Sprengsatz im Privatwagen eines amerikanischen Soldaten, im Februar 1987 wurde bei Bremen ein Anschlag auf eine Bahnstrecke verübt, um amerikanische Versorgungszüge zu stoppen. Noch 1991 wurden Gewehrschüsse auf die US-Botschaft in Bonn durch ein Kommando der RAF abgegeben.47 Diese antiamerikanischen Terrorakte, die den Verlust von Menschenleben bewusst in Kauf nahmen, lösten innerhalb der Neuen Linken eine kritische Diskussion aus. Im Unterschied zum antiamerikanischen Terrorismus der 1970er und 1980er Jahre, der nicht mehr zwischen „Opfern“ und „Tätern“ differenzierte, war bei den Protagonisten der Neuen Linken um 1968 doch insgesamt die Vorstellung lebendig gewesen, es mit einer gemeinsamen Front mit Amerika gegen Amerika zu tun zu haben. So gab die führende Zeitschrift der linken Intelligenz in der BRD, das von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene Kursbuch, der inneramerikanischen radikalen Kritik an den Verhältnissen in den USA breiten Raum. Das unterstrich den Schulterschluss mit den „fortschrittlichen Kräften“ in Amerika selbst. So veröffentlichte das Kursbuch im März 1969 ein Serie von Aufsätzen aus den Reihen der amerikanischen Neuen Linken in deutscher Übersetzung, darunter auch einen Beitrag des afroamerikanischen Studentenführers Stokeley Carmichael 47

Zusammenstellung nach Rote Armee Fraktion. Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, hg. v. ID-Verlag, Berlin 1997; Gerd Langguth, Protestbewegung. Entwicklung, Niedergang, Renaissance. Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983, S. 203ff.; Sebastian Knauer, Lieben wir die USA? Was die Deutschen über die Amerikaner denken, Hamburg 1987, S. 47f.

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über Black Power. Im Dezember 1970 widmete sich das Kursbuch dem Thema Nordamerikanische Zustände. Neben einem Interview mit Herbert Marcuse fanden sich mehrere Aufsätze, die sich mit der Bürgerrechtsbewegung beschäftigten sowie neomarxistische Analysen der ökonomischen und sozialen Situation in den USA. Es ist kein Zufall, dass eines der kontroversesten Amerikabücher der deutschen Linken, Reinhard Lettaus Montage mit dem programmatischen Titel Täglicher Faschismus, das im Kursbuch teilweise vorabgedruckt worden war, in den Vereinigten Staaten selbst entstand, wo der Autor als Hochschullehrer unterrichtete.48 Vor dem Hintergrund der Rassendiskriminierung in den USA ergaben sich breit ausgewalzte vergangenheitspolitische Parallelen, die aus heutiger Sicht nachgerade apologetisch in Bezug auf den Nationalsozialismus wirken. Aufgrund der neomarxistischen Faschismus-Theorie schien Amerika nicht mehr weit entfernt von den Verhältnissen im nationalsozialistischen Deutschland zu sein. Der Schlachtruf vom „alltäglichen Faschismus”, den findige Demonstranten in die eingängige Parole „USA-SA-SS” ummünzten, zeugt von einer grundsätzlichen Distanz zum liberalkapitalistischen System, das in der Bundesrepublik in ebenso hoher Blüte stand wie in den Vereinigten Staaten selbst. „Faschismus“ war der ubiquitäre Vorwurf, der auf beiden Seiten des Atlantiks mit schöner Regelmäßigkeit erklang; insofern kann er, selbst wenn er sich im deutschen Falle an die Adresse der USA richtete, nur sehr vermittelt als Ausdruck einer genuin nationalistischen, ja möglicherweise sogar apologetischen Tendenz innerhalb der deutschen Linken gewertet werden. In Berkeley dürfte der Begriff des Faschismus zu dieser Zeit vermutlich nicht weniger inflationär gebraucht worden sein als in Berlin, ja ein ehemaliger (jüdischer) Emigrant wie Marcuse stellte die Behauptung auf, in den USA könne man „mit voller Berechtigung von einem beginnenden Faschismus“ sprechen.49 In der Kontinuität älterer deutscher Amerikabilder diente „Amerika” der Linken als eine Chiffre für eine pathologische Entwicklungstendenz der liberal-kapitalistischen Moderne, die sich in den USA als besonders machtvoll und international prägend herausgebildet hatte. Angesprochen waren damit immer auch die Verhältnisse in der Bundesrepublik selbst. Amerika als die Metropole der westlichen Welt, als imperialistische Macht erster Ordnung und der „Hort des Kapitalismus” war eben der Garant der herrschenden Ordnung in Westdeutschland, deren Überwindung sich die Studentenbewegung auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Auf diese Formel hat es der protestantische Theologe Helmut Gollwitzer, einer der väterlichen 48 49

Reinhard Lettau, Täglicher Faschismus. Amerikanische Evidenz aus 6 Monaten, München 1971; vgl. Kursbuch 22, 1970, S. 1–44. Seize the Time. Sozialrevolutionäre Gruppen in den USA. Eine Dokumentation, in: Kursbuch 22, Dezember 1970, S. 87–114, hier S. 89; dort auch das Interview mit Herbert Marcuse, ebd., S. 46.

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Mentoren der APO, schon während einer Demonstration in Berlin im Oktober 1967 unmissverständlich gebracht: Ein „Sieg des imperialistischen Amerika über das demokratische Amerika“ würde auch das „Ende der Demokratie in Deutschland bedeuten“. Die „Brutalisierung der amerikanischen Außenpolitik“ sei identisch mit einer „Brutalisierung der amerikanischen Innenpolitik“ und werde vergleichbare Auswirkungen auf die Verhältnisse in Deutschland zeitigen.50

Schluss: War die Neue Linke nun antiamerikanisch? Zweifellos war die Neue Linke der 1960er Jahre eine sehr breite Bewegung und ein heterogenes Phänomen, und es müssten viele weitere Differenzierungen vorgenommen werden, lässt sich doch eine so umfassende und umstrittene Frage wie die nach dem Antiamerikanismus von „1968“ kaum mit einem eindeutigen „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Die Antwort lautet „ja“, wenn darunter eine grundsätzliche Distanzierung von dem verstanden werden soll, wofür Amerika in den Augen der überwiegenden Mehrheit der Anhänger der Neuen Linken und ihrer ideologischen Vordenker stand: Die liberal-kapitalistische Variante der Moderne, mit ihren tatsächlichen oder vermeintlichen imperialistischen Tendenzen, die im Gefolge der klassischen Imperialismus-Theorien in einen neuen Faschismus zu münden drohte. Aber in diesem Sinne müsste dann auch gesagt werden, dass „1968“ antibundesrepublikanisch war. Die Neue Linke lehnte das Grundgesetz und die durch das Grundgesetz geschaffene politische und gesellschaftliche Ordnung im Großen und Ganzen ab. Dieses amerikanische Deutschland entsprach so ganz und gar nicht ihrer politischen Vision. „Nein“ wäre die Antwort, wenn darunter verstanden werden soll, dass die Neue Linke sich nicht in einer Allianz mit den Unterdrückten in den USA selbst gesehen hätte und auch real sich aus amerikanischer Sicht in einer solchen weltweiten Allianz befand, und „nein“, auch wenn man nicht akzeptiert, dass auf das politische System und die Gesellschaft der USA als Ganzes gerichtet Kritik – also Antiamerikanismus nach unserer Definition – durchaus mit Sympathie für Amerika, für Menschen in den USA, und für amerikanische Populärkultur existieren kann. Das macht den dahinter liegenden politischen Irrtum nicht geringer, aber es kontextualisiert ihn auf andere Weise. Diese Unterscheidung erlaubt mir mit einem positiven Schlussresümee zu enden: Aufgrund der wechselseitigen Durchdringung der Gesellschaften und der stark angestiegenen Kommunikation über den Atlantik hinweg, ist der sogenannte Antiame50

Rede Gollwitzers bei der Vietnam-Demonstration in Berlin, 21. Oktober 1967, zit. nach Juchler, S. 250.

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rikanismus regelmäßig von inneramerikanischer Kritik inspiriert worden. „Kritik an Amerika“, war daher immer wieder auch „eine Kritik mit Amerika“ gewesen. Wir wissen nicht, ob künftiger Protest seine Vorbilder weiter in den USA suchen wird. Wenigstens scheint der jüngste Schub der weltweiten antikapitalistischen Protestbewegung („Occupy“; „Anonymous“) auch aus den USA inspiriert worden zu sein. Er wurde dort jedenfalls dynamisiert, nachdem er zuvor in Israel und Spanien begonnen hatte. Was auch immer die Zukunft bringt: Für die letzten 60 Jahre hingegen sind Konflikte und die Ablehnung des „Amerikanismus“ nicht zuletzt auch Ausdruck der Ausstrahlungskraft der amerikanischen Kultur in der Welt gewesen.

Die „68er“-Bewegung und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik – Motor, Katalysator oder Profiteur?1 Gerd Langguth

Als im Januar 2001 über die Vergangenheit des einstigen Vizekanzlers und Außenministers der Bundesrepublik Deutschland Joschka Fischer so heftig diskutiert wurde, fand zum ersten Mal in Deutschland überhaupt eine Geschichtsdebatte zur 68er Revolte statt, die nicht nur auf esoterische Zirkel und Feuilletons der Tageszeitungen oder Wochenmagazine beschränkt war. Eigentlich war eine solche Debatte schon längst überfällig. Sie wurde bis dahin weitgehend durch eine mythologisierende Form von Feiertagsrhetorik aus Anlass etwa der zwanzigsten oder dreißigsten Wiederkehr des Jahres „1968“ verdrängt. In der überwiegenden Mehrzahl kamen Zeitzeugen zu Wort, die mit jener Aufbruchsstimmung sympathisierten. Da die deutsche Geschichte arm an demokratischen Revolutionen ist, deuteten manche die 68er-Revolte als eine Art „historische Neugründung“ der damaligen Bundesrepublik, also als einen revolutionären Ursprungsakt der Bundesrepublik Deutschland. Es wurde sogar von einer „zweiten Geburt der Demokratie in Deutschland“ gesprochen. In einem dieser Beiträge sagte ein ehemaliger Aktivist, der zugleich Autor und Sprecher in dem Film Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin war, folgendes: „Wer als engagierter, politisch bewusster Student damals nicht auf die Straße oder in Initiativen gegangen ist, der hat, genau genommen, nicht richtig gelebt.“ Solche Sätze belegen den Absolutheitsanspruch jener „Rebellion“, der auch einer der Gründe für ihre Anziehungskraft vor allem auf die damalige studentische Jugend war. Wer sich nicht zu dieser Bewegung bekannte oder im weiteren Sinne nicht „links“ war, galt leichthin als „liberal“ oder, schlimmer noch, als „reaktionär“, als „Handlanger der Monopole“, als „Strichjunge der bürgerlichen Klassenjustiz“ oder als „kleriko-faschistoid“. Solche Begriffe mögen heute humorvoll erscheinen, doch sie bestätigen eine höchst emotionalisierte und polarisierte Situation. Diese ist heute nach einem Abstand von über dreißig Jahren nur noch schwer zu vermitteln. 1

Quellenangaben, sofern nicht anders vermerkt, siehe: Gerd Langguth, Mythos ’68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke – Ursachen und Folgen der Studentenbewegung, München 2001.

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Zweifelsohne hat diese Revolte bis in die Gegenwart Auswirkungen auf die politische Kultur unseres Landes. Da aber die Debatten der Gegenwart über jene Zeit häufig Rechtfertigungscharakter haben, ist heute zwangsläufig eine „objektive“ Diskussion außerordentlich schwer. Doch setzte mit der Fischer-Debatte langsam ein Umdenken in der Bewertung jener Vorgänge ein. Allerdings dient es nicht der Objektivierung, wenn die Interpretationsmacht für die 68er von alt gewordenen 68ern monopolisiert wird. Eine saubere wissenschaftliche Analyse gebietet es zudem, eine Bewegung nicht – wie das so häufig geschieht – nach ihren Folgen, sondern in erster Linie nach ihren Zielen zu beurteilen. Nur dann nimmt man den Impuls einer politischen Bewegung auch wirklich ernst, wenn man sich mit ihren Zielen und Utopien beschäftigt. In jener relativ kleinen Zeitspanne des Jahres 1967 und 1968 war der „Sozialistische Deutsche Studentenbund“ (SDS) das eigentliche Führungszentrum jener Revolte. Unbestreitbar verlor der SDS damals jeden positiven Bezug zur Parlamentarischen Demokratie und entwickelte sich immer mehr zu einem Kampfverband, der ein fragwürdiges Verhältnis zur Gewalt entwickelte, in dem sich unüberschaubar die Tendenzen verstärkten, Westdeutschland in eine Erziehungsdiktatur umwandeln zu wollen. Einige ehemalige Aktivisten der „außerparlamentarischen Opposition“ bestätigen heute durchaus den antidemokratischen Charakter der 68er-Revolte. „Dass schon die Ideologeme der originären 68er-Bewegung – und keineswegs erst die neokommunistischen Plattformen der siebziger Jahre – einen entschieden antiliberalen, antidemokratischen (ebenfalls antiparlamentarischen) und antiwestlichen Charakter getragen haben, ist eine unschwer nachweisbare Tatsache.“ Dies schrieb der frühere SDS-Funktionär und der Aktivist in verschiedenen sogenannten „K-Gruppen“, Gerd Koenen, in seinem im Frühjahr 2001 erschienen Buch Das rote Jahrzehnt. Er fügte hinzu: „Alles andere hätten wir auch damals schon als Beleidigung empfunden.“ Sicher traf dieser von Koenen konzedierte antidemokratische Impetus in der Anfangszeit nicht auf alle zu, die zunächst gegen den Vietnamkrieg demonstrierten oder den „Muff unter den Talaren“ bekämpften. Doch wurden die antidemokratischen Tendenzen dieser Revolte immer sichtbarer. Jürgen Habermas, fürwahr kein Konservativer, sprach sogar schon früh von einem „linken Faschismus“. Warum aber kam es ausgerechnet im Januar 2001 zu jener Geschichtsdebatte in der Bundesrepublik Deutschland? Denn im Prinzip war spätestens mit dem Erscheinen der Fischer-Biographie des früheren Titanic-Redakteurs Christian Schmidt Wir sind die Wahnsinnigen aus dem Jahre 1998 alles Wesentliche über das politische Vorleben des inzwischen politisch arrivierten Politikers bekannt. Es war die Kraft der Bilder, des Visuellen, die die deutsche Öffentlichkeit aufrüttelte.

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Den Recherchen der Schriftstellerin Bettina Röhl, Tochter der Terroristin Ulrike Meinhof und des früheren Konkret-Publizisten Klaus Reiner Röhl, ist es zu verdanken, dass wieder alte Bilder – Fotografien wie Fernsehmitschnitte – ausgegraben wurden, die zeigen, wie ein junger Polizeibeamter als Repräsentant eines angeblichen „Schweinesystems“ bei einer jener legendären Straßenschlachten in Frankfurt wehrlos am Boden lag, von Mitgliedern einer in der linken Szene ebenfalls legendären „Putzgruppe“ getreten und verletzt und gezeigt wurde, wie der einstige Außenminister „hinzutrat“. Diese Szenen, mehrfach im Fernsehen gezeigt, erschütterten die Deutschen. Eine Bundestagsdebatte über die Fischer-Aktivitäten führte bei dem Fernsehsender Phoenix zum Einschalten von über 700.000 Zuschauern. Bei der zweiten Wiederholung am späten Abend waren es gar zeitweise 1,5 Millionen, insgesamt fast eine Verzehnfachung der durchschnittlichen Einschaltquote. Allerdings tat sich auch die CDU schwer mit einer Kritik an Fischer, denn angesichts der positiven Einschätzung von „1968“ in der Bevölkerung schien er manchen sakrosankt, unangreifbar. Doch die Heftigkeit der Diskussion und die in deren Verlauf bekannt gewordenen Fakten führten bald zu einem Kurswechsel in der öffentlichen Debatte. Die Diskussion um „68“ war aber jetzt nicht mehr nur eine abstrakte, sondern sie wurde konkret mit einer Person verbunden, an der sich die Geister schieden. Fischer überlebte diese Diskussion politisch, zumal der Verdacht, er habe in seiner eigenen unmittelbaren Frankfurter Wohnung – er lebte damals in einer Wohngemeinschaft – die spätere Terroristin Margrit Schiller beherbergt, nicht belegt werden konnte. Auch konnten keine Beweise dafür erbracht werden, Fischer habe selber „Molotow-Cocktails“ bei Straßendemonstrationen geworfen, was er selbst heftig bestritt. Auch wenn die entsprechenden Ermittlungsverfahren gegen Fischer durch die Staatsanwaltschaft eingestellt wurden, sind seitdem die Diskussionen um „68“ differenzierter. Dass insgesamt eine „Historisierung“ jener Zeit einsetzt, hängt auch mit dem Zeitablauf zusammen: Für die derzeitige studentische Jugend war die Studentenrevolte zur Zeit dieser Debatte 40 Jahre entfernt. Für die einstigen Aktivisten der früheren APO lag das Ende des Zweiten Weltkrieges etwa 20 Jahre zurück. Gerade weil die 68er-Revolte mythologisiert wurde, ist es jetzt Zeit, sich unvoreingenommen damit wieder zu beschäftigen. Eine Leitfrage sollte allerdings gestellt werden: Wie konnte es kommen, dass diese gleichwohl nur auf Studenten und Oberschüler begrenzte Revolte eine solche Faszination auf junge Intellektuelle ausübte und einige von ihnen bis hin zum Terrorismus führte. Auch Koenen fragt, „woher diese von lebendigen Erfahrungen und Interesse fast unberührte, abstrakte Theorieund Organisationswut, diese jederzeit abrufbare Militanz und Empfänglichkeit für

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weltrevolutionäre Phraseologien überhaupt kamen.“ Hier ist sicherlich die Mitverantwortung einer Gesellschaft zu sehen, aber auch die Tatsache der prinzipiellen Verführbarkeit junger Intellektueller für elitistische, romantisierende, utopistische und irrationale Theorien. Brüche gab es immer schon zwischen Älteren und Jüngeren, man denke in diesem Zusammenhang nur an die Wandervogelbewegung im zeitlichen Umfeld des Ersten Weltkrieges. Es ist aber umstritten, ob es sich bei „68“ mehr um eine politische Bewegung oder um eine „Jugendbewegung“ handelte. Wie immer man Fischers Vergangenheit interpretieren mag: Er und manche seiner einstigen Mitkämpfer sind ein Beleg für die große Integrationsfähigkeit einer Demokratie, in der selbst der damals angekündigte „lange Marsch durch die Institutionen“ nicht zu einer „neuen Republik“ geführt hat, sondern zu der Einsicht, dass eine Demokratie von der Auseinandersetzung lebt – auch von einem Streit über die eigene Vergangenheit. Derselbe Fischer, der als Oppositionspolitiker manche der früheren Regierenden mit ätzendem Spott übergoss, musste nun selber erleben, wie schnell aus einem Liebling der Medien ein Hinterfragter werden konnte.

Die Protestrevolte kam überraschend Die von SDS angeleitete 68er-Revolte kam überraschend. Helmut Schelsky erklärte 1963: „Aber was sich auch ereignen mag, diese Generation wird nie revolutionär in flammender kollektiver Leidenschaft auf die Dinge reagieren. Sie trägt kein Bedürfnis in sich, elitäre Gemeinschaften zu stiften oder Ordnungsprinzipien zu verwirklichen. Sie wird alles Kollektive ablehnen, ohne daraus ein Gegenprogramm zu machen.“ Und Ludwig von Friedeburg erklärte 1965: „Überall erscheint die Welt ohne Alternativen, passt man sich den jeweiligen Gegebenheiten an, ohne sich zu engagieren, und sucht sein persönliches Glück im Familienleben oder Berufskarriere. In der modernen Gesellschaft bilden Studenten kaum mehr ein Ferment produktiver Unruhe.“ Die Ursachen jener Protestbewegung sind vielfältig und nicht monokausal zu erklären. Es muss ferner zwischen verschiedenen Phasen unterschieden werden. Außerdem handelt es sich nicht nur um ein deutsches Phänomen, sondern um ein weltweites. Allerdings gab es deutsche Sonderfaktoren. Im engeren zeitlichen Rahmen konzentrierte sich die Studentenrevolte in den Jahren 1967/1968. In diesem Zeitraum war der SDS der entscheidende Fokus für politische Aktionen. Zu den wichtigsten Daten jener Zeit gehören vor allem der 2. Juni 1967 (Tod des Studenten Benno Ohnesorg) und der 11. April 1968 (Anschlag auf Rudi Dutschke). Eigentlich

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könnte auch „1967“ als Chiffre für die Studentenrevolte in Deutschland benutzt werden. Am Abend des 2. Juni 1967 wurde in Berlin bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien der Student Benno Ohnesorg von dem Polizeibeamten Kurras erschossen, woraufhin es in West-Berlin und in vielen anderen Hochschulorten der Bundesrepublik Deutschland zu zahlreichen Massenkundgebungen kam. Was damals nicht bekannt war, ist, dass jener Polizeibeamte, Kurras, gleichzeitig im Dienst der ostdeutschen Staatssicherheit stand. Kurras wurde als Repräsentant eines westdeutschen Faschismus dargestellt. Viele „linke“ Sympathisanten haben sich wegen der Ereignisse um den 2. Juni engagiert. Sie hätten sich niemals links positioniert, hätten sie gewusst, dass Kurras ein Stasi-Mitarbeiter war und sicher wären die Massenkundgebungen anders verlaufen. Jedoch ist bis heute nicht klar, ob die Staatsicherheit Kurras zum Todesschuss beauftragt hatte, um damit eine entsprechende Stimmung in der Studentenschaft herbeizuführen. Danach setzte eine schnelle Politisierung der bundesdeutschen Hochschulen ein. Doch 1968 war das noch ereignisreichere Jahr. Allerdings ist die Vermutung falsch, erst mit jener Studentenrevolte habe es ein Aufbegehren gegen die Politik im Nachkriegsdeutschland gegeben. Denn schon in den frühen Jahren der Bundesrepublik kam es immer wieder zu Kundgebungen oder Unruhen. Zu nennen ist beispielsweise die „Ohne-Mich-Bewegung“ in den fünfziger Jahren, die gegen die Westintegration der Bundesrepublik und gegen die Wiederbewaffnung Front machte. Auch das Phänomen der „Halbstarken“ um 1958 oder die „Schwabinger Krawalle“ vom Juni 1962 seien angeführt. Letztere entstanden, als die Polizei versucht hatte, zwei Straßenmusikanten wegen „ruhestörenden Lärms“ festzunehmen. 1960 setzten die „Ostermärsche“ gegen die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Beispiele zeigen, dass auch schon in der so bekämpften „Adenauer-Ära“ Protestaktivitäten und Jugendrebellion gang und gäbe waren.

Geschichte und Bedeutung des SDS Zur Geschichte des SDS wäre viel zu sagen. Verwiesen sein soll hier vor allem auf den Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD vom 6. November 1961 hinsichtlich einer gleichzeitigen Mitgliedschaft im SDS und der SPD. Der SDS, der den Schwenk der SPD zum „Godesberger Programm“ nicht nachvollzogen und sich unter anderem gegen einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag gewandt hatte, hatte sich noch im Oktober 1960 auf einer Delegiertenkonferenz ausdrücklich zur Zusammenarbeit mit der SPD bekannt. Die Abspaltung der SPD führte alles in allem eher zu einer stärkeren Radikalisierung, weil die Integrationskraft der SPD fehlte.

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Auch sei nicht ausführlicher berichtet über den „antiautoritären“ Charakter der Studentenrevolte, die zu Beginn eher ein Aufbegehren von Linksliberalen in Berlin war: Der FU-Rektor hatte am 7. Mai 1965 die Teilnahme des Schriftstellers Erich Kuby an einer Podiumsdiskussion in der FU durch Hausverbot verhindern wollen. Kuby hatte sich kritisch zur FU geäußert. Daraufhin demonstrierten etwa 500 Studenten. Das Konfliktpotential erweiterte sich, auch mit Hilfe neuer Demonstrationstechnik wie „go-ins“ und „sit-ins“ und dem Prinzip der „begrenzten Regelverletzung“. Diese damals in Deutschland noch unbekannten Durchsetzungsformen wurden in bewusster Anlehnung an studentische Vorbilder der kalifornischen Universitätsstadt Berkeley übernommen. Doch kann gesagt werden, dass sehr bald eine Radikalisierung erfolgte, auch gegen Repräsentanten der „Frankfurter Schule“. Manche sahen in dieser eine „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“. Vielfach wurden die umfangreichen und höchst abstrakten Werke von Horkheimer, Adorno, Marcuse, Bloch, Lukács, Habermas und anderen eklektisch wie ein Steinbruch genutzt – und nicht alle Stichwortgeber waren erfreut über die praktische Wirkung ihrer theoretischen Analysen. Sie wurden deshalb – fast in einem Akt des „Vatermords“ – von der studentischen Linken verstoßen. Während sich Horkheimer bereits nach Montagnola bei Luzern zurückgezogen hatte, wurde der einst verehrte Adorno Zielscheibe studentischer Attacken. Ihm warf man „Seminarmarxismus“ vor, man verzieh ihm nicht, dass und wie er Gewalt kritisierte, die er häufig als „Akt der Barbarei“ bezeichnete. Als er einen Vortrag an der Freien Universität Berlin über „Iphigenie“ von Goethe halten wollte, verteilte die „Kommune 2“, die ein wirklich ästhetisches Spektakulum ankündigte, ein Flugblatt, in dem es unter anderem hieß: „Was soll uns der alte Adorno und seine Theorie sagen, die uns anwidert, weil sie nichts sagt, wie wir diese Scheiß-Uni am besten anzünden und einige Amerikahäuser dazu – für jeden Terrorangriff auf Vietnam eines.“ Entsprechend turbulent ging es auf dieser Veranstaltung zu. Am 31. Januar 1969 kam es in Frankfurt am Institut für Sozialforschung ebenfalls zu heftigen Auseinandersetzungen. Als deshalb Adorno auch noch die Polizei zu Hilfe rief und eine Räumung herbeiführen ließ, verzieh ihm die studentische Linke das nie. Denn sie ging von dem theoretischen Konstrukt der Universität als „befreiten Räumen“ aus. Jeder, der nach einem Polizeieinsatz auf dem Campus, den man gerne als rechtsfreien Raum sah, rief, galt als ein Paktierer mit einem zumindest „faschistoiden“ Staat. Im Sommersemester 1969 – wenige Monate vor seinem Tod im Jahre 1969 – stürmten im Rahmen systematischer Störungen seines Vorlesungsbetriebes Studentinnen mit entblößtem Oberkörper das Podium. Adorno resignierte.

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Einem Angehörigen der Frankfurter Schule aber gelang es bis zuletzt, die Sympathie der rebellierenden Studenten zu erhalten, dem während der Zeit der Studentenrevolte in San Diego lehrenden Herbert Marcuse. Er war im Gegensatz zu seinen anderen Kollegen der Frankfurter Schule nicht aus der Emigration nach Deutschland zurückgekehrt. Er wurde zum eigentlichen Vordenker der studentischen Rebellion in Deutschland. Ihn freute es sichtbar, den Schulterschluss mit einem Teil der jungen Generation in Deutschland hergestellt zu haben, dem er seine schlagartige Bedeutung als weltweit bekannter praktischer Philosoph verdankte. Er lehnte es bis zuletzt ab, sich von den Gewaltaktivitäten, die sich im Umfeld der SDS-Agitation ergeben hatten, zu distanzieren. Marcuse hatte eine enorme Überzeugungskraft gegenüber der studentischen Linken entwickelt. Er vertrat unter anderem die Auffassung einer „Konvergenz“ der westlichen und der sowjetischen „spätindustriellen Zivilisation“. Diese Konvergenztheorie sollte vor allem die Studentenbewegung stark beeinflussen. Besonders viel gelesen wurde sein Aufsatz Repressive Toleranz. Am Ende dieses Aufsatzes schreibt er: „Aber ich glaube, dass es für Unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ‚Naturrecht‘ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. [. . . ] Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn Sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, Ihnen Enthaltung zu predigen.“

Dutschke und das Konzept Stadtguerilla Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger war einst ein bedeutender Inspirator und Mentor der Studentenrevolte. Heute wird er nur ungern daran erinnert. Mit der Gründung der Zeitschrift Kursbuch ermöglichte er frühzeitig den intellektuellen Diskurs der Neuen Linken in Deutschland. Der berühmte und inzwischen mit vielen Preisen ausgezeichnete Autor gab 1969 einer kubanischen Kulturzeitschrift ein Interview, das in dem folgenden Satz kulminierte: „Gegenwärtig veranschaulicht uns eine Organisation wie die Tupamaros in Uruguay Formen des Kampfes, die direkt auf Europa angewandt werden können und müssen.“2

2

Interview mit der kubanischen Kulturzeitschrift Casa Las Américas, erschienen im Spätsommer 1969, abgedruckt bei: Reinhold Grimm (Hg.), Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1984, S. 115; zu Hans Magnus Enzensbergers Wirken zu Beginn der Studentenrevolte vgl.: Gerd Langguth, So harmlos war er nicht, in: Cicero 3, 2008.

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Die Tupamaros waren eine Guerillabewegung in Uruguay, die aus sozialrevolutionären Kämpfen der 60er Jahre hervorgegangen ist und von 1963 bis in die siebziger Jahre im illegalen Untergrund tätig war. Manche haben noch Ende der sechziger Jahre solche Aussagen wie die von Enzensberger nicht für bare Münze genommen, als rein theoretisch abgetan. Aber in der historischen Analyse führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass sich schon bald innerhalb der studentischen Protestbewegung auch Tendenzen herausgebildet hatten, die Gewalt als Möglichkeit des politischen Kampfes nicht ausschlossen.3 Die Vorbildrolle der Tupamaros für den Kampf in den Industrieländern sollte auch der legendäre SDS-Führer Rudi Dutschke betonen. Dutschke war der erste, der das Konzept „Stadtguerilla“ propagierte. Er predigte, dass das zuerst von den Tupamaros in Montevideo entwickelte Konzept der Stadtguerilla, das von dem brasilianischen Kommunisten Carlos Marighela seit Ende 1969 in Sao Paulo praktiziert und im Handbuch des Stadtguerillero kanonisiert wurde, in auf Europa angepasster Form auch auf Deutschland übertragen werden sollte. „Gewalt“ und Studentenrevolte waren keineswegs identisch. Als Mitte der sechziger Jahre in Berlin die ersten studentischen Protestaktivitäten geschahen, war das auch ein Protest gerade von Linksliberalen und Basisbewegten, meist von Studenten, die noch an die Reformfähigkeit von Hochschulen und der Gesellschaft insgesamt glaubten und jede Gewalt ablehnten. Die anfangs überwiegend friedliche Studentenrevolte wurde nach dem tragischen Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und dem Anschlag auf Rudi Dutschke 1968 von einigen Ideologen immer mehr in eine gewalttätige Richtung kanalisiert, was dazu führte, dass sich viele von der Studentenrevolte abwandten. Nicht allen, die damals die theoretische Diskussion über Gewalt geführt hatten, war klar, dass sich aus einer solchen Diskussion heraus eine Tendenz bilden würde, die extreme Gewalt für legitim hielt und daher etwa die spätere Rote Armee Fraktion (RAF) bildete. Der Extremismusforscher Wolfgang Kraushaar meint heute, es sei eine Tendenz unverkennbar, „dass von ehemaligen Akteuren trotz allen autobiographisch gefärbten Bekennerdrangs zuweilen falsche Fährten ausgelegt oder Gedächtnisschwund und Erinnerungsverlust angeführt werden, um die Schutzfunktion auch im Nachhinein zu erneuern.“4 Im Laufe der Zeit sollte es mehr und mehr studentische Gruppen geben, die den gewaltsamen Widerstand propagierten. 3

4

Die Diskussion um den Zusammenhang der Studentenrevolte mit dem Aufkommen gewaltsamer und terroristischer Tendenzen setzte vor allem ab 2001 ein, vgl. hierzu: Gerd Langguth, Mythos ’68; Wolfgang Kraushaar, Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, in: Wolfgang Kraushaar/Karin Wieland/Jan Philipp Reemtsma, Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg 2005; Jan Bulig, Von der Provokation zur Propaganda der Tat. Die „Antiautoritäre Bewegung“ und die Rote Armee Fraktion (RAF), Bonn 2007. Wolfgang Kraushaar, Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, S. 14.

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Sie konnten ideologisch an die Gruppen der „antiautoritären“ Revolte anknüpfen, die zumindest theoretisch Gewalt als Mittel der Politik gerechtfertigt hatten – und sei es nur in einer „feinsinnigen“ Differenzierung von Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen. Die zentrale These diese Kapitels ist, dass durch eine solche Gewaltdiskussion die Immunisierung gegen Gewalt geringer wurde, dass die friedensstiftende Funktion des Rechts relativiert wurde, dass in Teilen der Studentenschaft das Gewaltmonopol des demokratischen Staates, den man zunehmend mit dem Faschismusverdacht belegt hatte, nicht mehr akzeptiert wurde. Dadurch wurde es erleichtert, dass sich Gruppen bildeten, die sich durch offene gewalttätige Aktivitäten der Ordnungsgewalt der Demokratie widersetzten – seien es die einstigen Straßenkämpfer der militanten Szene, etwa der Hausbesetzter, seien es die Terroristen der „Rote Armee Fraktion“, die ab 1970 entstand. Rudi Dutschke wurde von Walter Jens noch 1981 als ein „friedliebender, zutiefst jesuanischer Mensch“5 bezeichnet. Er hat jedoch durch seine Revolutionsrhetorik jener Enttabuisierung von Gewalt Vorschub geleistet. Bevor Dutschke am 27. Januar 1965 in den Berliner SDS eintrat, war er in der „Subversiven Aktion“ tätig. Hier handelte es sich um jüngere intellektuelle Studenten in München, Berlin, Stuttgart und Hamburg. Interessant ist, dass sich in jener Zeit Dutschke in einem unter Pseudonym erschienenen Artikel mit der stalinistischen Vergangenheit der Sowjetunion auseinandersetzte und in der Zeitschrift Anschlag argumentierte, dass in der Sowjetunion seit 1925 keine echte marxistische Analyse betrieben worden sei, dass marxistische Dialektik, das heißt revolutionäre Aufdeckung und Beseitigung der in der Gesellschaft bestehenden Widersprüche, im Interesse der Machterhaltung der Bürokraten und Technokraten ausgeschaltet worden sei. Auch wenn Dutschke als „Abhauer“ aus der DDR alles andere als ein strammer Kommunist im Sinne der SED war, so verstand er sich in diesem Aufsatz doch als ein junger Kommunist, der leidenschaftlich die russische Oktoberrevolution verteidigte. Denn im Zusammenhang mit der Erhebung der Kronstädter Matrosen vom März 1921 gegen die Sowjetregierung – sie waren, wie Dutschke selber zuerkannte, „der schon vier Jahre dauernden revolutionären Belastungen müde“6 – bestätigte er, dass „Lenin und Trotzki gezwungen“ waren, „die ehemaligen revolutionären Brüder, die Matrosen und Soldaten von Kronstadt und deren Aufstand niederzuschlagen. Hier hatte die repressive Gewalt, der Terror eine 5 6

Walter Jens, „Rudi – ein großer Deutscher“, in: taz, 24. Dezember 2004. Vgl. dazu die Artikel von A.J. (A. Joffé, Pseudonym von Rudi Dutschke), in: Anschlag Nr. 1, August 1964: Die Rolle der antikapitalistischen, wenn auch sozialistischen Sowjetunion für die marxistischen Sozialisten in der Welt, in: Frank Böckelmann/Herbert Nagel (Hg.), Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern, Frankfurt am Main 1976, S. 170.

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eindeutig aus der Situation heraus zu rechtfertigende soziale Funktion. Es geht uns nicht um eine Rechtfertigung jedweder Repression. Wir marxistischen Sozialisten unterscheiden sehr genau zwischen notwendigem und zusätzlichem Terror.“7 Und zugleich fragte er: „Wie viel Terror (vom Gesinnungsterror bis zum physischen Terror) benötigt nicht schon ein bürgerlich-kapitalistischer Staat, um ,seine Ordnung‘ aufrecht zu erhalten?“8 Dutschke unterschied also zwischen „notwendigem und zusätzlichem Terror“. Es war viele Jahre nicht bekannt, dass Dutschke gerade diesen Aufsatz geschrieben hatte. Mit dem Hinweis auf diese Ausführungen Dutschkes soll nicht suggeriert werden, er habe hier schon frühzeitig späteren terroristischen Erscheinungen das Wort geredet. Seine Stellungnahme zeigt aber, wie sehr er damals bereits prinzipiell die Ideologie des Marxismus-Leninismus akzeptiert und innerlich verarbeitet hatte. Sein Wegbegleiter Bernd Rabehl, der sich heute politisch nach ganz weit rechts entwickelt hat, charakterisiert Dutschke mit dem Argument, er sei „groß geworden im protestantischen Christentum und hatte als Student und Heranwachsender die biblischen Propheten ersetzt durch die großen Theoretiker des Marxismus und Anarchismus. Er hat ein gläubiges Verhältnis zur Theorie und Ironie oder gar Zynismus waren ihm fremd.“9 Wie sehr sich der SDS immer mehr radikalisierte, sieht man gerade am Beispiel der sogenannten „Viva-Maria-Gruppe“, deren SDS-Mitglieder eine „Fraktion“ innerhalb dieses Studentenverbandes waren und die aus Dutschke, Rabehl und anderen bestand. Sie ist benannt nach einem Filmspektakel von Louis Malle, in dem Brigitte Bardot und Jean Moreau Anarchismus und Marxismus symbolisierten, die sich zusammenfanden und eine Einheit bildeten und eine siegreiche Revolution in Gang setzten.10 Inspiriert war diese Gruppe, die sich am Kochelsee in Oberbayern eingefunden hatte, vor allem von Ideen des Anarchismus. Gastgeber war das SDS-Mitglied Lothar Menne, Sohn eines Textilfabrikanten. Er sollte im Herbst 1966 nach Guatemala einreisen, wo er sich zeitweise den Fuerzas Armadas Rebeldes (FAR) anschloss.11 Am Kochelsee waren unter anderem versammelt: Die späteren „Kommune I“-Mitglieder Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann sowie das spätere RAF-Mitglied Jan Carl Raspe, ferner Bernd Rabehl und Rudi Dutschke.12 Kunzelmann sollte sich bereits im Herbst 1969 von den Palästinensern militärisch ausbilden lassen und dann in

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Ebd. Ebd. Bernd Rabehl, Linke Gewalt. Der kurze Weg zur RAF, Schnellroda 2007, S. 35. Vgl. hierzu: Bernd Rabehl, Die APO und ihre Anstöße, in: Helmut Geiger/Armin Roether (Hg.), Dutschke und Bloch. Zivilgesellschaft damals und heute, Mössingen-Talheim 1999, S. 98. Zu dessen Rolle vgl.: Lothar Menne, 1968. Unter dem Pflaster lagen die Träume, München 2008. Vgl. Bettina Röhl, So macht Kommunismus Spaß! Hamburg 2006, S. 537.

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den Untergrund abtauchen.13 Die Gruppe befasste sich insbesondere mit Fragen der Gründung einer Kommune. Die sogenannte „Viva-Maria-Gruppe“ löste im Februar 1966 innerhalb des Berliner SDS eine intensive Auseinandersetzung über die Gewaltfrage aus. Das Flugblatt, das sich gegen den Krieg in Vietnam richtete, war von einer „Internationalen Freiheitsfront“ unterschrieben. Einige forderten wegen der Gewalttheorie den Ausschluss der Dutschke-Gruppe aus dem Berliner SDS-Landesverband, der jedoch abgelehnt wurde. Wie sehr Dutschke die Gewaltdiskussion führte, zeigen die nachfolgenden Beispiele: Im Zusammenhang mit der genannten Plakataktion14 legte Rudi Dutschke am 13. Februar 1966 in einem Referat den theoretischen Standort dieser Gruppe dar, präzisierte den Zusammenhang zwischen Dritter Welt und den hochindustrialisierten kapitalistischen Ländern und sagte unter anderem: „Der Kampf der Vietcong oder der MIR in Peru sind unsere Kämpfe, müssen bei uns tatsächlich über rationale Diskussion und prinzipiell illegale Demonstrationen und Aktionen in bewusste Einsicht umfunktionalisiert werden – eine riesige, fast unlösbare Aufgabe.“15 Dutschke ging es in diesem Referat unter der Überschrift Fokustheorie in der Dritten Welt und ihre Neubestimmung in den Metropolen um eine Übertragung von Ché Guevaras Guerilla-Theorie vor allem auf die West-Berliner Verhältnisse. Dutschke wollte Lenins Theorie des „schwächsten Gliedes“ auf die Situation in West-Berlin und die westlichen Großstädte anwenden. Was für Dutschke in der Dritten Welt die Slums und Ghettos der Großstädte waren, war für ihn im Westen das „Gegenmilieu mit subkultureller Dynamik“, das die Ausgangsbasis für den städtischen Kampf darstellen sollte. Dutschke wollte eine Art „Gegenmilieu“ schaffen, das Rückhalt für den „langen Marsch durch die Institutionen“ bilden sollte. „Wir sollten einfach festhalten, dass wir in einer Übergangsperiode sind. Wir haben am schwächsten Glied innerhalb der Gesellschaft, in der Universität begonnen. Schwach darum, weil vom Staatsapparat weit entfernt, und weil unsere Möglichkeiten, autoritäre Strukturen direkt anzugreifen, sehr groß waren. Dieses schwächste Glied konnten wir anfangen zu politisieren, aber es ist ein erstes, schwaches Glied. Weitere schwache Glieder: die Berufsschulen, Schulen und auch Betriebe der stagnierenden Produktionszweige z.B. wären weitere Etappen des langen Marsches durch die Institutionen und durch die schwachen Glieder, um eine Politisierung breiterer Schichten auch außerhalb der Jugendbewegung 13 14

15

Eckhard Jesse/Dieter Kunzelmann, Kein Nachruf auf einen Bürgerschreck, in: Die Welt, 12. Juli 1999. Vgl. hierzu u.a.: Rudi Dutschke, Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt, in: Uwe Bergmann/Rudi Dutschke/Wolfgang Lefèvre/Bernd Rabehl, Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 66f. Ebd., S. 69.

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zu erreichen.“16 Damit ist ein Kernpunkt der revolutionären Überlegungen Dutschkes herausgearbeitet: Für ihn war die Universität das „schwächste Glied“, von dem aus mit dem „langen Marsch durch die Institutionen“ begonnen werden sollte. Sie stellte für ihn einen „Fokus“17 dar, von dem aus „kleinste Guerilla-Einheiten“ ihren Ausgang nehmen würden, die in einem langen Prozess die „Aufstandsphase der Revolution“ einleiteten. Dafür sollte ein „urbaner militärischer Apparat“ aufgebaut werden, bestehend aus Parallelorganisationen der „Selbstverteidigung“ und sogenannten „T.u.Son-Gruppen“. Mit ihnen sollte irgendwann zur „Konteroffensive“ übergegangen werden.18 Vom 12. bis zum 20. März 1966 wurden vom inneren Kreis auf einem SDS-Seminar zum Thema Zur Geschichte der Arbeiterbewegung19 im Naturfreundehaus in Oberreichenberg (Taunus) die kontroversen Punkte des revolutionären Kampfes heiß diskutiert. Anwesend waren auch Anhänger orthodox-marxistischer Standpunkte, also Vertreter „klassischer“ linkssozialistischer SDS-Positionen, die nicht zum sofortigen gewaltsamen Umbruch bereit waren, und schließlich Befürworter der Konzeption Dutschkes und Rabehls. Letztere stützten ihre Gedanken und Forderungen auch auf den Anarchismus, griffen auf Bakunin, Texte des russischen Revolutionärs Sawinkow (Ropschin) sowie auf Überlegungen Ché Guevaras und anderer südamerikanischer Anhänger von Stadtguerilla-Aktionen zurück.20 Die ideologisch traditionell orientierten SDS-Genossen wollten mit Hilfe dieses Seminars den ideologischen Einfluss, den die „Subversiven“ verursachten, begrenzen. Die kontroverseste Frage war die nach dem „revolutionären Subjekt“ und insgesamt, welchen Stellenwert eine Organisation wie der SDS im internationalen Klassenkampf habe. Dutschke und Rabehl bezogen sich in ihrer Argumentation primär auf die Erfahrungen des russischen Anarchismus, der in Bakunin einen gesamteuropäischen Vertreter gefunden hatte. Sie bezogen sich ferner in der Diskussion auf einen Roman von Alexander Ropschin, der 1912 in Leipzig übersetzt und verlegt worden war. Ropschin war ein Pseudonym von Boris Sawinkow, ein Bombenleger und Stadtkämpfer des illegalen Arms der „russischen Sozialrevolutionäre“.21 Nach Ropschin-Sawinkow war der subjektive Faktor 16

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Rudi Dutschke, Die Diskussion zwischen Ernst Bloch und Rudi Dutschke, in: Helmut Geiger/Armin Roether (Hg.), Dutschke und Bloch. Zivilgesellschaft damals und heute, MössingenTalheim 1999, S. 179. Bernd Rabehl, Die APO und ihre Anstöße, in: Ebd., S. 110. Was sich hinter den Buchstaben „T.u.Son.“ verbirgt, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Dutschkes ehemaliger Weggefährte Bernd Rabehl fragt sich heute allerdings, ob diese Abkürzung nicht für „Terror“ oder „Technik“ und für „Sondergruppen“ oder „Sondierungsgruppen“ standen. Vgl. ebd., S. 109. Siehe ausführlich hierzu: Ebd., S. 99ff. Ebd. Bernd Rabehl, Die APO und ihre Anstöße, S. 101.

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von Terror Element einer revolutionären Offensive, die die subjektiven Bedingungen von Revolutionen herstellte. Lange Zeit war das sogenannte „Organisationsreferat“ von Dutschke und HansJürgen Krahl, gehalten am 5. September 1967 auf der Bundesdelegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt, nur Insidern bekannt.22 Krahl war ebenfalls ein prominenter SDS-Ideologe, ursprünglich Mitglied der Jungen Union. Er kam kurz nach diesem Referat bei einem Autounfall ums Leben. Dutschke und Krahl gingen dabei von einer „bestimmten Negation“ der parlamentarischen Ordnung und des Systems der „Staatsparteien“ aus. Gegen den Macht- und Sicherheitsapparat des Staates sollten illegale Kämpfer Schutz gewähren. Sie riefen die SDS-Mitglieder dazu auf, sich künftig als „Sabotage- und Verweigerungsguerilla“ zu formieren. Sie erläuterten die Notwendigkeit des Kampfes gegen staatliche Autoritäten: „Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt bilden die mobilisierenden Faktoren in der Verbreiterung der radikalen Opposition und ermöglichen tendenziell einen Bewusstseinsprozess für agierende Minderheiten innerhalb der passiven und leidenden Massen, denen durch sichtbare irreguläre Aktionen die abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewalt werden kann. Die ,Propaganda der Schüsse‘ (Ché) in der ,Dritten Welt‘ muss durch die ,Propaganda der Tat‘ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerillatätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen.“ Den deutlich von Marcuse inspirierten Ausführungen Dutschkes und Krahls zufolge war die „terroristische Zwangsgewalt des Staates“ nach 1945 „keineswegs abgebaut, sondern in totalitärem Ausmaß psychisch umgesetzt worden“. In dieser Situation sei es die einzig verbliebene Strategie, „revolutionäre Bewusstseinsgruppen“ zu bilden, die die Aufgabe hätten, in den Metropolen des Kapitalismus eine „Guerilla-Tätigkeit“ neuen Typs zu entfalten und zwar als Organisatoren „schlechthinniger Irregularität“. Vor dem „Vietnam-Kongress“ vom 17./18. Februar 1968, wo sich Dutschke auf „einen europäischen Cong“, eine Art Stadtguerilla bezog, hatte er in den Niederlanden Überlegungen von Aktionen gegen die „schreckliche Kriegsmaschine“ der USA geäußert, wobei er von „Angriffen gegen NATO-Schiffe“ sprach. Dutschke schweb22

Vgl. hierzu (ebenfalls die folgenden Zitate): Siegward Lönnendonker/Bernd Rabehl/Jochen Staadt, Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD, Bd. 1, 1960–67, Wiesbaden 2002, S. 379.

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ten „Stadtguerilla-Kleingruppen“ von jeweils vier bis sechs Kämpfern vor, die eine regelrechte Doppelexistenz führen sollten – wie übrigens später die sogenannten „Feierabend-Terroristen“, etwa die „Revolutionären Zellen“. Nach Rabehl „näherte“ sich Dutschke damals „Überlegungen, den bewaffneten Kampf gegen den Militärapparat der USA aufzunehmen.“ Es bildete sich Anfang 1968 eine Gruppe um Dutschke, zu der auch der spätere Terrorist Georg von Rauch gehörte und die innerhalb des SDS nicht offen kommunizierte. Zwar betont Dutschkes Ehefrau Gretchen in ihrer 1996 erschienen und spannend zu lesenden Biographie, wenn Rudi Dutschke von „Illegalität“ sprach, habe dies wenig mit dem zu tun gehabt, was später die RAF tat.23 Aber er habe mit anderen SDSGenossen darin übereingestimmt, dass ein illegaler Kampf notwendig sei, der über die bisherigen Regelverletzungen hinausging. So habe Anfang des Jahres 1968 Rudi Dutschke auch daran gedacht, „in verschiedenen europäischen Städten Arbeitergruppen zu unterstützen, die ,Sabotage-Akte‘ durchführen sollten, sofern dies möglich und sinnvoll erschien.“24 Den Notizen aus dem Nachlass von Dutschke ist zu entnehmen, dass im Zusammenhang mit dem zitierten Vietnam-Kongress die „SabotageAkte, von denen Rudi sprach“, sich „gegen Transport, Telekommunikation, Hafen und Eisenbahn richten sollten.“ Aus dem SDS und aus den mit ihm sympathisierenden Gruppen sollte eine achtzig Mann umfassende Gruppe rekrutiert werden, die als illegaler Teil der Organisation vorgesehen war. Gretchen Dutschke berichtet ferner, dass ihr Mann und „sein Kreis [. . . ] fast fieberhaft“ überlegten, „welche praktischen illegalen Schritte sie unternehmen sollten.“25 Es hatten sich offensichtlich auch Kontakte zur ETA in Spanien und zur IRA in Nordirland angebahnt. Interessant ist auch Dutschkes Beziehung zu dem linksradikalen italienischen Verleger und Millionär Giangiacomo Feltrinelli, der dem Berliner SDS sehr viel Geld zur Verfügung stellte. Mit diesem wurde 1967/68 unter anderem das „Internationale Nachrichten- und Forschungsinstitut (INFI)“ aufgebaut, das in den Augen der Revolutionäre eine Zentrale für die Kombination legaler und illegaler Arbeit darstellen sollte. Feltrinelli klopfte im Februar 1968 an die Wohnungstür der Dutschkes und zeigte dann voller Fröhlichkeit den beiden die mit Dynamitstangen gefüllte Rückbank seines Autos und brachte dann im Schutz der Dunkelheit die Ladung in die Wohnung. Am nächsten Tag sollte das Dynamit im Kinderwagen des DutschkeSohnes Hosea in eine konspirative Wohnung weitertransportiert werden. Jedenfalls

23 24 25

Gretchen Dutschke-Klotz, Wir hatten ein barbarisch schönes Leben, Köln 1996, S. 177. Ebd., S. 178. Ebd.

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gab es die Überlegung, mit Dynamit ein Schiff mit Kriegsmaterial für den VietnamKrieg in die Luft zu sprengen. Diese Überlegung wurde einige Wochen später wohl deshalb abgeblasen, weil das Risiko für Menschenleben zu groß zu sein schien. Bahman Nirumand, ein aus dem Iran stammender Schah-Kritiker, berichtete, dass er im März 1968 gemeinsam mit seinem Freund Dutschke mit einer Bombe im Gepäck, von Berlin nach Frankfurt und dann weiter nach Saarbrücken reiste. Es sollte ein Antennenmast des US-amerikanischen Soldatensenders AFN in Saarbrücken in die Luft gesprengt werden, damit es „zu einer kurzen Unterbrechung der Sendung kommen konnte“. Mit „dieser Aktion“, so Nirumand, „wollten wir unseren Protest gegen den Vietnam-Krieg demonstrieren. Dabei hätte es einen geringen Sachschaden gegeben: Den Sturz eines Antennenmastes, wir hielten das für gerechtfertigt.“26 Doch waren die Vorbereitungen durch einen in Saarbrücken ansässigen Freund und Genossen so lückenhaft, dass die geplante Aktion nicht zur Ausführung kommen konnte. Zu jener Gewaltdiskussion innerhalb der extremen Linken stellt der Schriftsteller Gerd Koenen, einst selbst Aktivist im SDS und in maoistisch-kommunistischen Zirkeln, die Frage: „Was war das? Spiel oder Ernst? Das wurde immer ununterscheidbarer. Man suggerierte sich spielerisch in den Ernstfall hinein.“27 Die erste spektakuläre „Propaganda der Tat“ gelang dann im April 1968 Andreas Baader und Gudrun Ensslin: die Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt. Folgender Dreischritt liegt also vor: Dutschke hatte im Februar 1966 intern sein Guerilla-Konzept erläutert. Er hatte es im September 1967 auf der öffentlichen SDSBundesdelegiertenkonferenz propagiert. Und er war einer der ersten, der (im März 68) auch Sprengstoffanschläge durchführen wollte. Dutschke selbst war gegen die Rote Armee Fraktion, weil er ihren Kampf als zu „militärisch“ ansah, aber er war Anhänger eines Modells, den Kampf der Tupamaros als Vorbild für Europa anzusehen, diesen Kampf umzuwandeln auf die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland. Wer die Geschichte der Gewalt der Spät-Sechziger analysiert, auch die Gründung der Roten Armee Fraktion und anderer anarchistischterroristischer Gruppen, wird zu dem Schluss kommen müssen, dass im Herbst 1969 zahlreiche Brandanschläge Ausdruck einer neuen Gewaltbereitschaft im Sinne der „Propaganda der Tat“ waren:

26 27

Bahman Nirumand, Leben mit den Deutschen, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 112. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001, S. 50.

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Es war eine zunehmende Bereitschaft zum Gebrauch extremer Gewalt zu verzeichnen. Gab es 1968 noch acht linksterroristische Anschläge, waren es 1969 bereits 48 und 1970 bereits 119.28 In West-Berlin mehrten sich bereits im Winter 1968/69 Brandanschläge auf Wohnungen von Richtern und Staatsanwälten, Justizeinrichtungen, Polizeistationen und Konsulate. Die „Schlacht am Tegeler Weg“ vom 4. November 1968 ist heute noch in der linksradikalen Szene legendär. Vor dem Berliner Landgericht sollte gegen Horst Mahler ein Ehrengerichtsverfahren stattfinden. Mahler, so der Vorwurf, habe sich nach dem Schuss auf Rudi Dutschke an gewaltsamen Aktionen gegen das Zeitungshaus Springer beteiligt. Der SDS wollte die Führungsrolle bewahren, weshalb ein SDS-Sprecher auf einem Teach-in erklärte, Polizeiketten wären Bestandteil von Demonstrationsverboten und Illegalisierungen der Opposition. Der Steinwurf sei Widerstand. Die studentische Opposition dürfe sich nicht scheuen, auch den letzten Schritt zur Gegengewalt zu machen. Nur aus der Gewalt entstünde die neue Gesellschaft.29 Ein Beteiligter erinnerte sich etwa neun Jahre später an diese Auseinandersetzung mit der Polizei, bei der von vornherein Angriff und nicht Verteidigung intendiert war: „Wir hatten uns auf einen Angriff vorbereitet, mit Helmen und Stöcken. Die ersten Reihen für den Sturm auf die Polizeibarriere waren festgelegt. In dem folgenden Straßenkampf gelang es, die Polizei mehrfach zurückzuschlagen. Am Schluss waren zehnmal mehr Polizisten verletzt als Genossen. In militärischen Kategorien hatten wir den ersten Sieg auf der Straße errungen. Ein Sieg, der in die Zukunft zu deuten schien, weil zum erstenmal auch das Proletariat in Gestalt von Rockern mitgekämpft hatte.“30 Der Slogan einer der einflussreichsten deutschen Rockgruppen der siebziger Jahre „Ton Steine Scherben“ mit ihrem Song Macht kaputt, was euch kaputt macht zeigt jene Atmosphäre zunehmender Gewaltsamkeit.31 Die Verharmlosung von Gewalt zeigte sich auch in der Reaktion auf ein Flugblatt Nr. 8 der Kommune I, das mit der Frage begann: Wann brennen die Berliner Kaufhäuser 32 – und dies zwei Tage nach einem Brand in einem Brüsseler Kaufhaus, bei dem immerhin über dreihundert Menschen ums Leben gekommen sind. Gegen die beiden Kommunarden Langhans und Teufel wurde deshalb wegen Aufforderung zur Brandstiftung ermittelt. In dem Flugblatt 28 29 30 31 32

Vgl. Uwe Backes/Eckard Jesse, Totalitarismus, Extremismus und Terrorismus. Ein Literaturführer und Wegweiser im Lichte deutscher Erfahrung, Opladen 1984, S. 332. Bernd Rabehl, Am Ende der Utopie. Die politische Geschichte der Freien Universität Berlin, Berlin 1988, S. 279. Klaus Hartung, Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen, in: Kursbuch 48, 1977, S. 30. Das Management dieser Musikgruppe sollte später die heutige Politikerin der Grünen, Claudia Roth, wahrnehmen. Flugblatt Nr. 8, abgedruckt bei: Jürgen Miermeister/Jochen Staadt, Provokationen. Die Studentenund Jugendrevolte in ihren Flugblättern 1965–1971, Darmstadt/Neuwied 1980, S. 28.

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hieß es unter anderem: „Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh raus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi.“33 Auf den Gedanken, dass das Flugblatt als eine Aufforderung zur Brandstiftung („. . . man zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidekabine an. . . “) verstanden werden kann, wollten die Verfasser nicht gekommen sein.34 Selbst anerkannte Professoren der Germanistik sprachen von einem „Stilmittel der Übertreibung“ und einem „ironischen Ton“, sie sprachen von „literarischer Erfindung“. Der Religionswissenschaftler Jacob Taubes schloss sein Gutachten ab mit dem Satz: „Die ‚Kommune I‘ ist ein Objekt für die Religionsgeschichte und Literaturwissenschaft, aber nicht für Staatsanwaltschaft und Gericht.“35 Mitglieder der „Kommune“ haben nach dem Vorbild südamerikanischer Großstädte die erste StadtguerillaGruppe aufgebaut, nämlich die Tupamaros West-Berlin (TW)36 . Sie ist aus der Bewegung der „umherschweifenden Haschrebellen“ hervorgegangen. Zu nennen sind auch die Tupamaros München (TM). Extremstes Beispiel für jene Entwicklung ist ein Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus am 9. November 1969 in Berlin.37 Dort war eine Bombe detoniert, die während einer Gedenkveranstaltung zu den Pogromen des Jahres 1938 gegen die als „imperialistisch wahrgenommene Außenpolitik Israels“ explodieren sollte. Jan Bulig kommt zu Recht in einer Untersuchung zu folgendem Ergebnis: „Was mit gewaltsamen Widerstand und ,Aktionen gegen Springer‘ begonnen hatte und einzelne auf nahezu spielerischem Wege in die vorgebliche ,Spaßguerilla‘ getrieben hatte, mündete so in den Aufbau terroristischer Organisationen, die die ,Propaganda der Tat‘ durch Bombenanschläge und weitere strategische Aktionen ausführten.“38 Die erste Generation der Roten Armee Fraktion, aber auch andere klandestin operierende Gruppen wie die Tupamaros West-Berlin, hatten nicht nur ihre agitatorische Dynamik aus der „antiautoritären Bewegung“ heraus entwickelt, sondern sie stammten auch in biographischer Hinsicht eindeutig aus deren sozialem Umfeld.39 Wer will bestreiten wollen, dass die

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Flugblatt Nr. 8, abgedruckt bei: Jürgen Miermeister/Jochen Staadt, Provokationen. Vgl. aus Sicht eines Mitverfassers hierzu: Dieter Kunzelmann, Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben, Berlin 1998, S. 78ff. Jacob Taubes, Surrealistische Provokation. Ein Gutachten zur Anklageschrift im Prozess LanghansTeufel über die Flugblätter der „Kommune I“, in: Merkur 11, 1967, S. 1079; siehe auch: Wolfgang Kiesel, Literatur um 1968, in: Deutsche Schillergesellschaft (Hg.), Protest! Literatur um 1968, Marbach am Neckar 1998, S. 611. Die Namensidee stammte von Dieter Kunzelmann/Ralf Reinders/Ronald Fritsch, Die Bewegung 2. Juni. Gespräche über Haschrebellen, Lorenzentführung, Knast, Berlin 1995. Vgl. hierzu: Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, Hamburg 2005, S. 46f. Jan Bulig, Von der Provokation, S. 122. Ebd., S. 147.

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Rote Armee Fraktion ihren Ursprung in der antiautoritären Bewegung hat? Der Terrorismus der RAF ist zwar nur ein Ergebnis der antiautoritären Bewegung, aber ohne die Kulisse der Studentenrevolte hätten viele späteren Terroristen ihren Kampf gegen das „Schweinesystem“ der Bundesrepublik nicht aufgenommen. Nach der Auflösung des SDS im Jahre 1970 entwickelten sich aus der einstigen „antiautoritären“ Revolte folgende Strömungen:40 − − − − − − − −

Systemimmanente Richtung/neue Bedeutung der Jungsozialisten sowie die spätere Bildung der Partei „Die Grünen“ Undogmatische Linke/Unabhängige Linkssozialisten SED-orientierte Organisationen Dogmatische K-Gruppen/Maoisten Trotzkisten Aussteigertum in eine Subkultur/Alternativbewegung/Anti-AKW-Bewegung Anarchisten inklusive Spontis und Basisgruppen, Autonome Terrorismus

Thesen zu Charakter und Auswirkungen der 68er Bewegung Unter Berücksichtigung der beiden bis heute wirkenden Großtendenzen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft – Individualisierung sowie Pluralisierung der Lebensstile – lassen sich mit Bezug auf die oben beschriebenen Entwicklungen folgende Thesen aufstellen: 1.

Die Bundesrepublik Deutschland hatte noch keine demokratisch gefestigte Elite. Die Studentenrevolte in Westdeutschland wurde ganz wesentlich durch eine Krise des Bürgertums hervorgerufen, deren „verlorene Töchter und Söhne“ sich ihrem Herkunftsmilieu entfremdeten.

2.

Die 68er-Revolte war trotz manchen Charakters einer Jugendbewegung kein genereller Jugendprotest gegen das eigene Elternhaus. Der Protest war gekennzeichnet durch eine Parallelität von Jugendrevolte und politischer Revolte.

3.

Die Protestbewegung kann nicht nur politisch, sie muss auch sozialpsychologisch gedeutet werden. Siehe Richard Löwenthal: „Die kämpferische Haltung der jungen deutschen Intellektuellen von heute, ihre radikale Kritik an der modernen Industriegesellschaft entwickelt sich [. . . ] auf dem Boden eines nur allzu deutlichen durchscheinenden Kulturpessimismus. Hinter der Erneuerung

40

Wobei jeweils zentrale Bauteile der „Ideologie“ des SDS, wie etwa Theorie des autoritären Staates, die Rolle der Utopie, Negation als Alternative, revolutionäres Subjekt und Elitetheorie sowie Rätedemokratie, mitzudenken sind.

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der radikalen Utopien wird eine Grundstimmung von Verzweiflung erkennbar, hinter der Glaubenssehnsucht nicht selten ein Nihilismus, dem die humanistischen Werte unserer Zivilisation als bloße Heuchelei erscheinen.“ Selbst Jürgen Habermas unterstrich die Notwendigkeit einer sozialpsychologischen Erklärung: „Weil das Potential der Unzufriedenheit nicht aus ökonomischer, sondern aus einem psychologisch bedingten Unbehagen in der Kultur hervorgeht, verdanken sich die Definitionen des gegenwärtigen Zustandes nicht einem evidentem Pauperismus, sondern einer eher esoterischen Kulturkritik.“ Die Schüler- und Studentenbewegung gehe „aus einem Potential hervor, das keine ökonomische, sondern eine sozialpsychologische Erklärung verlangt.“ Diese Auffassungen werden durch eine Umfrage in der linken theoretischen Zeitschrift Kursbuch aus dem Jahre 1971 bestätigt. Es wurden dort Antworten von Anhängern der Protestbewegung veröffentlicht, denen die Frage gestellt worden war, warum sie sich dieser Bewegung angeschlossen hatten. Einige Antworten seien genannt: „Ich hatte Depressionen, Arbeitsstörungen, Kontaktschwierigkeiten, war einfach kaputt – und dann plötzlich die Osterdemonstrationen, die neuen Kontakte, die ganze Aktivität im SDS: Es war wie eine Befreiung.“ (Student) „Das kam so nach und nach. Mein Vater ist nämlich CDU-Anhänger und furchtbar autoritär. Da gab es schon immer Reibereien. Ich glaube, es war einfach ein Protest gegen das Elternhaus, durch meine ganze Lebensweise: Ich wollte unabhängig sein, auch in meinem politischen Denken [. . . ].“ (Studentin) „Meine Politisierung begann schon im Elternhaus, das ziemlich liberal war, sozialdemokratisch. Zunächst die moralische Entrüstung über den Vietnam-Krieg, dann die aktive Teilnahme an politischen Aktionen, der Erfolg dieser Aktionen.“ (Student) „Noch zwei Ostermärsche und der neue, politisch bewusstere Freundeskreis, dann aber auch schon die Springer-Aktionen in Frankfurt – das sind Stationen, die einen Bewusstseinssprung produzierten.“ (Angestellter) „Am Anfang war es nur ein vager Protest, eigentlich gegen alles. Ich glaube, ich hatte mir vom Studium eine falsche Vorstellung gemacht, Alma mater und so, und merkte dann, dass die Uni das Gegenteil

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war, grausam, kalt, versagend, wie die ganze Gesellschaft. Erst langsam habe ich dann – über Identifikationsfiguren wie Ho und Chè, vielleicht auch Dutschke – begreifen gelernt, wo meine Probleme liegen, dass sie im Grunde politische Probleme sind und nur politisch gelöst werden können.“ (Student) 4.

Die Gewaltfrage wurde immer mehr zum prägenden Element der Protestbewegung, war aber auch eine der wesentlichen Gründe für deren Spaltung.

5.

Die Medien, vor allem das damals noch junge Fernsehen, waren ein wesentlicher Verstärker des studentischen Protestes.

6.

Die Große Koalition war ein weiterer wesentlicher Grund für die Radikalisierung.

7.

Die Studentenrevolte bediente sich eines vordemokratischen Antiliberalismus, ihr Avantgardeverständnis, die Utopie eines „neuen Menschen“ machte sie für weite Teile der jungen Intelligenzschicht attraktiv. Dadurch konnte auch eine Erosion des Rechtsstaatsdenkens einsetzen.

8.

Die Studentenbewegung nutze einen generellen Faschismusverdacht und brachte damit die politische Elite in die Defensive. Mit Hilfe dieser Faschismusunterstellung wurde ein allgemeines Widerstandsrecht programmiert und Gewalt als legitimes Mittel des Widerstands begründet. Die rebellierenden Studenten stützten sich hierbei auch auf professorale Unterstützer.

9.

Eine der wesentlichen Folgen der Studentenrevolte ist dabei nicht nur eine Geringschätzung der liberalen Demokratie, eine Relativierung der Erfordernisse des Rechtsstaates, sondern gerade eine Enttabuisierung der Gewalt bis hin zum Terrorismus. Die Gewalt wurde zunehmend als eine taktische Frage eingeschätzt, die von der „Reife des Klassenkampfes“ abhing.

10.

Die Sympathie der deutschen Medien für die Studentenrevolte ließ erst einen Mythos entstehen, der jetzt und langsam einer realistischen Betrachtungsweise weicht. Hinzu kommt ein Defizit an zeitgeschichtlicher Forschung. Die 68erRevolte wurde zudem weitgehend in der Wissenschaft von ehemaligen APOAktivisten interpretiert.

11.

Der Einfluss der ostdeutschen „Staatssicherheit“ auf die Studentenrevolte und die Folgebewegungen war durchaus stärker, als in der Vergangenheit angenommen. Der Stasi ging es dabei zunächst um Informationen über die Studentenbewegung. Sie hat sich aber auch intensiv um deren Steuerung bemüht.

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12.

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Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in Prag 1968 ernüchterte manche Anhänger der Protestbewegung hinsichtlich der Reformunfähigkeit des real existierenden Sozialismus. Doch blieben die Proteste der 68er zur gewaltsamen Niederschlagung der freiheitlichen Reformbestrebung in der damaligen Tschechoslowakei relativ zurückhaltend.

13.

Die Behauptung, mit der Studentenrevolte habe es einen politischen und kulturellen „Neuanfang“ gegeben, ist empirisch nicht haltbar. Mit ihrem Ausbruch wurde Westdeutschland aber so etwas wie ein Modernisierungsdruck verpasst, eine Art Tendenzwandel. Doch ist kein Beweis dafür zu erbringen, dass es sich bei den gesellschaftlichen Veränderungen um Prozesse handelt, die ausschließlich durch die Studentenrevolte herbeigeführt wurden. Wahrscheinlicher ist, dass einige Prozesse lediglich beschleunigt wurden. Die gesellschaftliche Öffnung gab es also schon vor der Studentenrevolte, sie hatte nicht erst 1968 ihren Ausgangspunkt, sondern „1968“ hatte seinen Ausgangspunkt in einer bereits beginnenden gesellschaftlichen Veränderung. Was in Deutschland immer als Vermufftheit der Adenauer-Ära charakterisiert wurde, war auch in anderen Ländern gang und gäbe. Als 1949 in Frankreich das heute so viel zitierte Buch Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir erschien, war die Empörung groß. Die Sexualmoral hatte sich in allen westlichen Staaten erst gelockert, als die Anti-Baby-Pille auf dem Markt war. Das war längst vor der Studentenrevolte. Aber zweifellos wurden viele der schon in der Gesellschaft angelegten Entwicklungen beschleunigt. Schon ab den sechziger Jahren gab es wichtige gesellschaftliche Änderungen: Neue musikalische Formen hatten schon längst ihr Millionenpublikum erobert. Die Behauptung, erst mit der Studentenrevolte habe es in Deutschland einen Kulturbruch gegeben, ist wissenschaftlich nicht belegbar. Das Gegenteil ist richtig: Die Studentenrevolte konnte auf den einsetzenden Umbrüchen aufbauen und erst dadurch ihre eigene Dynamik gewinnen und die kulturellen Umbrüche beschleunigen.

Fazit Auf die drängenden politischen Fragen von heute gibt „68“ keine Antwort: „Das sind zwei Welten. Emanzipation mit der grausamen Kulturrevolution in China zu verknüpfen, dieses Kunststück muss man erst mal bringen! Und dann diese Schwärmerei für die Arbeiterräte der 20er Jahre. Das alles war damals schon rückwärtsgewandt.“ Man reibt sich die Augen. Das sagte der Alt-68er und grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit seinem erstaunten Publikum und rief aus: „Forget 68“.

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Gerd Langguth

Es wäre falsch, jene Revolte nur von ihren Wirkungen her zu interpretieren. Sie muss zunächst von ihren eigenen Zielsetzungen her analysiert werden. Und die gingen an die Grundfesten einer parlamentarischen Demokratie, waren gewaltverherrlichend. Sie waren eine echte Herausforderung für die damals noch junge Demokratie.

Archive, Internetressourcen und Literatur in Auswahl Die in den Einzelbeiträgen verwendeten Quellen entstammen den nachfolgend angeführten Archiven und digitalen Ressourcen. Das Literaturverzeichnis enthält in Auswahl zentrale Titel zu den in diesem Band behandelten Themen.

Archive Archiv APO und soziale Bewegungen

Berlin

(APO-Archiv) Archiv der K.D.St.V. Gothia-Würzburg im CV

Würzburg

Archiv der sozialen Demokratie

Bonn

(AdsD) Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Hamburg

(HIS-Archiv) Archiv für Christlich-Demokratische Politik

Sankt Augustin

(ACDP) Bundesarchiv, Abteilung B (BArch)

Koblenz

Deutsches Rundfunkarchiv

Frankfurt am Main

(DRA)

und Potsdam

Institut für Hochschulkunde der Universität Würzburg

Würzburg

(IfH) Medienarchiv’68 der Axel Springer AG

Berlin

Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv

Berlin

(SAPMO-BArch)

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Ortsregister Afrika, 165

China, 41, 107, 191

Ägypten, 107

Coburg, 74, 75, 83

Algerien, 163

Connecticut, 54, 55

Amerika, siehe Vereinigte Staaten von

CSSR, 134, 191

Amerika (USA) Amsterdam, 51

Deutschland, 10, 12, 15, 17, 18, 21, 23–27, 31, 32, 45, 48, 55,

Angola, 35

56, 76, 77, 79, 81, 93, 99,

Asien, 47, 133, 163, 165

101, 104–107, 110, 117, 125,

Athen, 101

127–137, 139, 142, 148, 150,

Auschwitz, 23, 27, 33, 48 Berkeley, 168, 176 Berlin, 14, 36, 37, 51, 56, 57, 60, 72, 73, 79, 82, 83, 85, 108, 114, 115, 117, 118, 120, 130, 131, 134, 163, 165, 166, 168, 169, 171, 175, 176, 178, 179, 181, 184–187

151, 157, 160, 162–165, 168, Deutsche

169, 171, 175–178, 191 Demokratische Republik/DDR, 24, 26, 34, 48, 49, 53, 66, 70, 91, 108, 114–116, 129–138, 140, 144, 145, 147, 150, 151, 160, 179

Eisenach, 91

Bolivien, 35

England, 30, 81, 105

Bonn, 11, 14, 17–19, 25, 37, 41, 74, 78,

Europa, 18, 21, 25, 26, 34, 36, 41,

91, 93, 105, 107, 122, 125, 136, 167

46, 63, 77, 91, 104, 117, 125, 127, 131, 141–146, 150,

Bremen, 166, 167

155–157, 159–161, 163, 177,

Brüssel, 34, 186, 187 Bundesrepublik

5, 9–18, 26, 28, 32, 44, 45,

Frankfurt am Main, 12, 13, 45, 47, 48,

47, 48, 53, 60, 74–77, 80,

50, 57, 112, 157, 162, 163, 166, 167, 173, 176, 177, 183,

81, 86, 91–93, 101–103, 105, 106, 108–111, 113–118, 120–124, 126–128, 137, 138, 140, 145, 147, 149–151, 161–169, 171, 172, 175, 176, 185, 188, 191 Chile, 32

178, 182–185

Deutschland/BRD,

185, 189 Frankreich, 15, 17, 25, 32, 60, 70, 105, 191 Gießen, 34, 167 Guatemala, 180 Hamburg, 14, 145, 179

Ortsregister

220

Hanau, 167

München, 23, 63, 113, 114, 167, 179, 187

Hannover, 28 Hanoi, 187

My Lai (Son My), 33

Havanna, 57 Heidelberg, 16, 94, 167

Nagasaki, 36

Hiroshima, 36

New York, 155

Holland, siehe Niederlande

Niederlande, 31, 37, 183

Hue, 165

Nordamerika, 168 Nordirland, 184

Irak, 153

Nordvietnam, 35, 107

Iran, 41, 49, 59, 185

Norwegen, 45, 59

Israel, 107, 170, 187

Nürnberg, 53

Italien, 15, 46, 59, 60, 101, 103–105, 111, 113, 117, 158, 166, 184

Oberammergau, 167 Oberbayern, 180

Jena, 96

Oberreichenberg im Taunus, 182

Jordanien, 107

Ost-Berlin, 64, 130, 160 Ostdeutschland, siehe Deutsche De-

Kanada, 59

mokratische Republik

Koblenz, 14, 137

Österreich, 75, 88, 92, 93, 95

Kochelsee, 180

Oxford, 163

Köln, 21, 23, 29, 30, 33, 34, 39, 125 Kösen, 74

Peru, 181

Kronstadt, 51–53, 64, 66, 179

Polen, 26

Kuba, 35, 41, 43, 54–56, 59, 63, 64,

Port Huron, 162

163, 177

Portugal, 145 Prag, 96, 134, 191

Landau, 91, 95

Preußen, 25

Lateinamerika, 41, 47, 56, 59, 63, 65, 133, 165

Ramstein, 167

Leipzig, 51, 93, 182

Rheinland-Pfalz, 16

Ludwigsburg, 112

Rom, 104

Luzern, 176

Russland, 117, 161

Marburg, 23, 77, 91, 93, 101, 114

Saarbrücken, 166, 185

Mitteleuropa, 69, 139, 142

Saigon, 165

Montagnola, 176

San Diego, 177

Montevideo, 178

Sao Paulo, 178

Moskau, 117

Schweden, 15

Ortsregister

221

Westdeutschland, siehe Bundesrepu-

Schweiz, 59 Skandinavien, 59

blik Deutschland

Sofia, 22, 23, 37

Wien, 95

Sowjetische Besatzungszone (SBZ),

Wilhelmshaven, 52

34, 131

Woodstock, 159

Sowjetunion (UdSSR), 21, 26, 30, 36, 47, 51, 101, 107, 146, 151, 179 Spanien, 38, 59, 104, 170, 184 Stuttgart, 179 Südvietnam, 36, 163, 165 Syrien, 107 Tübingen, 21, 34, 62, 114 Türkei, 15 Ukraine, 38 Ulm, 84, 112 Ural, 34 Uruguay, 63, 177, 178 Vereinigte

Staaten

von

Amerika

(USA), 15, 17, 21, 24, 30, 36, 47, 51, 54, 55, 59, 81, 101, 105, 107, 114, 116, 119–122, 146, 150, 151, 153–170, 183, 184 Vietnam, 10, 13, 18, 32, 33, 36, 41, 45, 51, 52, 101, 107, 116, 120, 128, 134, 135, 139, 140, 154, 162–166, 169, 172, 176, 181, 183–185, 187, 189 Weimar, 17, 18, 76, 79, 82, 106, 110, 113, 162 Weinheim, 74 West-Berlin, 9, 34, 45, 47, 57, 58, 60, 61, 63, 134, 137, 139, 150, 175, 181, 186, 187

Workuta, 37 Würzburg, 5, 6, 75, 87, 95, 96

Personenregister Adenauer, Konrad, 74, 75, 83, 106,

Bernhard, Patrick, 60

160, 161, 175, 191

Blanchot, Maurice, 46

Adorno, Theodor W., 50, 86, 119, 157, 176

Bloch, Ernst, 176 Bloch, Karola, 141, 145

Adrian, Norbert, 130

Boehlich, Walter, 61, 62

Agnoli, Johannes, 37, 101, 102, 116–

Bohrer, Karl Heinz, 42

118

Böll, Heinrich, 112

Albrecht, Willy, 130

Bölsche, Jochen, 13

Aly, Götz, 16, 65, 66, 102, 109, 111,

Bracher, Karl Dietrich, 112, 113

123 Amendt, Günter, 29, 162

Brandt, Willy, 25, 35, 78, 79, 106, 161, 164

Anders, Günther, 32

Brentano, Heinrich von, 74

Andersch, Alfred, 36

Broszat, Martin, 113

Arnold, Karl, 74

Buchheim, Hans, 113

Au, Kai-Ming, 95–97

Bulig, Jan, 187

Augstein, Rudolf, 49, 52 Carmichael, Stokeley, 167 Baader, Andreas, 185

Castro, Fidel, 35, 41, 49, 54

Bakunin, Michail Alexandrowitsch,

Chomsky, Noam, 41, 51

182

Churchill, Winston, 26

Balder, Hans-Georg, 91

Clemenceau, Georges, 26

Barbie, Klaus, 32 Bardot, Brigitte, 180

Cohn-Bendit, Daniel, 37, 44, 58, 162, 191

Barthes, Roland, 41

Czichon, Eberhard, 116

Bartsch, Günter, 52 Beauvoir, Simone de, 191

Damerow, Peter, 57

Becher, Johannes R., 24

Dehler, Thomas, 75

Becher, Thomas P., 14

Diba, Farah, 49

Becker, Hartmuth, 16

Diederichs, Georg, 78

Becker, Manfred, 90

Diepgen, Eberhard, 82

Behrmann, Günter C., 50

Dirsch, Felix, 16

Benda, Ernst, 10, 11, 93

Doering-Manteuffel, Anselm, 159

Benders, Peter, 49

Donolo, Carlo, 60

Bergsträsser, Ludwig, 78

Döpfner, Julius, 89

Berndt, Heide, 61

Dorticós, Osvaldo, 35

Personenregister

224

dos Santos, José Eduardo, 35

Fromm, Erich, 119

Duclos, Jacques, 25

Fülberth, Georg, 13, 122

Dutschke, Helmut, 137

Funcke, Liselotte, 38

Dutschke, Hosea, 184

Furth, Peter, 57

Dutschke, Rudi, 6, 9, 11, 13, 25, 27, 34, 45, 57, 59–61, 94,

Gäng, Peter, 133

108, 121, 122, 128, 129,

Gassert, Philipp, 6, 15

134, 136–148, 150, 151, 162,

Gauck, Joachim, 18

164–166, 174, 177–186, 190

Gilcher-Holtey, Ingrid, 14, 15, 70, 105

Dutschke-Klotz, Gretchen, 147, 184

Glaser, Albrecht, 94

Duyn, Roel van, 37

Globke, Hans, 74 Goethe, Johann Wolfgang von, 176

Ebbinghaus, Angelika, 41

Gollwitzer, Helmut, 168, 169

Ehlers, Hermann, 75

Gossweiler, Kurt, 116

Eichmann, Adolf, 32, 112

Gothe, Lothar, 30

Elm, Ludwig, 70

Grass, Günter, 112

Engels, Friedrich, 31, 52, 141

Greiff, Odo von, 57

Ensslin, Gudrun, 166, 185

Gruhl, Herbert, 34

Enzensberger, Hans Magnus, 6, 41–

Guevara, Ernesto „Che“, 22, 35, 56, 181, 182

43, 45–57, 59–66, 167, 177, 178 Enzensberger, Ulrich, 53, 54

Gustaffson, Bo, 49 Gutiérrez, Carlos Maria, 63

Etzel, Franz, 75 Euchner, Walter, 48

Habermas, Jürgen, 112, 172, 176, 189 Hagen, Herbert, 32

Fanon, Frantz, 24, 41, 49

Hagen, Jens, 31, 32

Feltrinelli, Giangiacomo, 54, 166, 184

Haley, Bill, 161

Fichter, Tilman, 16, 82, 108

Hammerstein, Katrin, 102

Fischer, Joschka, 12, 13, 23, 153, 154, 157, 162, 171–174

Harich, Wolfgang, 64

Flechtheim, Ossip K., 73

Hartung, Klaus, 43, 44, 66

Fleischhauer, Jan, 62

Haug, Wolfgang Fritz, 13, 115, 116

Follen, Karl, 34, 39

Heer, Hannes, 136

Franco, Francisco, 38

Heither, Dietrich, 73

Frei, Norbert, 15, 109

Hemmer, Nessim, 63

Freund, Ludwig, 30

Herbert, Ulrich, 15

Friedeburg, Ludwig von, 174

Herburger, Günter, 50, 51

Frings, Joseph, 89

Heuss, Theodor, 74, 110

Hartmann, Bernd, 29

Personenregister

225

Hirche, Walter, 84

Kopf, Hinrich Wilhelm, 78

Hitler, Adolf, 32, 105, 110, 163

Korsch, Karl, 22, 162

Hobsbawm, Eric, 54

Kotter, Ludwig, 115

Hochhuth, Rolf, 112

Krahl, Hans-Jürgen, 34, 38, 86, 183

Ho Chi Minh, 22, 107

Kraushaar, Wolfgang, 12, 14, 16, 42,

Höcherl, Hermann, 75

43, 64, 65, 102, 108, 134,

Hodenberg, Christina von, 15

145, 149, 150, 159, 178

Hofer, Walther, 113

Kreipe, Walter, 60, 61

Holl, Kurt, 30

Kretschmar, Stefan, 34

Horkheimer, Max, 112, 120, 157, 163–

Krippendorff, Ekkehart, 163

165, 176 Hüller, Oswald, 130

Kroesen, Frederick J., 167 Krone, Heinrich, 75 Krupskaja, Nadeschda Konstantinow-

Jackson, Andrew, 156

na, 28

Jarausch, Konrad H., 81

Kuby, Erich, 176

Jens, Walter, 179 Joffe, Josef, 25

Kühnl, Reinhard, 116 Kunzelmann, Dieter, 53, 63, 180

John, Eckart von, 94

Kurbjuhn, Paul, 25

Johnson, Uwe, 41, 46, 52

Kuron, Jacek, 51 Kurras, Karl-Heinz, 175

Jordan, Maria, 57 Jörges, Hans-Ulrich, 12

Langguth, Gerd, 6, 63, 65 Kähler, Siegfried A., 80 Kellner, Otto, 30

Langhans, Rainer, 180, 186 Lau, Jörg, 42, 65

Kennan, George, 48

Lederer, Herbert, 29

Kennedy, John F., 161, 163

Lehr, Robert, 75, 77

Kiesinger, Kurt Georg, 9, 10, 74, 93, 106, 108, 109, 164, 165

Leisler Kiep, Walther, 161 Lenin, Wladimir Iljitsch, 22, 26, 179,

Kißener, Michael, 16 Kippe, Rainer, 30

181

Kissinger, Henry, 49

Lenz, Otto, 74 Lettau, Reinhard, 41, 168

Klimke, Martin, 16

Lischka, Kurt, 32

Klönne, Arno, 13, 26

Löbe, Paul, 53

Koenen, Gerd, 16, 172, 173, 185 Kogon, Eugen, 110

Lönnendonker, Siegward, 16, 82, 108 Löwenthal, Richard, 188

Kohl, Helmut, 153, 154

Lübke, Heinrich, 74

Kollontai, Alexandra Michailowna, 28

Lucke, Albrecht von, 43 Lukács, Georg, 176

Personenregister

226

Lukaschek, Hans, 74

Nolte, Ernst, 101, 113, 115, 123

Luxemburg, Rosa, 22 Obergassel, Cordula, 16 Maase, Kaspar, 159 Magenau, Jörg, 53 Mahler, Horst, 57, 85, 186

Ohnesorg, Benno, 9, 28, 38, 39, 56, 174, 175, 178 Opitz, Reinhard, 116

Malinowski, Bronislaw, 42 Malle, Louis, 180 Mansilla, Hugo Celso Felipe, 120, 121 Mao, 22, 34, 37, 66, 150 Marcuse, Herbert, 41, 50, 51, 119–

Pacelli, Eugenio Maria Giuseppe Giovanni, 88 Pahlavi, Muhammad Reza, 49, 83, 175, 185

121, 162, 165, 168, 176, 177,

Pannekoek, Anton, 22

183

Pius XII., siehe Pacelli, Eugenio

Marighela, Carlos, 178

Ponto, Jürgen, 166

Marmulla, Henning, 41, 43, 65

Praß, Johannes, 9

Marx, Karl, 31, 35, 41, 118, 121, 141 Meinecke, Friedrich, 82 Meinhof, Ulrike, 12, 49, 173

Rabehl, Bernd, 24, 34, 61, 146, 147, 180, 182, 184

Menne, Lothar, 180

Ramsauer, Peter, 96

Metternich, Klemens Wenzel Lothar

Raspe, Jan Carl, 180

von, 34 Michel, Karl Markus, 43, 46, 47, 49, 50, 55–57, 61, 62, 64–66

Ratzinger, Joseph, 89 Rau, Johannes, 153 Rauch, Georg von, 184

Mills, Charles Wright, 105, 162

Reagan, Ronald, 167

Mitscherlich, Alexander, 17

Rehs, Reinhold, 78

Mitscherlich, Margarete, 17

Reich, Wilhelm, 119

Modzelewski, Karol, 51

Reiche, Reimut, 133, 134

Möller, Horst, 109

Richter, Hans Werner, 36

Moreau, Jean, 180

Rocker, Rudolf, 22

Mugabe, Robert, 35

Röhl, Bettina, 12, 173

Müller-Plantenberg, Urs, 113

Röhl, Klaus Rainer, 173

Mussolini, Benito, 104

Roosevelt, Franklin D., 26 Ropschin, Alexander, siehe Sawinkow,

Neto, Agostinho, 35 Neumann, Rainer, 94

Boris Rühmkorf, Peter, 65

Niklas, Wilhelm, 75 Nirumand, Bahman, 44, 49, 50, 53, 59, 185

Salvatore, Gaston, 45, 60 Sartre, Jean-Paul, 41, 48

Personenregister

Sawinkow, Boris Wiktorowitsch, 52, 182 Schäfer, Gert, 48 Schäffer, Fritz, 75 Schah von Persien, siehe Pahlavi, Mohammad Reza Scharloth, Joachim, 16, 108 Scharrer, Manfred, 148 Schelsky, Helmut, 77, 174

227

Sweezy, Paul M., 35 Tasca, Angelo, 104, 105 Taubes, Jacob, 187 Teufel, Fritz, 57, 180, 186 Thamer, Hans-Ulrich, 111, 123 Tocqueville, Alexis de, 156 Trittin, Jürgen, 12, 13 Trotzki, Leo, 179

Schenke, Wolf, 34

Uhl, Hans-Peter, 96

Schickel, Joachim, 66

Umgelter, Fritz, 112

Schiller, Margrit, 173

Unseld, Siegfried, 43, 46, 47, 54, 55, 61

Schlauch, Rezzo, 95 Schleyer, Hanns Martin, 166

Vester, Michael, 162 Voigt, Mario, 82

Schmidt, Christian, 172 Schneider, Peter, 27, 45, 60, 66, 102

Wagenbach, Klaus, 47 Walser, Martin, 41, 46, 52

Schönemann, Friedrich, 159

Weber, Max, 158

Schröder, Gerhard, 153 Schröder, Ute, 14

Weberling, Johannes, 82 Wehler, Hans-Ulrich, 102

Schulz, Eberhard, 57

Weidner, Norbert, 96

Schumacher, Kurt, 126, 160

Weiss, Peter, 41, 46, 48, 55, 56

Schneider, Heinz, 30, 33

Schurz, Carl, 157 Schütz, Klaus, 93 Schweda, Bernadette, 13 Semler, Christian, 61, 135 Senghaas, Dieter, 48 Siegfried, Detlef, 15, 64 Sonnemann, Ulrich, 55, 56 Souchy, Augustin, 22 Stalin, Josef, 30, 36, 37, 117, 150 Steinweis, Alan E., 15 Stempel, Peter, 73 Stergar, Grischa, 63 Stöss, Richard, 145 Strauß, Franz Josef, 74 Süsterhenn, Adolf, 34

Weizsäcker, Richard von, 35, 110 Wellershoff, Dieter, 26 Wenger, Paul Wilhelm, 83, 94 Wicki, Bernhard, 112 Wilson, Herold, 131 Wilson, Woodrow, 157 Winckler, Stefan, 16 Winkler, Willi, 63, 65 Wippermann, Wolfgang, 120, 123 Wolff, Frank, 31 Wolff, Karl Dietrich, 23, 31, 35, 162 Wolff, Reinhart, 31 Wreden, Ernst Wilhelm, 84, 94 Wrobel, Klaus, 130 Zimmer, Dieter E., 46

Autorenverzeichnis Gerrit Dworok, geboren 1983, seit 2009 Lehrassistent am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg, seit 2010 in der Promotionsförderung der Konrad-AdenauerStiftung. Philipp Gassert, Prof. Dr., geboren 1965, seit 2009 Professor für die Geschichte des europäischtransatlantischen Kulturraumes an der Universität Augsburg. Gerd Langguth, Prof. Dr., geboren 1946, Honorarprofessor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Publizist, Staatssekretär a.D. Kristof Niese, geboren 1985, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit an der Universität Bonn. Matthias Stangel, geboren 1978, Historiker, Politikwissenschaftler und Projektleiter in der Unternehmensentwicklung (Verlagswesen). Matthias Stickler, Prof. Dr., geboren 1967, seit 2010 außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Rolf Stolz, geboren 1949, Diplom-Psychologe, Publizist, belletristischer Schriftsteller und Photograph.

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„REVOLUTION MUSS SEIN“ KARL RADEK – DIE BIOGRAPHIE

Karl Radek (1885–1939), linksradikaler Journalist und brillanter Demagoge des Sowjetkommunismus, verstand sich als „Soldat der Weltrevolution“. Er wollte helfen, sie als „ehernes Muß“ der Geschichte zu vollstrecken. In der polnischen und deutschen Sozialdemokratie politisch sozialisiert, schloss er sich Lenin an, stellte sich in den Dienst der Oktoberrevolution und widmete sich der Revolutionierung Deutschlands und Chinas. Das Buch zeichnet seinen abenteuerlichen Lebensweg nach und geht detailliert auf Radeks politisches Wirken und publizistisches Œuvre ein. Als Spiritus rector und Propagandist des roten Terrors wirkte er höchst aktiv an der Errichtung der Sowjetdiktatur mit. Die Terrormaschine, die er zu schaffen half und der er zuletzt noch seine politischen Freunde auslieferte, hat ihn schließlich selbst vernichtet. In der Stalin-Ära aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, wurde er zur „Unperson“. Sein Schicksal demonstriert exemplarisch die tragische Verstrickung eines Menschen in den politischen Totalitarismus als Phänomen der Moderne. 2012. 948 S. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-20725-0

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