120 Jahre Hochglanzgötter : Die Welt des indischen Götterplakats
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Jesus und das letzte Abendmahl Aufkleber, Gujarat 2011

Eva-Maria Glasbrenner 120 Jahre Hochglanzgötter. Die Welt des indischen Götterplakats Katalog zur gleichnamigen Ausstellung

Umschlaggestaltung: Eva-Maria Glasbrenner Layout und Satz: Manya Verlag Lektorat: Josef Glasbrenner, Robert Zydenbos, Cornel Wawrinsky und Wolfgang Stein Anzeigen: Kristlna Bischof

Druck und Bindung: CEWE COLOR AG & Co. OHG, Germering Gedruckt auf alterungsbeständigem, chlorfrei gebleichtem Papier Made in Germany 1. Auflage 2012 ISBN 978-3-941196-04-9 © Manya Verlag München 2012 www.manyaverlag.de [email protected] Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen (auch einzelner Teile). Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form, durch Photographie, Digitalisierung oder andere Verfahren, ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir haben uns bemüht, alle Urheberrrechte zu ermitteln und mit Zustimmung des Rechtsinhabers abzubilden und den Rechtsinhaber anzugeben. Bildnachweis: Alle Photos © Eva-Maria Glasbrenner mit Ausnahme von Josef Glasbrenner S. 8 und von Softeis S. 48 (Photo Ramsauer Kapelle 2006) Alle Abbildungen von religiösen Drucken stammen von Sammelobjekten aus der Sammlung Eva-Maria Glasbrenner.

Die Welt des indüseh®!! Götterplakats Katalog zur gleichnamigen Ausstellung von Eva-Maria Glasbrenner

Ganesa Aufkleber, Gujarat 2011

Inhalt

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Vorwort

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Geleitwort des indischen Generalkonsuls

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Einführung: 120 Jahre Hochglanzgötter

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Abbildungen

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Die Anfänge: Die Chromolithographie um 1900

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Die sanften Farben: Halbtondrucke ca. 1920 bis 1960

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Offsetdruck & Cellophanglanz: Plakate seit den 1960er Jahren

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Unsere Sponsoren

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Vorwort

Die Ausstellung „120 Jahre Hochglanzgötter - Die Welt des indischen Götterplakats“ greift die Eröffnung der ersten indischen Götterplakatpresse des berühmten Malers Raja Ravi Varmä (1848-1906) vor rund 120 Jahren auf und stellt damit ein Medium in den Fokus der Öffentlichkeit, das wie kein anderes Indien und seine vielfältige, lebendige Religiosität im wahrsten Sinne des Wortes plakativ repräsentiert. Das in Indien allgegenwärtige Götterplakat ist ein religiöses Medium, das von praktisch allen lebendigen Religionsgemeinschaften Indiens verwendet wird und Zeichen setzt. Die Kennzeichnung und Abgrenzung religiöser Räume durch die omnipräsenten, leuchtenden Farben des indischen Götterplakats ist nicht nur im innerindischen Leben signifikant: Auch für viele Besucher Indiens sind die Eindrücke der hochglänzenden Götterwelt diejenigen, die sich besonders einprägen und oft unbewußt zum Symbol Indiens schlechthin werden. Die Tatsache, daß die ersten, sich immer größerer Beliebtheit erfreuenden indischen Götterplakate in Deutschland hergestellt und nach Indien exportiert wurden, und später in Räja Ravi Varmäs Presse zunächst ein deutsches Druckerteam auf deutschen Druckmaschinen arbeitete, zeigt die besondere historische Verbindung zu Indien. Dieser begleitende Katalog bringt dem westlichen Publikum visuell die indische religiöse Vielfalt näher und hilft mit exemplarischen Erläuterungen, hinter dem unwillkürlichen - und ungerechtfertigten ersten Eindruck des Kitsches nach und nach die zauberhafte und tiefgründig philosophische Welt indischen Denkens zu erkennen.

Für die ideelle und finanzielle Unterstützung zur Verwirklichung sowohl dieser Ausstellung in der Aspekte Galerie der Münchner Volkshochschule als auch dieses Kataloges danke ich allen voran der Aspekte Galerie der Münchner Volkshochschule und dem Verein der Förderer und Freunde der Münchner Volkshochschule. Insbesondere gilt mein Dank Frau Dr. Susanne May, der Programmdirektorin der Münchner Volkshochschule, Herrn Dr. Reinhard Wieczorek, dem Vorstandsvorsitzenden des Vereins der Förderer und Freunde der Münchner Volkshochschule, Frau Petra Gerschner, der Leiterin der Aspekte Galerie und Herrn Dr. Hermann Schlüter, dem Fachgebietsleiter für Philosophie, Religion und Naturwissenschaften. Dem amtierenden indischen Generalkonsul vom Indischen Generalkonsulat München, Herrn Vikram Misri, danke ich für seine Bereitschaft, an der Eröffnung der Ausstellung mitzuwirken und ein Geleitwort für diesen begleitenden Katalog zu schreiben, und der Tänzerin und Tanzschulleiterin Chandra Devi für ihren kulturellen Beitrag, die indischen Gottheiten in Form des klassischen Tanzes Bharatanatyam zur Vernissage lebendig vor Augen zu führen.

München, im Januar 2012

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Eva-Maria Glasbrenner

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Geleitwort

I am glad to see this exhibition and catalogue on Indian religious icono­ graphy being brought out in Germany, especially during a year when India and Germany are celebrating together sixty years of the establishment of diplomatic relations between them. Relations between India and Germany are of course much older and, a few years ago, we had the five hundredth anniversary of the first German vo­ yages to India that were promoted by the Bavarian banker and financier, Jakob Fugger.

Since the present exhibition is in the realm of images, many of which have been produced using German technology, it is relevant also to recall German contribution in another field related to images. The invention of lithography by the German actor and playwright, Alois Senefelder, enabled the widespread production of images that recorded scenes from every­ day Indian life starting from the early nineteenth century. Many of these images are considered priceless today and are living testimony to the sig­ nificance of German technology from a very early era.

This exhibition that brings together a diverse collection of posters, prima­ rily of Hindu gods and goddesses, but also of figures from other religions, beliefs and practices that are found in the vast religious landscape of India, is particularly interesting. It demonstrates not just the diversity and therefore the innate tolerance of Hindu religion in India, but also its deeply personalized link with the everyday life of the believer. This is es­ pecially so when one sees the various media through which the imagery is deployed, be it on calendars, posters, charts or other articles of daily use. Religion and culture are almost interchangeable terms in Hinduism and therefore this exhibition is also a pictorial record of some dominant themes and values in Hindu culture. I wish the noted Indologist, Eva-Maria Glasbrenner, who has painstakingly and over a long period of time put together this collection, all success with the exhibition.

Vikram Misri

Consul General of India Munich

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Einführung 120 Jahre Hochglanzgötter Die Welt des indischen Götterplakats Das indische Götterplakat und sein Einfluß auf den Westen Die erste Begegnung mit Indien ist immer auch eine erste Begegnung mit dessen leuchtenden Far­ ben. Die tropische Sonne schenkt der Überfülle sen­ sorischer Eindrücke eine unvergeßliche Intensität: herrlich gemusterte und glitzernd bestickte magen­ tapinke, wellensittichgelbe, himmelblaue Gewän­ der der indischen Frauen, aber auch Säcke dunkel­ rot getrockneter Chilis, kunterbunte Häufchen von Reispulverfarben oder kunstvoll getürmte Obstkegel von gestapelten Mangos, Zitrusfrüchten und Papa­ yas auf den quirligen Märkten. Es begegnen einem orangefarben gekleidete Asketen, trotz allen Staubes strahlend weiße Hemden und kunstvoll gebundene Dhautras, die Lendentücher der Männer, immer wieder prächtig gewundene Turbane und die rote Seidenkleidung eines Tempelpriesters. Das exoti­ sche Schauspiel präsentiert sich dem Auge auf dem Hintergrund der sandgelben Ebenen oder sattgrü­ nen Landschaft von Kokospalmen und Zuckerrohr­ feldern. Aber ganz gleich, ob man als Tourist eine Rundreise durch Rajasthan bucht, als Neohippie im

Framing-Geschäft in Indien: Hier läßt man Götterplakate rahmen (Mysore, Karnataka, 2010).

neuen Goa den alten Traum der Freiheit sucht, in den Weiten des Himälaya trekkt, alternative Gesund­ heit in Ayurveda-Kliniken Keralas probiert oder nur eine kurze Geschäftsreise in Indiens Silicon Valley macht, nach Bangalore, in die Hauptstadt Karnatakas - dem Auge des westlichen Besuchers werden sich die knallbunten Farben der allgegenwärtigen Götterbilder einprägen. Ob bewußt oder unbewußt, das unwiderstehliche Lächeln des Butterkrsna, die goldgebenden Hände der Lotoslaksmi und der selbst­ sichere Blick der tigerreitenden Göttin Durgä festi­ gen sich unhinterfragt zum Symbol des Hinduismus. Auch wenn man Name und Gestalt nicht auseinan­ derkennt, man kann nicht anders, als all die bunten Bilder geistig zu registrieren: die Aufkleber auf den Windschutzscheiben von Taxis und Rikschas, die blütengirlandenbehängten Fahrzeugaltäre in Bussen, größere Poster in Tempeln und Hausaltären, gerahm­ te Götter und Göttinnen in Geschäften, Restaurants und Büros, und natürlich die vielen Straßenverkäu­ fer, die die papierene Hochglanzpracht feilbieten. Die kräftigen Farbkombinationen der omnipräsenten Gottheiten mögen vom westlichen Reisenden im ersten Augenblick als kitschig aufgefaßt werden und ihre verwirrende Vielgestaltigkeit jeden Versuch der erfolgreichen Unterscheidung von Anfang unmög­ lich erscheinen lassen - aber eines ist sicher: Das bunte Plakat hinterläßt schon beim ersten Anblick

Jahreskalender mit hinduistischen Göttermotiven: Wer­ bung, die über Jahre wirkt, da alte Kalender als Altarbild weiterhin verwendet werden (Mysore, Karnataka, 2004).

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Ganesa tanzt auf einem Drehaschenbecher der Firma Kare (München 2006).

einen bleibenden Eindruck und gilt vielen als Es­ senz des Hinduismus, ja Indiens selbst. Es vereint in sich Farbkraft und Vielfalt des Landes, und zugleich auch das Paradoxon von exotischer Anziehungskraft und das distanzierende Mysterium der Unverständ­ lichkeit und vielleicht Unverstehbarkeit, kurz die Sehnsucht nach dem Fremden. Indien war und ist für Europa spätestens seit der Romantik das Land der Sehnsucht, auf das exotische Träume und Phan­ tasien projiziert werden1. Dabei haben diese litera­ risch (gelegentlich auch bildnerisch) festgehaltenen Projektionen oft mehr Aussagekraft über die Kultur des Autors als über das beschriebene Land, genauso wie das Bild des Westens in Indien oft mehr über seine indischen Betrachter verrät als über das wahre, das will sagen kulturell objektiver beschriebene Eu­ ropa oder Nordamerika. Nichtsdestoweniger bleibt es interessant, daß Indien überhaupt, seitdem es als Kultur in den Wahrnehmungshorizont des Westens gerückt ist, eine solche Anziehungskraft ausübt und wie es das tut. Während es, dem jeweiligen Zeitgeist gemäß, zunächst alles war, was die Frage nach dem Urzustand beantwortete - im Mittelpunkt standen

Die Göttin Gäyatri auf einem Ziehwagen der Firma james barz & barz (2010). Die Firma beschreibt die Göttin fälsch­ lich als Sarasvati (Firmenwebseite vom Januar 2012).

der Urgeist der Religion (Veda und Buddhismus), die Ursprache und die Urgrammatik (Sanskrit), die Urkultur (das Indogermanische), die Urethnie (die Äryas)2 - sind es seit rund einem halben Jahrhundert die Farben Indiens, die eine Alternative zum grau­ en Alltag des als maschinell abgestumpft und geist­ los industrialisiert empfundenen Westens erhoffen 2 Exemplarisch für den damaligen Zeitgeist kann der Aufsatz Streiflichter in die Urreligion der arischen Inder aus dem Jahr 1911 gelten, der mit folgenden Worten be­ ginnt: „Wenn wir den Spuren des ältesten Gottesbegriffes und des uranfänglichen Kultes der Inder nachgehen wol­ len, um uns ein möglichst getreues Bild von den primiti­ ven Religionsformen und überhaupt der religiösen Idee dieses uns verwandtschaftlich so nahe stehenden Volkes zu entwerfen, so dient uns als zuverlässiger Führer in das geheimnisvolle Dunkel des grauen Altertums die vedische Literatur, und innerhalb dieser religiösen Gesamt­ wissenschaft werden wir uns wieder in erster Linie an den Rigveda als ältesten Wegweiser zu halten haben.“ (S. 179) P. Häusler, Streiflichter in die Urreligion der arischen Inder, in: Anthropos Band 6 (1911), S. 179-207.

1 Eine Auswahl indienromantischer Texte bietet Veena Kade-Luthra (Hrsg.), Sehnsucht nach Indien. Ein Lese­ buch von Goethe bis Grass. Beck Verlag: München 19932 * (1991). Informationen zur von der Indienromantik inspi­ rierten Entwicklung der deutschen Indologie und viele Literaturhinweise sind zu finden in Friedrich Wilhelm, Zur Geschichte der Indologie in München, in: Eva Glas­ brenner und Robert Zydenbos (Hrsg.), Münchener Indo­ logische Zeitschrift (MIZ) Volume I - 2008/09, S. 152185.

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lassen. Die Hochglanzgötter haben schon längst erneut, wie wir sehen werden - ihren Weg in den Westen gefunden, und dies nicht nur durch emigrie­ rende Hindus. Abbildungen indischer Gottheiten waren die Begleiter neuer religiöser Bewegungen, die hauptsächlich Menschen westlicher Abstam­ mung ansprachen, sie wurden zusammen mit Pakkungen von Räucherstäbchen, auf die sie gedruckt waren, zu importierter Sehnsucht nach Freiheit und Spiritualität; heute kann man selbst die ausgefallen­ sten Gottheiten als cellophaniertes Plakat oder dop­ pelseitig bedruckten Windschutzscheibenaufkleber in digitalen Auktionshäusern wie Ebay bestellen (Artikelstandort Deutschland), wenn man sich nicht lieber Götter-T-Shirts oder mit dem Elephantengott Ganesa bedruckte Einkaufstaschen aus einem der vielen Wasserpfeifengeschäfte und ähnlichen In­ dienshops deutscher Großstädte holt. Wer europä­ ische Markenpreise für Kitsch mit Stil bezahlt, hat die Wahl zwischen einem Aschenbecher mit Laksmi oder tanzendem Ganesa (Kare Design 2006) oder einem Zieh wägeichen mit GäyatrT (James barz & barz 2010), oder einem Nachdruck der Glücksgöttin Laksmi von 1KEA (2003), allesamt ausschließlich für den westlichen Markt produziert. Man kauft hier nicht die unbekannte Gottheit zur rituellen Vereh­ rung, sondern ein Lebensgefühl. Was für den christlichen Missionar vergangener Jahrhunderte ein Greuel war3, gilt vielen Besuchern oder auch nur in der Phantasie Indien Bereisenden geradezu als Zentrum des Begehrens: Je wilder und fremder die Gottheit, desto faszinierender. Den er­ sten Preis in westlicher Phantasie wird wohl die schwarze, unzähmbare Göttin KälT verdienen. Weil sie dunkel und mysteriös ist, mit allen Normen bricht, mit weit herausgestreckter Zunge den Be­ trachter anlacht und statt dem Patriarchat verpflich­ tet zu sein, auf dem höchsten männlichen Gott, Siva,

wild herumtanzt, ist die große Göttin gegen Ende des 20. Jahrhunderts zum Liebling feministischer Denkerinnen promoviert. Die westliche Kalt ist heu­ te ein Forschungsgegenstand der zeitgenössischen Religionswissenschaft, und hat bis auf den Namen und einige oberflächliche Ähnlichkeiten kaum etwas mit ihrem indischen Original zu tun4. Das gilt auch für moderne westliche künstlerisch-bildnerische Darstellungen, deren wichtigster Fokus die Nackt­ heit der Göttin ist. Vielleicht nicht alle, aber viele dieser westlichen Dichter, Denker und Künstler ha­ ben sich ganz offensichtlich nicht tiefergehend mit dem Konzept beschäftigt, das die Göttin zu dem macht, was sie ist.

3 “Of all the different kinds of idolatry the worship of animals is certainly one of the lowest forms, and the one which most unmistakenly reveals the weakness of human nature [...]. As for the Hindus, they appear to be firmly convinced that as all living creatures are either useful or hurtful to man, it is better to worship them all, paying more or less attention in proportion to the advantages they offer or the fear which their qualities inspire. First on their list of sacred creatures are the monkey, the bull, the bird called garuda, and snakes.“ (Dubois 19995 S. 719f) Der französische katholische Missionar Abbe Jean-Antoine Dubois notierte seine Beobachtungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Südwestindien. Abbe JeanAntoine Dubois, Hindu Manners, Customs and Ceremo­ nies. Rupa & Co: New Delhi 1999s (1906) (Übersetzte und edierte Ausgabe von Henry K. Beauchamp).

Die schwarze Göttin Kali steht beschwingt auf Siva. Gerasterter Halbtondruck mit Firnis, ca. 1950er Jahre.

Vor 120 Jahren sind auf indischem Boden zum er­ sten Mal in großem Stil die mit der neuen Druck­ technologie aus Deutschland leicht vervielfältigba­ ren, dem Glanz eines Ölbildes nachempfundenen Chromolithographien mit den beliebtesten Gotthei4 Vgl. Rachel Fell McDermott, The Western Kali, in: John S. Hawley and Donna M. Wulff (Eds.), Devt. Goddesses of India. Motilal Banarsidass: Delhi 1998, S. 281313.

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ten Kopien Hausaltäre von Millionen Wohnungen und Geschäften schmücken, die durch immer neu­ ere Drucktechnologien optisch die Farbigkeit und Leuchtkraft gewinnen, die sie schon immer hätten haben sollen, die ihren uralten ikonographischen Vorschriften treu bleiben und doch unmerklich neue Konventionen eingegangen sind, eine für viele un­ bemerkte Verschmelzung altindischer Tradition mit derjenigen kunstgeschichtlichen des europäischen Heiligenbildes. Das Indien des ausgehenden 19. Jahrhunderts begrüßte deutsche Technologie und er­ oberte den europäischen Malstil ebenso wie christ­ liche Heiligenbildikonographie begeistert für sich. Rund hundert Jahre später beginnen wir langsam, Indien in diesem Medium wiederzuentdecken, mit der Scheu des vertrauten Unbekannten. Diese far­ benprächtigen Kinder einer westöstlichen kunsthi­ storischen Verschmelzung sind mehr als nur Kitsch einer unbegreiflichen fremden Kultur, die mit ihrem mythischem Reichtum die europäische Antike in den Schatten stellt. Die knallbunten Glitzergotthei­ ten Indiens sind ein paradiesischer Blütenzweig un­ serer eigenen Kulturgeschichte, die zeigt, daß Indien und Europa in ihrer beider Begegnung untrennbar miteinander verbunden sind und bleiben. Es ist an der Zeit, die faszinierenden Götterbilder nicht nur wahrzunehmen und mit westlichen Projektionen

Tempelwägen in Udupi, Karnataka (2010). Die kunstvoll geschnitzten Prozessionswägen sind mit Götterdrucken bestückt. ten des hinduistischen Pantheons entstanden. Ge­ malt und gestaltet wurde in Indien soweit wir die Geschichte der Kunst zurückverfolgen können; der direkte Vorläufer der beliebten Götterdrucke waren handgemalte Bilder von Gottheiten, die man in der Nähe von Tempeln kaufen konnte, und auf Glas ge­ malte Gottheiten (Hinterglasbilder). Der Geistliche J. E. Padfield von der Church Missionary Society schreibt in seinen Beobachtungen über Götterbilder im ausgehenden 19. Jahrhundert: „These pictures are gorgeous and grotesque native productions, being painted on glass that can be bought in almost every fairly large bazaar.“5 Der nicht-individuelle, kosten­ günstige Druck hat aber nicht nur in Europa und dem gesamten westlichen Abendland den Kunstmarkt und die Farbigkeit des Alltagslebens des einfachen Menschen grundlegend verändert. Die lithographi­ sche Revolution in Indien um die Jahrhundertwende des vergangenen Jahrhunderts hat eine neue Genera­ tion von Gottheiten hervorgebracht: Göttinnen und Götter, die plötzlich in hunderttausendfachen exak­

Devaräja-Markt in Mysore (2010): Einkaufstaschen, die mit Gottheiten bedruckt sind. Beliebt sind Ganesa, Tirupati Bäläji und Siva.

5 Zitiert nach Christophen Photos of the Gods. The Printed Image and Poiltical Struggle in India. Reaktion Books: London 2004, S. 17.

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die Welt der indischen Religionen folgen, deren für viele westliche Betrachter ungeahnte Vielzahl und Differenziertheit sich in den mannigfaltigen Darstel­ lungen spiegeln.

belegt zu konsumieren oder schnell zu verurteilen sondern zu verstehen und entschlüsseln zu lernen. Dieser Katalog kann ein erster Versuch sein, über einen Einblick in die Druckgeschichte des indischen religiösen Plakats hinaus einen Wegweiser zu geben, daß hinter den grellen Farbkombinationen, kitschi­ gen blauen Babys und identisch wirkenden androgynen Göttergestalten mit bizarren Tieren und Waffen eine hochinteressante mythische Welt steht, eine Welt, die ihrerseits, auf ihre eigene kulturspezifische Weise, auf tiefenpsychologische Wahrheiten und hochkomplexe philosophische Systeme verweist. Nach und nach lösen sich bei dieser kulturempathischen Reise die Farben in Bedeutung auf, die uner­ klärlichen Formen in Sinn, die Zweidimensionalität in Tiefendimension, die unaussprechlichen Namen in Geschichten und Zusammenhänge, und das all­ zuhäufige mißverständliche Prädikat „Hinduismus“ oder „indisch“ in eine reiche, differenzierte Vielfalt unterschiedlichster Religionen, Weltanschauungen, Traditionen und Subkulturen. Deren Verständnis hilft jedem von uns, den konkreten Menschen, de­ nen wir aus dem südasiatischen Kulturkreis begeg­ nen, mit neuem, tieferen Respekt und Verständnis entgegenzutreten, eine Kulturleistung, die sich das humanistische Europa auch für sich selbst wünscht. Im Folgenden soll daher zur Entschlüsselung die­ ses reichen Symbolsystems nach einer kurzen Be­ leuchtung der geschichtlichen Entwicklung des in­ dischen religiösen Götterplakats ein Streifzug durch

Eine kurze Geschichte des indischen religiösen Hochglanzplakats Das Götterplakat bezeichnet ganz allgemein ge­ sagt ein meist auf Papier gedrucktes Bild, das ein religiöses Motiv einer in diesem Falle in Indien beheimateten Religionsgemeinschaft zeigt. Dabei seien unter dem umgangssprachlichen Begriff Göt­ terplakat selbstverständlich Götter und Göttinnen gleichermaßen verstanden; ein geschlechtsneutrales Wort wie „Gottheitenplakat“ oder „Religionsplakat“ ist zu gekünstelt bzw. nichtssagend, sodaß ich weiter den üblichen Begriff verwenden will. Unter Religi­ on verstehe ich im Folgenden eine Weltanschauung, die ganz wörtlich ein mehr oder weniger kohären­ tes System ist, das als kulturelles Symbolgefüge die ganze vom Menschen sinnlich wahrnehmbare und darüberhinaus imaginierbare Welt möglichst umfas­ send auf bestimmte Weise anschaut, betrachtet, be­ schreibt und deutet, mit dem Ziel und Sinn, dem le­ benden Menschen letztgültige geistige Orientierung zu geben. Um den Begriff des Götterplakats deutlicher zu fas­ sen, gehe ich kurz auf die möglichen Materialien, die Herstellungstechniken, die Motivik und die Zielgruppe ein. Dabei zeigen sich vier Dimensionen des Götterplakats: die künstlerische, die sich mit der Kunstfrage und der Ikonographie beschäftigt; die

Einkaufstasche mit Ganesa (München 2008).

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Krsna tanzt auf dem Kopf des Schlangenkönigs Käliya, den er soeben unterworfen hat. Die Schlangenfrauen grüßen und bewundern den flötenspielenden Gott. Sehr frühe Chromolithographie aus dem Kolkata der 1890er Jahre, verziert mit Silberpulver für den Glitzereffekt.

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religiöse, die von der mythologischen-religionsphilosophischen Interpretation in der Innen- und Au­ ßenperspektive des dargestellten Inhalts handelt; die ökonomische, die das Spannungsfeld von Herstel­ lung und Erwerbbarkeit in einem sozio-religiösen Kontext sieht und die politische Dimension, die ei­ nerseits die verreligiösende Darstellung von Helden und Politikern, andererseits die Politisierung von Religion und schließlich auch den Kampf um Vor­ herrschaft im Wettbewerb konkurrierender Weltan­ schauungen untereinander zum Thema macht. Davon stellen die ersten beiden Perspektiven die nahelie­ genden und umfangreichsten Untersuchungsberei­ che dar, die beiden letzten nur Randbereiche. Im sozio-kulturellen Gefüge des indischen Subkontinents fließen all diese Dimensionen selbstverständlich in­ einander und dürfen nur aus akademischen Gründen der Veranschaulichung so getrennt gefaßt werden. Das Götterplakat ist ein im wissenschaftlichen Dis­ kurs, sei es der religionswissenschaftliche, sei der kunsthistorische, der ethnologische oder der indo­ logische, bislang kaum ernsthaft beobachtetes Phä­ nomen, das die komplexe sozio-religiöse Landschaft Indiens während des vergangenen Jahrhunderts wie kaum ein anderes Medium in gleichem Maße in sich konzentriert und in all seinen Regenbogendimen­ sionen auffächert. Die Farbigkeit meiner Metapher will dabei auf das aktuale Erscheinungsbild der indi­ schen Plakatwelt nicht weniger hinweisen als auf die Vielfältigkeit seiner kulturellen Aussage.

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